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KAPITEL ZWEI - Professorenehre
ОглавлениеSaufkumpane
Sander Marrado saß bei seinem Kollegen, Professor Doktor Nimor Thorsmid.
Er tippte mit dem Zeigefinger auf das Holopad an seinem Unterarm. Schon projizierte die Hololinse das Bild in den Raum.
"Ein Scargoyle S 990. Mein Traum." Versonnen betrachtete Sander das knallrote Hovercar, das auf einer Straße entlang eines Fjordes den Kurven folgte. Eine schlanke Blondine mit wehenden Haaren und nicht minder aufregenden Kurven saß neben einem gutaussehenden sportlichen Typ mit kurzen schwarzen Haaren und Dreitagebart.
"Der S 990. Perfektion, Beschleunigung, Spurtreue. Für alle, die Leidenschaft genießen."
"Nun kommt das Beste." Begeistert wies Sander Marrado mit dem Whiskyglas auf das Holo.
Das Hovercar driftete quer über die Straße, drehte sich in vier präzisen Schritten, während es weiterhin perfekt der kurvigen Strecke folgte, um anschließend wieder vorwärts in rasendem Tempo weiterzuschweben.
"Beeindruckend", gab Nimor zu und schob sich die Brille zurecht.
Das Werbe-Holo pries im Anschluss die technischen Finessen an: Sechs Auftriebsrotoren, acht schwenkbare kraftvolle Manövrier-Rotoren, je zwei an den Seiten und je zwei vorne und hinten zum sicheren Lenken und Bremsen.
Kurz zeigte das Holo ein Bewegtbild eines vierzehnjährigen Mädchens und einer hübschen rassigen Frau. Dunkelhaarig, oliver Teint.
"Hack dich gefälligs' nich' in mein Haus", beschwerte sich Nimor. "Das is' mein Bild. Außerdem fehlt Cortus, mein Fili... Fidi... Filius."
"Tut mir leid, dassie dich verlassen ham. Isn hübschess Mädchen", lallte Sander.
"Wer?" Schwerfällig setzte sich Nimor Thorsmid auf.
"Beide", grinste Sander.
"Wobei", er hob den Zeigefinger und stierte ihn an. Er versuchte ihn erfolglos zu fokussieren, damit er nur noch einen Finger sah, statt der zwei, die vor seinen Augen tanzten.
"Wobei", wiederholte er, "die eine ssu alt is', un' die annere viel ssu klein."
"Lassie Finger von meinen Mädels."
Nimor erhob sich, fiel auf Sander zu und hielt sich im letzten Moment am Vorhang fest, der zur Hälfte aus den vielen kleinen Halterungen an der Gardinenstange gerissen wurde.
Fragend richtete er den Blick dorthin, woher das reißende Geräusch erklang. "Auch keine Wertarbeit mehr."
"Ich würd sie schützen. Deine Tochter. Niemals tu ich ihr was. Ich schwörs, bei den Sieben."
"Du klings wieder nüchterner", meinte Nimor. "Nochn Whisky?"
"Nur, wenn du zahls", nickte Sander.
"Wir sin' doch nich' inner Bar, du Nase. Is' alles bessahlt."
Professor Doktor Nimor Thorsmid zog den Glasstopfen mit den Zähnen heraus und goss noch einmal ein. Die Hälfte tränkte den teuren Flokati aus den fernen Ländern jenseits Norgenons.
"Auf was solln wir anstossn?", fragte Nimor über den Rand seiner Brille hinweg.
"Hmm", brummte Sander, der Schwarm ganzer Legionen von Studentinnen war. Dessen war er sich nicht nur in angetrunkenem Zustand bewusst. Er war nur deshalb nicht von der Universität von Tylaris geflogen, weil er einer der zwei brillantesten Wissenschaftler der Bionetic von ganz Norgenon war. Die andere Hälfte des genialen Duos saß vor ihm und versuchte, den Glaskorken wieder in die Flasche zu bekommen. Nach etlichen Versuchen gab er auf und ließ ihn zu Boden plumpsen.
Sander rieb sich das stoppelige Kinn. "Ich weiß was: Wer von uns Olivias Tochter ins Bett kricht — Thor hab sie selig. Olivia mein' ich. Wir wolln dafür sorgen, das ssuminnest die kleine Feralov nochn bissi Spaß hat, bevor das arme Ding abtritt."
"Ich binnoch verhei... ratet", kam es unterbrochen von einem herzhaften Rülpser von Thorsmid, der mit einer Hand versuchte, dem Vorhang etwas Würde zurückzugeben, was ihm eindeutig misslang.
"Es is' fürn gutn Sweck", warf Sander ein. "Du kanns' nich' ewich deiner Ollen nachhängen. Außerdem hassu nur Angs', dass ich gewinn. Der Sieger kricht ne Woche in der Luxusschwiet vom Primaton."
"Ssuit, heissdas, du Primat! Süß is' nur die Kleine vonner Feralov. Dassis eine Hotelschwie... ssui... 'n Ssimmer halt."
Nimor starrte in sein Glas. Nach einer Weile sah er auf.
"Du und gewinn'?", lachte Nimor, "dass ich nich' lache."
"Dann isses besiegelt. Darauf trink' ich."
Sander Marrado hob sein Whiskyglas, das zur Hälfte gefüllt war. Wenige kleine Eiswürfel schwammen darin.
Er leerte es ohne abzusetzen.
Nimor hob sein Glas. Seine Bewegung erfolgte zu schnell. Der Inhalt schwappte aus dem Glas und benetzte Haare und Gesicht.
Missmutig besah er sich das Glas, ließ es auf den Teppich fallen und setzte den Kristallglaskrug an die Lippen.
Nach einem kräftigen Zug nickte er. "Es sei."
Mit einem Seufzen ließ er sich auf die Couch fallen und schlief augenblicklich ein.
