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KAPITEL FÜNF - Kritische Zustände
ОглавлениеSkey
Das Lagerfeuer prasselt. Es geht mir besser, ich kann sogar ohne Schmerzen mit den anderen zusammensitzen.
Gegen die Kälte habe ich eine Decke um mich geschlungen.
"Skeyra", sagt Sander. "Ich freue mich so für dich. Du kannst bald wieder alles machen, was du willst. Hovercar fahren, Luftgefechte führen...", er grinst.
"Turnen, Shoppen, dein Leben genießen", fällt Sandrine ein. "Aber nicht mit diesen Versagern.", sie zeigt auf Sander und Nimor.
Du hast was Besseres verdient, Skeyra", lacht Sandrine.
Ich gebe Sander eine Backpfeife.
Überrascht hält er sich die Wange. "Heij, was soll das?"
Ich grinse. "Ich habe es dir vor dem Transfer versprochen, für deine dummen Bemerkungen."
Sander reibt sich sie schmerzende Stelle. "Also gut, Skeyra. Dieses Mal kommst du davon, ohne dass ich dich übers Knie lege." Er hebt den Zeigefinger. "Dieses eine Mal."
"Skey", verbessere ich ihn. "Meine Eltern haben mich immer Skey genannt."
Es scheint mir nur richtig, dass ich endlich wieder Freunde habe. Echte Freunde, auf die ich mich verlassen kann. Sie haben mir das Leben gerettet.
"Nun denn, Skey", Sandrine breitet die Arme aus. "Willkommen beim Widerstand."
"Willkommen", murmeln auch Sander und Nimor.
Wir sitzen noch lange am Feuer zusammen. Die Temperaturen fallen. Der Winter beginnt bald; der elfte Monat des Jahres ist fast um.
Benga, Sanders Gepardin, liegt unter einer Decke. Jurina liegt warm und geborgen bei ihr.
"Ich wusste, das mit Skeyra wird klappen", wendet sich Sander an Sandrine. "Du hast heute eine Chance, um die dich viele Frauen beneiden. Du kannst den Abend mit dem ersten Menschen verbringen, dem es gelungen ist, den Geist eines Menschen in einen anderen Körper zu transferieren."
Sander will ihr einen Kuss auf die Wange geben.
Sandrine weicht ihm aus, so dass seine Lippen ins Leere küssen.
"Wenn du wüsstest", sagt sie wieder. Ich werde nicht schlau daraus.
"Sander, lass sie in Ruhe. Wenn du scharf auf junge Frauen bist, züchte dir eine", rufe ich ihm zu, als ich mich erhebe. Ich muss mal für kleine Mädchen. Ich verziehe das Gesicht. Ein scharfer Schmerz schießt durch die Wunde.
Als ich zurück bin, beginnt Sander, mir zu erklären, dass er sich doch bereits eine Frau gezüchtet hat und sieht mich auffordernd an.
Plötzlich weicht sein einnehmendes Lächeln einem Ausdruck fassungsloser Bestürzung.
Mir wird schwindlig. Ich drücke eine Hand auf meinen Bauch. Blut. Viel Blut. Die Wunde — ich hatte sie beinahe vergessen.
Alles wird schwarz.
#
Stava
Ich erwache. Hohe Häuser, Hovercars, Menschen. Wir sind in Stava.
Alle sind erleichtert, als ich die Augen öffne.
"Ich habe ihnen gesagt, dass du nicht aufgibst", flüstert mir Sandrine zu. Eine verräterische Träne wischt sie schnell mit dem Handrücken weg.
"Ich kenne hier jemanden, einen Kontakt, bei dem wir erst einmal Unterschlupf finden. Es ist ein Freund einer alten Freundin. Er ist meist unterwegs; Geschäfte machen.
Der Gepard ist weg. Dafür balancieren Nimor und Sander meine Trage auf ihren Schultern.
Als wir im Haus des besagten Freundes ein großzügiges Apartment beziehen, kümmert sich Nimor sofort um mich. Die Wunde blutet wieder. Nimor und Sander bauen improvisierte Apparaturen auf.
"Das Prinzip ist wichtig", erklärt Nimor.
"Genau", stimmt Sander zu. Seine Stimme dringt vom Balkon durch die vollständig geöffnete gläserne Schiebetür.
"Es funktioniert über dieses kleine Kästchen."