"Das Mädel is' so gut, wie mein", nuschelte Professor der Bionetic Sander Marrado. Dann versank auch er in nebelhafte Träume, aus denen er Stunden später mit einem Brummschädel erwachen sollte.
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Die Wette gilt
Nimor rieb sich die Augen.
Nach einer Weile traute er sich, den Kopf zu heben. Seine Wohnung sah aus, als hätte eine wilde Orgie stattgefunden. Offensichtlich ohne Frauen, denn nur Sander Marrado war zugegen. Er schnarchte und sabberte auf seinen teuren Sessel aus Büffelleder.
Der Kaffeeduft weckte Nimors Gegenüber. Dankend nahm sein Kollege und Freund die Tasse mit dem dampfenden Gebräu entgegen.
"Hast du Zucker?", brummte er mit rauer Stimme.
"Schon drin", gab Nimor zurück.
Sie stießen an, als würden sie Whiskygläser in der Hand halten.
Nimor schloss die Augen. Er genoss es, wie der dunkle Muntermacher heiß seine Kehle herabrann. Fast augenblicklich erwachten seine Lebensgeister.
"Was wir da gestern gewettet haben, vergessen wir aber wieder ganz schnell."
Sander verzog das Gesicht. "Mann ist der stark."
Er schüttelte den Kopf. "Eine Wette ist Ehrensache. Suff hin oder her."
Der fünf Jahre jüngere Freund Nimor Thorsmids grinste verschlagen. "Wir werden sie nicht sterben lassen, ohne ihr noch einmal alle Freuden des Daseins geboten zu haben. Von bewundernden Worten und Blicken bis hin zu einer rauschenden Nacht mit einem von uns: Sie soll noch einmal alle lebenswerten Facetten dieser Welt kosten."
"Ich weiß nicht", protestierte Nimor. "Sie ist Olivias Tochter. Ich will ihr Andenken nicht beschmutzen."
"Unter normalen Umständen würde ich dir recht geben", stimmte Sander Marrado zu. "Doch die Kleine wird sterben. Das wissen wir beide. Es ist so gut wie unmöglich, dass wir es gleich beim ersten Mal hinbekommen. Wir brauchen noch mindestens zwei Jahre, bis wir soweit sind. Die Synapsen werden sowas von instabil, wenn die Bots andocken."
"Ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich mit ihr..." Nimor sah über den Rand seiner Brille. "Ich meine, sie sitzt im Rollstuhl. Selbst wenn es dir gelingt, sie zu verführen, wird sie nichts spüren."
Sander setzte wieder dieses verschlagene Grinsen auf, das für ihn so typisch war. "Dann verlierst du eben. Eine Wette ist eine Wette: Wer sie zuerst verführt, hat gewonnen."
Sander sank gemütlich in den Ledersessel zurück. "Außerdem: Die Frau, die nichts fühlt, wenn sie neben - oder unter mir - liegt, muss erst noch geboren werden. Sie haben immer ihren Spaß."
"Und", fügte er an und wies mit dem von der Tasse abgespreizten Zeigefinger auf seinen Kollegen, "du wirst mir dann eine Nacht im Primaton schulden. Die Rundumsicht über die Stadt soll einmalig sein. Eigentlich wäre das ein schöner Ort für eine Nacht mit dieser Skeyra — wenn es nicht so verdammt teuer wäre, selbst für einen von uns."
"Wir sind ganz schön zynisch geworden, mein alter Freund." Nimor sah zu Boden.
"Wir lassen es mit uns machen. Wir arbeiten für die Regierung", Sander wies mit der Tasse in die Runde. "Und genießen einen hohen Lebensstandard. Wir sind Huren der Wissenschaft."
"Wir sollten das ändern", murmelte Nimor Thorsmid.
"Dann sind wir tot", stellte Sander nüchtern fest. "Die Regierung wird das nicht hinnehmen. Insbesondere Reichsverwalterin Angstorm."
"Collen Rievers, ihr Bluthund, ebenso wenig. Ich hasse das. Wir brauchen eine Alternative." Nimor betrachtete wehmütig den whiskygetränkten Flokati zu seinen Füßen.
"Wir sind die brillantesten Köpfe der Wissenschaft und finden keinen anderen Weg, als einer menschenverschleißenden Regierung zu dienen, die unsere Rechte mit Füßen tritt? Soll das alles sein?"
Sander sah auf. "Du hast ausnahmsweise Recht. Wir sollten uns was einfallen lassen."
"Der Widerstand?"
Sander nickte. "Das wäre ein Abenteuer nach meinem Geschmack."
Nimor seufzte. "Wäre zu schön, um wahr zu sein. Lass uns einfach die Ohren offen halten."
Sander erhob sich und schlug seinem Freund auf die Schulter. "Darauf könnte ich einen guten Schluck gebrauchen."
Nimor stöhnte. "Nächste Woche vielleicht. Man, ich habe einen Kater, der für ein ganzes Jahr reicht."
Sander grinste. "Du wirst eben alt."
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Die Vorladung
Professor Dr. Nimor Thorsmid sitzt vor mir: Ein Mittdreißger, volles dunkelblondes Haar. Er trägt es kurz. Seine eckige Brille lässt ihn intellektuell aussehen. Fehlt nur noch eine Pfeife. Doch Rauchen ist auf dem Universitätskomplex von Tylaris verboten.
Fast ehrfürchtig sieht er mich an. Er weiß es: Ich bin die Tochter der Frau, die seine Wissenschaftsdisziplin vorangetrieben hat.
Er sagt nichts dazu. Wir beide wissen auch so, wer ich bin.
"Du hast die Chance darauf, einen neuen Körper zu bekommen.", erklärt er mir. "Jung, sportlich, ein richtiges Leben."
Seine Stimme straft seine Worte lügen. Er wirkt nicht überzeugt. Aber er muss sie aussprechen. Neben ihm steht ein bewaffneter Posten vom Bürgerschutz. Er trägt eine Automatikwaffe. Sie bedeutet wohl eher Drohung als Schutz.
"Was ist das Risiko?", erkundige ich mich und schere mich nicht darum, dass er mich einfach so duzt. Mit 23 bin ich froh, wenn nicht jemand sie zu mir sagt. Selbst wenn es mein Henker ist.
Er weicht meinem Blick aus. Meine Augen sind das wenige wirklich Lebendige an mir. Ich sitze in einem Rollstuhl, den ich mit dem Mund steuere. Eine spezielle Apparatur an einem Stab, der kurz vor meinem Gesicht endet, macht es möglich.
Ich kann schlucken und muss nicht sabbern, wie ein Kleinkind. Zumindest nicht oft. Ich kann den Kopf ein wenig drehen. Und essen und trinken. Ist doch toll.
Wenn ich meinen Körper sehe, wenn jemand mich wäscht, schaue ich meist weg. Er ist entweder schwabbelig, gerade der Bauch, oder spargeldürr, wie die Beine und Arme.
Ich war immer dünn. Schlank. Als Bodenturnerin ist das Voraussetzung und auch das Ergebnis des intensiven Trainings.
Bei Thor — oder den Sieben, wie Mom immer sagte. Ich habe diesen Sport geliebt. Bodenturnen, Geräteturnen. Und später Parkour. Auch wenn meine Eltern das nicht gerne sahen.
Jetzt bin ich ein Wrack. Geistig, seelisch (wo ist da der Unterschied?) und körperlich erst recht.
Und eine Waise. Aber mit 23 bin ich ja kein Kind mehr. Meine Eltern sind tot. Weil sie bei mir im Auto saßen.
Klingt, wie der Traum eines jeden jungen Mädchens oder?
Der Alptraum wohl eher.
"Worin besteht das Risiko?", frage ich noch einmal.
"Der Tod", murmelt der Professor. "Dein Verstand könnte beim Transfer im Nirwana bleiben. Dein alter Körper, genauer gesagt das Gehirn, kann beim Übergang überlastet werden. Neurologische Schäden als Folge bedeuten ein sofortiges Versagen des Gehirns. Es könnte aber auch gutgehen."
"Habe ich eine Wahl?", frage ich.
"Nein", sagt Prof. Thorsmid tonlos. "Ich wünschte, wir beide hätten eine."
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Eine Chance
Ich brüte in dem sterilen Zimmer, in das ich gebracht werde, vor mich hin.
Die Tür geht auf. Prof. Thorsmid kommt herein.
"Ich habe den Wächter bestochen. Wir können ungestört reden.
Ich bin überrascht. Seine Worte klingen freundlich, er scheint es ehrlich zu meinen. Dennoch warnt mich meine innere Stimme, vorsichtig zu bleiben.
"Woran arbeiten sie?", will ich wissen.
"Ich züchte Körper. Aus DNS von lebenden oder toten Menschen kann ich einen Klon züchten. Er kann mit Maschinen am Leben gehalten werden, doch immer sind die Klone hirntot."
Thorsmid fährt sich mit der Hand durch das kurze dunkelblonde Haar. Seine eckige Brille ohne Rand nimmt er ab. Er wirkt ein wenig fahrig, als hätte er ein schlechtes Gewissen. Das macht ihn menschlich — anders, als die anderen Mitarbeiter des Ministeriums.
"Bei Mäusen hat es funktioniert. Wie es aussieht, können wir Bewusstsein von einer Maus auf die andere übertragen."
"Woher wissen sie das?"
"Weil die Maus nach dem Transfer keine Hirnaktivitäten mehr zeigt. Die andere hingegen auf einmal schon. Und manchmal bewegen sich die Mäuse sogar und laufen herum."
"Gibt es einen Weg zurück?"
Er schaut auf.
"Du steckt voller Fragen."
"Das ist gut", beeilt er sich zu sagen. "Ich wünschte, meine Studenten wären so wissbegierig."
"Manchmal schaffen sie es zurück", antwortet er auf meine Frage. "Mehr als einmal aber nicht. Bisher. Zumindest nicht bei Mäusen."
"Was passiert, wenn der Geist mehr als einmal zurückgebracht wird?"
Er zuckt die Schultern. Es ist ihm nicht egal. Das sehe ich an seinen Augen. Damit kenne ich mich aus. Er will Zeit schinden. Mir einen Moment geben, um die Wahrheit zu verdauen, die gleich folgen wird.
"Der Kreislauf spielt verrückt, das Herz versagt. Epileptische Anfälle. Schaum vor dem Mund."
Ich nicke. "Das klingt nicht gut."
Wir unterhalten uns lange über bionetische Wissenschaft weiter; es wird spät. Er bittet mich, ihn zu duzen.
Ich tue ihm den Gefallen.
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Übernachtung
Prof. Thorsmid bietet mir an, bei mir im Zimmer zu übernachten. Er will mir Trost spenden.
Welche Absichten hat er wohl bei einer jungen Frau, die sich nicht wehren kann? Hat er mir deshalb das Du vorgeschlagen?
Ich glaube, ich tue ihm Unrecht. Doch ich kann nicht anders. So bin ich nunmal. Es ist ein Teil von mir, den ich nur schwer ändern kann — ich will es auch nicht.
Er hat ein Holokom. Eigentlich bin ich von aller Kommunikation isoliert. Die Regierung will nicht, dass ich mit der Außenwelt Kontakt aufnehme.
Ich wähle die Kombination meiner Tante an. Sie geht ran.
Ich versuchte sie zu beruhigen, obwohl ich hier gefangen bin. Tante Liv ist außer sich.
"Du musst ruhig bleiben, Tante", beruhige ich sie. "Sonst werdet ihr eingesperrt."
Für ihn wäre es vielleicht nicht verkehrt - meinen Onkel. Aber das sage ich ihr nicht.