Er kommt zu uns herein und hält einen Apparat hoch. Wir erfahren von ihm, dass es sich um einen Prototyp handelt, der einfachere Körpertransfers ermöglichen soll. Denn einen Transfer brauche ich, damit ich nicht sterbe.
Die inneren Blutungen werden mich sonst töten.
Wir können nicht in ein Krankenhaus, denn nach mir und den anderen wird bereits gefahndet.
Nimor kommt zu mir. "Ich hoffe, du verzeihst mir den Kuss", murmelt er zerknirscht. "Ich bin zu weit gegangen, als ich dich in der Simulation geküsst habe."
Ich öffne die Arme. "Komm her", fordere ich ihn auf.
Er beugt sich vorsichtig zu mir herunter. Ich nehme ihn in den Arm und drücke ihn fest. Spüre seine Muskeln unter meinen Fingern. Alles was ich spüre drängt so intensiv in mein Bewusstsein, dass es eine Freude ist. Immer noch. Einen Körper zu besitzen, den man ganz natürlich bewegen, durch dessen Nerven man so viel fühlen kann: Berührung, Kälte, Wärme, Luftzug, Stoff auf der Haut...
"Nein. Ich muss dir danken", gebe ich ihm zu verstehen.
Verwirrt sieht er mich an.
"Du hast mir von deiner Scheidung und deinen Kindern erzählt. Du hast gesehen, wie schlimm mein Körper deformiert war. Wie behindert ich war. Du hast den Beutel geleert..."
Wir schweigen einen Moment.
"Ich habe tatsächlich überlegt, ob du nicht meine letzte Chance bist. Und dann dachte ich, es wäre unfair dir gegenüber."
Nimor sieht mich an. "Nein. Ich wäre für dich da gewesen. Du bist besonders. Du bist einfühlsam. Da ist noch mehr. Etwas, das meiner Frau am Ende fehlte."
Ich sehe ihm in die Augen. Gebe ihm einen Kuss auf die Wange und löse mich von ihm.
"Danke. Vielleicht solltest du sie noch nicht abschreiben. Wenn sie dich gewählt hat, und mit dir zusammenleben wollte, kann sie keine schlechte Frau sein, oder?"
Ich sehe ihm tief in die Augen. "Ich schulde dir so viel."
Ich hauche ihm einen Kuss auf die Wange.
"Es tut mir leid, dass ich deine Gefühle nicht erwidern kann."
Er sieht mich an. "Du gibst mir schon so viel, Skey. Sie wird sich anstrengen müssen. Die Messlatte liegt jetzt sehr weit oben."
Ich drücke seine Hand — wortlos. Vielleicht hat er zum Schluss tatsächlich von seiner Frau gesprochen.
Es scheint, dass ich mit jeder Meile, die wir zurückgelegt haben, nicht nur die Distanz zu meinem alten Körper angewachsen ist, sondern auch zu meinem Zynismus und meinem Hass auf die Welt.
Sander gesellt sich zu uns.
"Wessen Latte liegt wo?"
Wir lachen alle drei. Sander ist ein unverbesserlicher Macho.
Heij, Skey", fragt er spitzbübisch. "Du hast doch nichts dagegen, wenn ich deinen Körper... Also, wenn du einen neuen bekommen solltest, wenn ich den hier..."
"Untersteh dich!", funkele ich ihn an.
"... verbrenne, um die Spuren zu verwischen."
Sander lacht herzhaft. "Keine Sorge." Er zwinkert. "Ich will nur einen Körper, in dem ein Geist wohnt."
Mir wird heiß. Ich bin feuerrot. Sein Kompliment ist mir unangenehm, auch wenn ich ihn mag. Als Kumpel und Mitstreiter.
Als ich am Fjord bei ihm zu Besuch war, war ich nicht ich selbst. Ich könnte mich nie in einen Typ wie ihn verlieben.
Sandrine kehrt gerade von einem kurzen Erkundungsausflug zurück. "Lass sie in Ruhe. Du bist nicht ihr Typ. Sie ist kein Freiwild, dem ihr nach Belieben nachstellen könnt."
Wieder erröte ich heftig. Eine Chamäleonforelle ist ein Amateur gegen mich.
"Im Gegensatz zu wem? Zu dir?" Sander sieht Sandrine auf eindeutige Weise an, sodass sie mit den Augen rollt.
"Nicht. Im. Traum."
Ich lache. "Danke. Du bist meine Erlösung."
Sandrine lächelt.
Schmerz. Heftiger Schmerz. Ich krümme mich, halte mir den Bauch und hebe eine Hand. Sie ist blutverschmiert.