"Also gut", antwortet Liv. "Du informierst uns, sobald sich was tut. Keinesfalls lasse ich zu, dass sie dich uns für Experimente wegnehmen."
Genau das ist passiert, Tante. Aber du kannst nichts für mich tun. Auch das sage ich nicht.
Im Hintergrund höre Ich meinen Onkel.
"Dann haben wir wenigstens wieder unsere Ruhe. Und ein Eheleben. Sie ist uns nur eine Last. Eine Behinderte obendrein."
"Das meint er nicht so", beschwichtigt Tante Liv."
Er meint es genau so.
"Sicher", sage ich und lege auf.
Nach kurzem Schweigen fragt Thorsmid mich, ob ich gut behandelt werde bei Onkel und Tante.
Ich sage es ihm. Es könnte schlimmer sein — aber nicht viel.
Dann klingelt sein Holo. Er entschuldigt sich und geht ran.
"Ja? Ja. Natürlich winde ich mich nicht heraus. Du hast was? Eine Simulation?"
Sein Gesicht wird rot. Ob vor Zorn oder Scham kann ich nicht sagen.
"Ja, ich werde sie einsetzen. Ich habe versprochen, alles zu tun, was ich kann. Ja. Ja, ich weiß, was die Suite im Primaton kostet. Zu viel." Ein Seitenblick. Redet er mit der Person am anderen Ende über mich? "Ja." Er wirkt genervt. "Natürlich. Du kannst sicher sein, ich bleibe an der Sache dran, wie vereinbart." Er legt auf.
"Entschuldige. Ein Kollege."
Um ihn von weiteren Fragen über meine Familie abzuhalten, frage ich ihn, warum er bei der Regierungssache mitmacht.
Er erzählt mir von seiner Frau Lilly, seiner Tochter Brendina, sie ist 14, und seinem 8-jährigen Sohn Cortus.
Seine Frau hat eines Tages gesagt, sie liebe ihn nicht mehr. Sie hat die beiden gemeinsamen Kinder mitgenommen und ist verschwunden. Er hat seine Familie seit einem Jahr nicht mehr gesehen. Tränen.
Er fährt fort. Die Regierung habe ein Bild der drei geschickt. Zumindest vermutet er, dass es die Regierung war. In der Nachricht stand, dass er Ergebnisse in der Bewusstseinsforschung, der Bionetic, erzielen soll. Dann würden alle ein sicheres Leben führen.
Ich generiere Worte mit dem Laserstift in meinem Mund auf der Tastatur, die auf dem Brett über meinen Schenkeln angezeigt wird; mit der monotonen Computerstimme, die ich so sehr hasse: "Ich würde Sie jetzt trösten, aber ich habe nur meinen Kopf. Den Rest kann ich nicht bewegen."
Das klingt anzüglich, wie es die Roboterstimme ausgibt. So hatte ich es nicht gemeint. Ich hoffe, er versteht es richtig.
Ich bitte ihn, mich von dem Rollstuhl auf das Bett zu legen. Und sich an mich zu lehnen. So hat es meine Mutter immer mit mir gemacht, wenn ich traurig war. Bis auf den Vorteil, dass sie nicht im Rollstuhl saß.
Tatsächlich tut er, was ich ihm anbiete. Keine Versuche, meine Lage auszunutzen. Nur ein sanftes Streicheln über meinen Kopf; dort, wo ich noch etwas spüren kann. Wieso kann er nicht mein Onkel sein? Bei Thorsmid fühle ich mich geborgen.
Ich bin zufrieden, dass ich jemanden gefunden habe, der es ehrlich meint. Nicht, dass es in den letzten vier Jahren jemand versucht hätte, bei mir zu landen. Im Gegenteil. Die Leute meiden mich, als hätte ich Krätze. Dabei bin ich einfach nur gelähmt.
Thorsmid wirkt friedlich, als ich in seinen Armen einschlafe. Im Halbschlaf spüre ich, wie er meine Stirn küsst.
"Du magst im Rollstuhl sitzen, Kleines. Aber wenn ich es irgendwie hinbekomme, werde ich dafür sorgen, dass du der schärfste Feger von ganz Norgenon wirst, so wahr ich Nimor Thorsmid heiße."
Ich träume von ihm. Ich trage ein sexy rotes Kleid und er sitzt mit mir in einem Café. Flirtet mit mir. Wir fahren zu ihm. Mehr weiß ich nicht von diesem Traum. Aber er hinterlässt ein gutes Gefühl. Warum, ist mir nicht ganz klar.
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Beobachtungsposten
Reichsverwalterin Moranna Angstorm wandte sich zufrieden von dem Überwachungsmonitor ab, der Thorsmid und die junge Frau zeigte.
"Gut gemacht, Rievers. Sie haben mich überzeugt. Die beiden werden kooperieren. Allein mit diesen Aufzeichnungen habe ich Thorsmid endgültig in der Hand."
Dann erhob sich die Reichsverwalterin. "Ich will über alles auf dem Laufenden gehalten werden."
"Jawohl, Ladri Angstorm."
Collen Rievers: ein willfähriger Untergebener. Manches Mal zu eifrig, obwohl er sich stets kühl gab — außer während ihrer sehr privaten Treffen. Über ihn würde sie sich später Gedanken machen, wenn sie ihr Ziel erreicht hatte: einen eigenen starken Körper.
Moranna Angstorm machte sich nichts vor. Das Mädchen würde sterben. Noch waren Marrado und Thorsmid nicht soweit. Doch der Tod einer unschuldigen jungen Frau — dazu noch der Tochter einer Frau, die beide verehrten — sollte sie anspornen.
Die Reichsverwalterin gestattete sich ein Lächeln, während sie im Fahrstuhl den Knopf für ihr privates Büro drückte. Vielleicht sollte sie doch zuerst diesen rothaarigen Jungen sterben lassen. Skeyra Feralov stellte ein weitaus besseres Druckmittel als Ansporn dar, als jeder andere junge Mensch. Außerdem schien sich etwas zwischen der jungen Feralov und Thorsmid zu entwickeln. Liebe: Welch eine Triebfeder für die Kreativität des Professors. Bereits einmal hatte sie ihn damit manipuliert.
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Im Bett beim Professor
Als ich aufwache, hat Professor Thorsmid einen Arm um mich gelegt. Mein Traum fällt mir ein. Ich schrecke auf. Zumindest mein Kopf bewegt sich. Der Rest nicht, wie immer.
Was mache ich hier?
Dann fällt es mir wieder ein. Ich habe ihn getröstet.
Was will er auch von einem behinderten Mädchen? Und er ist alt: 35. Nicht das, was ich wollte, wenn ich gesund wäre. Dann würde ich mir einen knackigen Turner suchen. Oder einen anderen gut trainierten Sportler.
Ich tue ja geradewegs so, als hätte ich vor dem Unfall viel Erfahrung mit Kerlen gesammelt. Ich muss mir eingestehen, dass ich so sehr mit meiner Karriere im Sport beschäftigt war, dass für Jungs kaum Zeit übrig blieb.
Mein erstes Mal hat nie stattgefunden. Lisa, meine Freundin von damals, meinte, ich würde eines Tages als Jungfrau sterben. Sie hat sich - wie viele andere nach dem Unfall - von mir abgewandt.
Wie es aussieht, wird sie recht behalten. Es sei denn, diese Profs haben mehr drauf, als nur die Regierung beeindrucken zu wollen. Sollte ich nicht bei ihren mehr als fragwürdigen Experimenten sterben, sondern tatsächlich einen neuen Körper bekommen, gibt es vielleicht noch Hoffnung für mich und mein Liebesleben — eine äußerst schwache Hoffnung.
Was hatte Thorsmid gestern geflüstert? Ich würde der schärfste Feger des Landes werden?
Der Kerl hat mir weisgemacht, seine Frau zu vermissen. Wie soll ich seine Bemerkung deuten?
Thorsmid kümmert sich um mich. Er verfrachtet mich wieder in den Rollstuhl. Bietet mir Hilfe an, die ich annehme. Wie könnte ich auch anders?
Er putzt mir die Zähne, kämmt mein Haar.
Schließlich leert er den Beutel an meinem Blasenkatheter. Das ist mir besonders peinlich.
Er macht keine große Sache daraus. Er scheint sich damit auszukennen.
Thorsmid fährt mich mit seinem Hovercar ins Büro; begleitet von Einheiten des Bürgerschutzes, die vor und hinter uns fahren, versteht sich. Ich bin jetzt Staatseigentum.
Thorsmid lässt die Posten nicht mit herein. Er setzt sich durch. Sie bleiben murrend an der Tür zurück.
Er macht ein einfaches Frühstück aus Toast und Spiegeleiern. Wer hätte gedacht, dass die Forschungseinrichtung über eine gut ausgestattete Küche verfügt?
Ich bekomme ein Spezial-Interface. Eine Art aus Elektroden geflochtenes Stirnband.
"Ich starte jetzt eine Computersimulation", höre ich Nimor Thorsmid sagen.
Ich fühle ich mich, wie in einem richtigen Körper. Als könnte ich wieder laufen.Ich lache. Schlage Purzelbäume und Saltos.
Thorsmid erscheint in der Simulation. Ein französisches Restaurant. Er fordert mich zum Tanzen auf. Ich zögere. Er bittet mich und fällt auf ein Knie. Was habe ich zu verlieren? Ein Tango wird aufgespielt. Von einer kleinen Kapelle virtueller Musiker."Ich kann keinen Tango tanzen", maule ich."Aber ich", gibt Thorsmid zurück. "Lass dich einfach von der Musik tragen. Ich führe dich. Dann wirst du sehen, dass du eine fantastische Tänzerin bist."Dann tanzen wir. Hüfte an Hüfte. Seine Hand — ich spüre sie auf meinem Rücken. Wie ist das möglich? Mein Kleid ist dort so tief ausgeschnitten, dass seine Finger auf meiner bloßen virtuellen Haut liegen. Ich habe eine Rose im Mund, ein rotes Kleid, das bis zur Hüfte an der Seite geschlitzt ist; er trägt einen Smoking.
Ich fühle mich lebendig. Während wir tanzen, habe ich die ganze Zeit den Duft der Rose in der Nase. Er wirkt betörend.Es ist das erste Mal seit dem Unfall, dass ich Spaß habe.
Ich lege eine Einlage hin mit Flic Flac, Salto und Schraube. Parkour an der Wand laufend. Mein Kopf weiß noch, wie es sich anfühlte, als ich nicht gelähmt war.Ich stoße einen spitzen Freudenschrei aus. Virtuelle Zuschauer, die fast aussehen, als wären sie echt, applaudieren.
Thorsmid umarmt mich stürmisch. Hält mich am Ende des letzten Takts fest, wie ein Liebhaber. So, wie es der Tanz vorsieht.Ich lache und werfe den Kopf in den Nacken. Die Rose fällt zu Boden.Es endet mit einem Kuss auf den Mund, den Thorsmid mir verpasst. Ich öffne die Lippen und verliere mich.Der Typ ist definitiv hinter mir her. Und was mache ich? Werfe mich ihm an den Hals, wie das nächstbeste Flittchen. Wie Lisa, meine ehemalige Freundin. Sie ließ nichts und niemanden aus. Auch vor Mädchen machte sie nicht halt. Auch mich hatte sie versucht, ins Bett zu kriegen — vor dem Unfall.
Verwirrt finde ich mich im Rollstuhl wieder.
Thorsmid senkt beschämt den Kopf. Es tue ihm leid, murmelt er. Er entschuldigt sich wortreich.
Er hat die Simulation abgebrochen. Er habe meine Freude ausgenutzt, sagt er.