Sandrines Lächeln verzieht sich zu einer Leidgequälten Miene. Das ist das Letzte, das ich sehe.
"Shit", höre ich Nimor fluchen, ehe die Dunkelheit mich endgültig umschlingt. "Wir müssen uns beeilen."
#
Ein neuer Körper
Ich schlage die Augen auf. Mann, geht es mir gut.
Ich frage Sander, ob er mir einen Kuss geben kann. Er duftet so gut.
"Aber klar." Er beugt sich zu mir herunter.
Sandrine stößt ihn unsanft beiseite.
"Sie steht unter Morphium. Lass sie in Ruhe."
"Das ist noch lange kein Grund, ihr eine freundliche Behandlung zu verwehren", beschwert sich Sander.
"Freundliche Behandlung." Sandrine ist aufgebracht. Wieso nur? "Ich geb dir gleich eine freundliche Behandlung."
"Ist das ein Versprechen?" Sanders Zähne blitzen.
Sandrines Augen verengen sich. "Wir haben jetzt keine Zeit für sowas."
Sander nickt. "Stimmt, dafür sollten wir uns mehr Zeit nehmen."
Ich grinse wie ein betrunkenes Eichhörnchen. "Man, zwischen Euch geht es ziemlich ab. Ihr solltet euch mal miteinander abreagieren."
"Mein Reden", lacht Sander.
Sandrine presst die Lippen zusammen.
"Bist du soweit, Nimor?"
Sandrine knickt mir die Ohrmuschel ab. Will sie, dass ich nicht lausche? Lächerlich.
Ich will den Kopf drehen, doch es geht nicht. Ein Bohrgeräusch folgt. Es dröhnt in meinem Kopf. Nur kurz. Dann sehe ich Nimors Gesicht. Er macht sich auf der anderen Seite meines Schädels zu schaffen. Sandrine nimmt das andere Ohr. Dann dröhnt es noch einmal.
Sie wollen mich wieder transferieren. Ein neuer Körper. Woher haben sie so schnell einen aufgetrieben?
"Habt ihr jemanden für mich umgebracht?", frage ich.
Ich werde - weiterhin festgeschnallt - in eine halb sitzende Position aufgerichtet. Das Bett auf dem ich liege, ist per Elektromotor verstellbar.
Ich sehe einen Mann. Jung, kräftig, gutaussehend. Blonde, halblange Haare, Bartstoppeln.
"Ein ertrunkener Fischer", erklärt Sander. "Die Reanimation hat gewirkt, aber sein Gehirn zeigt seit Tagen keine Aktivität mehr. Sie haben die Herz-Lungen-Maschine abgeschaltet. Er wäre bereits tot, wenn wir ihn nicht wieder angeschlossen hätten."
"Ich soll ein Mann werden?" Heiterkeit breitet sich in mir aus, wie Gänseblümchen auf einer Frühlingswiese. Man bin ich zugedröhnt.
Schmetterlinge lassen sich auf der Wiese nieder und kitzeln mich.
"Es war nichts anderes im Hospital."
"Wenn das mal gut geht", grinse ich, als wäre ich frisch verliebt. "Ich könnte ja mal mit dir ins Bett, Sandrine. Das wäre sicher eine spannende Nummer, Süße."
Sandrine errötet. Wie ungewöhnlich.
"Heij, lache ich. Ich könnte es dir mit so einem mächtigen Ding so richtig bes..."
"Ist ja gut", beruhigt Sander mich. "Es geht los. Du musst ganz still sein."
Sandrine wirft ihm einen dankbaren Blick zu.
Sander zuckt mit den Schultern. "Morphium halt", grinst er.
"Du stehst völlig neben dir, Liebes." Sie streicht mir über die Stirn. "Ich bin immer für dich da, aber ganz sicher nicht auf diese Weise."
Erst jetzt nehme ich wahr, dass ich den Raum, in dem wir uns befinden, noch nicht kenne. Mein Körper liegt auf einem Bett in einem Holzschuppen. Das Äußere trügt. Abgesehen von den Holzwänden ist alles andere technisch vom Feinsten. Steril. Fast klinisch.
Der männliche, eher drahtige, Körper ist festgeschnallt, an seinem Kopf, mit dem flachsblonden Haar sind Elektroden zur Hirnstrommessung angebracht, Ein Pulsgurt spannt sich über seine Brust. Sie ist nicht übermäßig breit, lässt aber erkennen, dass dieser Körper trainiert wurde. Vielleicht ist die Fischerei kein so übler Beruf.