Ich will nach Hause. Ich bin durcheinander. Zählt ein Kuss in der VR - der Virtuellen Realität - genauso viel wie ein echter? Macht mich das zu einer Schlampe? Oder traue ich mich einfach nicht, die Liebe eines anderen anzunehmen, wie es Dr. Mikles, meine Psychologin, so oft behauptet?
Er fährt mich zu meiner Tante zurück. Wieder unter Bewachung.
Posten werden vor dem Haus von Tante Liv zurückgelassen, als sich Thorsmid von mir verabschiedet.
Ich erzähle Liv nichts von dem Tango und dem Kuss.
Onkel Hakon schon garnicht.
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Einladung an den Fjord
Ich habe am nächsten Tag einen Termin, diesmal bei Professor Sander Marrado, dem Bionetic-Experten.
Die Posten nehmen mich mit. Tante Liv bleibt fassungslos zurück. Onkel Hakon ist wieder einmal froh, mich loszuwerden. Seit der Sache im Bad scheint er erleichtert zu sein, wenn ich gehe. Er wird doch nicht etwa ein schlechtes Gewissen entwickeln?
Ein Flug mit dem Hoverjet bringt mich in einem halbstündigen Flug nach Westen bis an die Küste. Wir landen in Horsund, einem Dorf am Fjord. Der Jet geht direkt vor dem Anwesen von Professor Sander Marrado runter, nachdem die Rotoren in die Waagerechte rotiert sind.
Marrado empfängt mich in seinem Wochenendhaus. Ich bin beeindruckt. So viel Aufwand für mich.
Prof. Bion. Sander Marrado, ist 29. Das habe ich irgendwo gelesen. Vielleicht ist er auch schon 30. Er begrüßt mich. Er trägt lange blonde Haare, zum Pferdeschwanz gebunden. Sein Haar weist einen leicht rötlichen Einschlag auf, wie Feuer. Er ist ein ungemein gut aussehender Typ. Selbst für mich, die ich gute sechs oder sieben Jahre jünger bin. Das macht keinen Unterschied. Er würde mich sowieso nicht wollen. Ich bin ein Versuchskaninchen. Eine Unberührbare im Rollstuhl; mehr nicht. Auch wenn ihm sein Ruf als Verführer vorauseilt, der selbst bei den eigenen Studentinnen nicht halt macht; eines will er garantiert nicht: Eine Romanze mit mir. Und ich nicht mit ihm.
Wieso denke ich überhaupt darüber nach? Ich glaube, die Simulation bei Professor Thorsmid hat mich durcheinandergebracht. Hat er mir irgendwelche Drogen verabreicht?
Ich bin nicht ich selbst - so viel ist klar.
Ich fahre mit meinem Rollstuhl in sein Haus. Die Wachen postieren sich am Eingang.
Er ist freundlich. Marrado begrüßt mich als Tochter der Frau, die er immer bewundert hat. Einer Mutter, die Dinge getan hat, an denen er und Thorsmid immer noch verzweifeln.
Also hat Thorsmid ihm bereits über unsere Gespräche berichtet. Diskretion — Fehlanzeige.
Marrado findet es schade, dass ausgerechnet ich für die Forschung herhalten soll.
Offen erzählt er von sich. Er ist Single. Fährt gern schnelle Autos. Besitzt einen Scorpid - das schnellste Hovercar.
Als er mir anbietet, mich auf eine Spritztour mitzunehmen, erzähle ich von meinem Unfall. Es ist wie eine Obsession. Ich muss die Leute vor den Kopf stoßen. Mitleid erregen.
Es ist ihm peinlich. Er entschuldigt sich für seine Gedankenlosigkeit. Er kennt die Geschichte aus den Nachrichten. Er hat alles darüber verfolgt, sagt er.
Zum ersten Mal erfahre ich, dass das ganze Land daran Anteil nahm, weil meine Mom eine berühmte Persönlichkeit war. Jeder wusste, woran sie forschte. Manche hassten sie, andere dachten, sie könnte die Menschen vom Joch der Regierung befreien. Sie sei eine tolle Frau gewesen, sagt er. Ich könne stolz sein.
Ich weine.
Tröstend nimmt er meinen Kopf zwischen seine großen Hände, als wollte er mich küssen. Lange blickt er mich an und gibt mir schließlich einen Kuss auf die Stirn.
"Verzeih mir, Skeyra", sagt er mit belegter Stimme. "Manchmal bin ich ein echter Hohlkopf."
Ich blinzle meine Tränen weg und bringe ein kleines Lächeln zustande. "Ich dachte, sie wären Professor."
Er grinst schelmisch. "Du hast wirklich viel von deiner Mutter. Sie war wunderschön."
Sein Spezialgebiet ist — neben der Programmierung von Nanobots — der Gefühlsaustausch über Distanzen. Ein unerklärliches Phänomen, das mit Pheromonen, vielleicht auch mit Quantenmechanik erklärbar ist. Die Forschung steht immer noch am Anfang. Praktische Forschung gibt es - wie ich von ihm erfahre - nur durch Marrado, der erste Durchbrüche erzielt hat, und Thorsmid. Die beiden arbeiten eng zusammen. Ob sie auch auf dieselben Frauen stehen? Ob sie sich über das, was Thorsmid getan hat, die Simulation, der Kuss... Die Simulation!
Darüber haben sie telefoniert. Hier läuft doch eine abgekartete Nummer.
Na wartet, ich werde euch schon drankriegen.
In Marrados Haus ist es angenehm. Helle Wände, Holos von anderen Gegenden. Auf einem ist nur Sand zu sehen, soweit das Auge reicht. Dünen aus Sand, eine weite Ebene und klarer blauer Himmel. Ein anderes Holo zeigt einen Eisberg im Meer. Kein Wind geht. Das Wasser ist tiefblau und ruhig. Ich mache eine Bewegung auf dem Eisberg aus. Es ist ein Eisbär, der dahintrottet.