Mit diesem Körper könnte ich ganze Schwärme von Frauen glücklich machen. Alle würden sie auf mich stehen.
Aber eigentlich will ich doch Männer. Dann muss ich das Ufer wechseln, wie man so schön sagt. Ob ich das will?
Vielleicht werde ich auch einfach Fischer und lasse alle Sorgen hinter mir. Niemand weiß dann, wer ich bin. Endlich finde ich Frieden, ohne zu sterben. Eine gute Aussicht.
Sandrine betrachtet mich. Ihr Gesicht scheint besorgt. "Hast du Angst um mich?", frage ich.
"Wenn du wüsstest", sagt sie nur mit feuchten Augen. Sie küsst mein Haar und meine Stirn, die eigentlich nicht mehr meine ist, sondern die von Sirani Berlyn, der Pilotin.
Auch die Profs sind angespannt. Ich kann ihren Schweiß riechen. Sie arbeiten schnell und akkurat, auch wenn sie sich Sprüche an den Kopf werfen.
"Wir haben sehr wahrscheinlich nur einen Versuch", gibt mir Professor Nimor Thorsmid mit ernstem Gesichtsausdruck zu verstehen.
Alle schweigen.
"Es geht los." Sanders Tonfall ist nüchtern, als er einen Knopf drückt.
Ich fühle mich seltsam. Surreal. Ich fliege über eine Wiese. Ich bin ein Schmetterling. Über mir ist ein Staubsauger. Ich spüre den Sog, flattere. Doch es gibt kein Entkommen. Ich werde in den schwarzen Luftstrom eingesogen und herumgewirbelt. Schwärze. Ich verliere mich.
#
Bange Minuten
Nimor hasste diesen Moment am meisten. Es war das erste Mal, dass er unmittelbar bei einem Transfer anwesend war, wie ihm Sander immer wieder unter die Nase gerieben hatte.
Er konnte nichts tun. Er musste abwarten und hoffen, dass die Bots, die Sander neu programmiert hatte, ihr Werk taten.
Sie bekamen ihre Informationen von denen, die in Skeyras Körper aktiv waren.
"Achtung", rief Sander. Skeyra bäumte sich auf. Die Muskeln an Armen und Beinen begannen zu krampfen.
Nimor spritzte eine Mischung aus Kalium und Magnesium mit Muskelrelaxanzien, darunter Acetylsalicylsäure und Chinin. Skeyra steuerte unweigerlich auf einen Kreislaufkollaps zu.
"Kammerflimmern", rief Sandrine.
Nimor warf einen schnellen Blick auf das EKG. Sandrine hatte recht. Die Frau war wirklich umfassend ausgebildet.
Der Empfängerkörper begann zu zucken. Er war 24, wie auf dem Totenschein am Zeh zu lesen war. Sein Puls lag bei 150. Viel zu hoch. Das EEG, Das Gerät, das die Hirnaktivität überwachte, zeigte viel zu schwache Ausschläge an.
Nimor fluchte. "Adrenalin, volle Dosis!"
"Für wen?" schrie Sandrine, die aufgezogene Spritze in der Hand.
"Für beide. Erst Skeyra."
Nimor blieb sachlich, obgleich er innerlich aufgewühlt war.
"Zum Glück ist uns das beim ersten Mal nicht passiert." Sander wirkte angespannt, wie selten zuvor.
Die Spritze zeigte kaum Wirkung.
"Noch eine Dosis", forderte Nimor. "Schnell!"
Sandrines Finger zitterten immer stärker.
Nimor nahm ihr die Spritze aus der Hand und zog den Rest auf. Eine genaue Bestimmung der Menge war jetzt zweitrangig. Skeyras Lebensuhr lief ab.
Thorsmid rammte ihr die Spritze ins Herz und drückte den Inhalt gewaltsam hinein.
Sandrine zog unterdessen eine zweite Spritze auf und verabreichte sie dem Jungen. Sie schien sich wieder im Griff zu haben.
"Abbruch!", schrie Sander. Sein blonder Zopf flog hin und her, als der jüngere Kollege Nimors hektisch die Werte der Instrumente ablas.
Nimor Thorsmid erstarrte, als das EKG statt der Herztöne nur noch ein Piepen von sich gab und eine gerade Linie zeigte.
Sandrine schrie, ihr Gesicht war vor Verzweiflung verzerrt.
"Nein! Skey!"