Noch ein Holo mit viel Sand. Ein dreieckiges Gebilde nimmt einen großen Teil der Szene ein. Eine Pyramide. Ich habe davon gehört. Sie soll Ceon zu ehren gewidmet sein, hat Mom immer gesagt. Heute sei das in Vergessenheit geraten. Früher hieß sie die Ceonspyramide.
"Faszinierend, nicht wahr? Ich besitze eine ganze Reihe solcher Holos."
Er hat zu jedem Holo eine Geschichte parat. Ich höre ihm fasziniert zu. Schon bald vergesse ich meine Rachepläne.
Der Ausblick auf das Meer und die langen Ausläufer des Fjords faszinieren mich. Die Eindrücke und die Persönlichkeit Marrados ziehen mich in ihren Bann.
Wenig später sitzt der Professor mit mir draußen auf der Terrasse. Die Sonne steht hoch über dem Horizont.
In der Ferne bläst ein Buckelwal. Eine ganze Schule wird sichtbar.
Ich fühle mich lebendiger. Es ist schön hier.
Marrado möchte mir ein Interface anlegen. Es ist genau so eins, wie im Ministerium, während der Simulation. So eins, wie Thorsmid verwendet hat. Ein Stirnband mit Elektroden.
Ich zögere.
Er erklärt es mir: Die Buckelwale sind eine spezielle Züchtung. Mit dem Interface kann ich spüren, wie sich die Tiere fühlen. Mehr nicht.
Ich setze es auf.
Ich fühle Wasser. Vertrauen. Eine Gruppe, die sich mag. Zwei der Wale balzen. Ich konzentriere mich und spüre die Gefühle des Weibchens.
Der Bulle nähert sich. Reibt sich an mir. Na klar. Die beiden haben sich da was tolles für mich ausgedacht.
Ich nehme die Gefühle der Kuh wahr. Augenblicklich verraucht meine Wut. Ich fühle, was sie fühlt. Sie weiß, dass sie empfängnisbereit ist. Ich bin es — ich bin die Walkuh. Ich habe das Gefühl, als wäre mein Körper wieder heil. Lust breitet sich in meinem Unterleib aus; eine Empfindung, die ich seit vier Jahren nicht mehr gespürt habe.Wie aus weiter Ferne höre ich etwas protestieren. Ich sollte mich diesem Gefühl nicht hingeben. Ich werde manipuliert. Dann ist der Protest aus meinem Kopf verschwunden.
Es ist faszinierend. Durch das Interface fühle ich die Liebe der Walkuh und auch, wie die Berührungen des Bullen mich erregen.Gleich beginnt der praktische Teil des Liebesspiels. Ich weiß es, woher auch immer.
Ich spüre, wie mir das Blut in den Kopf schießt. Solch ein Gefühl hatte ich nie, seit meinem Unfall...
Dann spüre ich meinen eigenen Körper. Hände, Arme, Beine. Einen Körper, der sich an meinen schmiegt. Lippen auf meinen. Samtig. Eine Zunge fordert mich auf, den Kuss zu erwidern. Ich öffne meinen Mund und verliere mich. Ich will mehr, doch außer meinem Kopf gibt es nichts, dass ich spüren kann.
Ich öffne die Augen. Marrado sitzt mir gegenüber, ein Elektrodenband auf der Stirn.
Er grinst mich an.
Verlegen senke ich den Kopf. Ich kann nichts sagen, weil ich erst umständlich meinen Stift mit dem Mund aus der Halterung meines Rollstuhls fischen muss.
Ich bitte Marrado, mir das Interface abzunehmen. Es ist ein bisschen viel. Es prickelt noch. Will ich mehr?
Ich beiße mir auf die Unterlippe.
Er lächelt geheimnisvoll. "Ich kann dir helfen, Dinge zu erleben, die du dir nie mehr erträumt hättest."
Er will wissen, was ich genau gespürt habe.
Ich erzähle es ihm in Grundzügen. Gebe auf sein Nachfragen geniert und errötend zu, dass es seltsam prickelnd war.
Obwohl ich das Gefühl des Kusses nicht erwähne, weiß ich, dass er genau im Bilde ist. Spielt er mit mir?
"Wieso haben sie mich geküsst", will ich wissen.
"Weil es das einzig Richtige in der Situation war." Er grinst. "Du bist eine willensstarke Frau. Du weißt, was du willst." Seine Zähne blitzen auf, als sein Grinsen breiter wird. "Du hast den Kuss erwidert."
Verärgert runzle ich die Stirn. Ich fixiere ihn und schmolle. Am liebsten würde ich jetzt demonstrativ die Arme verschränken und diesem selbstverliebten Arsch die kalte Schulter zeigen.
Er lächelt. "Es gibt Hoffnung für dich, Skeyra Feralov."
Als ich ihn fragen will, wie er das meint, nimmt er den Stift aus meinem Mund und klickt ihn wieder in seine Halterung. Er tritt hinter meinen Rollstuhl.
"Ich möchte dir noch etwas zeigen. Dies war nur ein Anfang."
Ich kann mich nicht dagegen wehren, dass er den Antrieb des Rollstuhls deaktiviert und den Rollstuhl schiebt.
Er bringt mich in einen anderen Raum. Marrado experimentiert mit Katzen. Genauer gesagt mit Raubkatzen.
Er züchtet sie so, dass sie sowohl reitbar sind, als auch eine Bindung mit einem Menschen eingehen, erklärt er mir. Dazu muss der Mensch eine Kapsel schlucken, die Material aus der Hirnanhangdrüse der Katze enthält. Nanobots schaffen mit Verfahren aus der Bionetic eine mentale Verbindung, indem sie an bestimmte Rezeptoren im Hirn sowie an den endokrinen Drüsen andocken.
"Die Verbindung kann sowohl emotional als auch kognitiv wirken", erklärt er, als er den Antrieb meines Rollstuhls wieder einschaltet, damit ich mich selbstständig im Raum bewegen kann.
"Man könnte sagen, es handelt sich um echte Telepathie als auch Telempathie. "
"Telem-was?"
Marrado lacht. Ein sympathisches Lachen. Vielleicht sollte ich doch auf ihn stehen. Warum tue ich es dann nicht? Trotz seines anmaßenden Verhaltens, stelle ich fest, dass ich ihn mag. Wie schafft er das nur, dass er damit durchkommt?
"Empathie ist die Empfindung von Gefühlen eines anderen. Das Wort Tele steht für eine Übertragung über Distanzen. Darum heißt es Telempathie."
Ich nicke. Wieder etwas gelernt. Auch das fühlt sich gut an. Lernen. Wieso hatte ich mich in den letzten Jahren so zurückgezogen?
Ich kenne die Antwort: Weil ich weder einen Thorsmid noch einen Marrado zu meinem Bekanntenkreis zähle.
Marrado erklärt mir den Stand seiner Forschungen. Er verschweigt, dass die Experimente verboten sind. Aber ich weiß es.
Er zeigt mir im Garten im Innenhof seine Raubkatze, einen Geparden. Ein schneller Läufer.
Ich bin fasziniert. Es funktioniert. Die Katze und Marrado bilden eine Einheit. Er bittet den Geparden die Pfote zu heben, wie er mir erklärt. Kurz darauf tut die Raubkatze genau das.
"Ich muss zugeben, ich bin beeindruckt, Professor Marrado."
Ich lache. Schon wieder. Es tut gut.
"Sander", bittet er. "Bitte nenn mich Sander. Alle meine Freunde nennen mich so."
Seine Freunde. Ich bin gerührt, obwohl ich nicht will. Er hat etwas Einnehmendes. Man will ihm das Herz zu Füßen legen. Ich muss auf mich aufpassen. Es kommt völlig natürlich von ihm. Ohne Berechnung — glaube ich zumindest.
Er hat eine weitere Katze geschaffen. Einen Leoparden. Ein Weibchen. Er erklärt, dass die Tiere klettern, ja sogar eine ganze Giraffe einen Baum hochschaffen können, um die Beute nicht an andere Tiere zu verlieren — Hyänen zum Beispiel. Doch diese Tiere kenne ich - wie alle - nur aus alten Holos über andere Länder. Viele der Tierarten gibt es inzwischen nicht mehr, sagt die Regierung. Sagt die Schule.
In einem Käfig schlummert das Kätzchen, kaum ein paar Tage alt. Es ist kaum größer, als meine beiden Hände zusammen. Geschaffen aus einer genveränderten Retorte nach dem Vorbild einer echten Leopardin.
Ich bin sowas von fasziniert. Ich bin hin und weg.
Sander überredet mich, eine Kapsel zu schlucken. Ich soll auf diese Weise eine Verbindung zu dem Kätzchen bekommen.
"Ist es ungefährlich?"
Sander lacht.
"Das Kätzchen?"
Ich verdrehe die Augen.
"Leben", doziert er, "heißt, Risiken einzugehen. Wenn du lieber ein langweiliges Dasein willst, leg die Kapsel lieber weg. Wenn du vom Leben geküsst werden willst, dann schluck!"
Ich will nicht weiterhin langweilig sein. Kein langweiliges armseliges Leben. Er hat mich angesteckt, mit seiner überschäumenden Energie. Ich kann es spüren. Er redet von dem Kuss. Ich kann es ihm nicht übel nehmen, jetzt, da mein Leben mit großer Sicherheit bald endet.
Sander hält die Kapsel vor meine Lippen. Ich öffne sie. Er kommt nicht näher. Ich recke den Hals, um heranzukommen.
Er zieht sie ein Stück zurück.
Ich betätige mit dem Mund den Rollstuhl. Er macht einen Satz nach Vorn. Rammt Sanders Schienbeine.
Meine Lippen schließen sich um seine Finger.
Ich beiße sanft darauf.
Die Kapsel verschwindet ganz in meinem Mund.
"Wow", entfährt es ihm. "Du bist wild. Das gefällt mir."
Er ist so natürlich. Keine Distanz zu einer Behinderten. Ich glaube, er beginnt, mir zu gefallen.
Ich schlucke die Kapsel herunter.
Erst als ich in seinen Armen aus einer Ohnmacht erwache, erklärt mir Marrado, welche Vorzüge die Verbindung hat. Noch ist die Raubkatze ein Kätzchen, das ich an einem Halsband überall mit hinnehmen könnte.
Ich muss sie aufziehen. Erleben, wie sie heranwächst. Es wird eine Bindung, wie sie kein anderer Mensch außer ihm zu einem anderen Wesen hat. Zumindest, wenn er die Wahrheit sagt. Warum sollte er lügen?
Mein Leben ist so viel voller geworden. Wenn ich nicht aufpasse, verliebe ich mich in ihn.
Ich schaue ihm in die Augen. Er beugt sich zu mir herab. Ich öffne die Lippen und lasse mich küssen. Diesmal wirklich, ohne Interface.
Nachdem Sander mich wieder in den Rollstuhl verfrachtet, aus dem ich in seine Arme gefallen bin, spüre ich tatsächlich das Kätzchen. Seine Emotionen. Ich merke, dass ich mit dem Katzenbaby kommunizieren kann, sodass keine Gefahr für sie oder andere in ihrer Nähe besteht.
Sander ist so natürlich im Umgang mit mir. Liegt ihm etwas an mir, spielt er mit mir? Oder gibt er mir einfach etwas, das ich nie hatte, um sein Gewissen zu beruhigen?
Mittlerweile bin ich an einen Punkt gelangt, an dem es mir gleich ist. Ich nehme mit, was ich kriegen kann. Bald gibt es mich nicht mehr.