"Kein Abbruch", rief Nimor. Er schlug Sanders Hand weg, die bereits über dem roten Knopf schwebte.
"Ihr Körper ist tot. Herzstillstand, Hirnkurve bei null."
Sander nickte. "Was jetzt, Nimor?" Er kaute an ein paar seiner rotblonden Haarsträhnen. Seine Finger zitterten.
Sandrine knabberte an ihren Nägeln. "Nein. Bitte lass es klappen. Lass sie leben."
Sie betete laut zu den sieben Urdrachen. Nimor hatte keine Ahnung, ob sie existierten. Aber wenn Skeyra dies hier überlebte, würde er konvertieren. Die Chancen standen denkbar schlecht.
"Lieber sterbe ich", rief Sandrine. "Nehmt mich. Skey hatte nie eine Wahl. Ich bin an allem schuld."
Die Linien von Hinrstrom und Puls beider Körper fielen fast zeitgleich auf null. Auch der Junge Fischer war oder — wenn man so wollte — blieb tot.
"Kein Herzschlag, keine Hirnaktivität", konstatierte Sander Marrado. Nimors Freund. Sie würden sich brauchen, um diesen Rückschlag zu verarbeiten. Die Niederlage war vollständig: technisch, menschlich, persönlich.
"Es tut mir leid.", sagte er mit rauer Stimme. "Wir haben sie beide verloren."
Tränen benetzten Sanders Gesicht. Sandrine brach weinend zusammen, von Krämpfen geschüttelt.
Nimor stand einfach da. Sein Körper fühlte sich taub an. Sein Lebenswerk hatte Skeyra getötet — das Mädchen, das ihm seinen Lebensmut zurückgegeben hatte. Sie hatte ihn dazu gebracht, wieder nach seiner Frau zu suchen. Sie hatte einen erfolgreichen Transfer hinter sich. Seine Forschung war nicht vergebens. Und nun weigerte sie sich, den zweiten Transfer ebenso erfolgreich zu vollziehen.
Nein, gestand er sich ein. Es lag nicht an ihr. Es war seine Schuld. Seine Vermessenheit.
Das langgezogene Piepen der Geräte brannte sich in sein Hirn.
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Hoffnung
Wie lange hatte er auf dem Hocker verbracht, den Kopf gesenkt, die Hände vor den Augen, die Flüsse von Tränen produzierten, wie selten zuvor?
Sander wusste weder ein noch aus.
Zuerst nahm er es in seiner Trauer nicht wahr. Doch dann rief Nimor: "Hirnaktivität beim Empfänger."
Sanders Kopf ruckte hoch. Jetzt sah er es auch. Das EEG zeigte wieder Spitzen; nach vier Minuten Flatline. Flatline, die Bezeichnung für die gerade Linie des Hirntods.
"Unmöglich!", rief er aus, denn das war es: absolut unmöglich. Nach vier Minuten kam niemand zurück. Nicht nach einem Hirntod.
Sander sah aus den Augenwinkeln, wie auch Sandrine den Kopf hob, das Gesicht nass vor Tränen. Die Augen gerötet. Viele goldene Strähnen hatten sich aus dem geflochtenen Zopf gelöst, der ihr fast bis zur Hüfte reichte.
Ihre gesamte Erscheinung mutete an, wie ein gebrochener Racheengel.
Hoffnung keimte in ihrem Gesicht auf — zaghaft, als traue sie sich nicht, zu viel zu wagen. Eine erneute Enttäuschung wäre vernichtend.
Sander fragte sich, was sie so stark mit Skeyra verband.
Gleichzeitig mit ihr wandte er den Kopf, um auf das EKG zu starren. Das Piepen verschwand. Herztöne.
20 Schläge in der Minute.
40.
60.
80.
85.
"Stabil bei 85 Schlägen", rief Nimor. "Ich glaube, wir haben sie. Skeyra lebt."
Sandrine sprang auf. Sie lachte und weinte gleichzeitig. Umarmte Sander.
Überrascht erwiderte er die Umarmung und barg ihren Kopf an seiner Brust.
"Es wird alles gut", flüsterte er. "Sie wird leben."
Viel zu früh löste sich Sandrine aus seinen Armen. Sie roch gut. Er hätte sie gern länger getröstet. Ohne Hintergedanken, was zugegeben selten bei ihm war. Er mochte die Frauen einfach zu sehr, als dass er ihnen keine Freude bereiten würde. Und die größte Freude entfaltete sich nun mal im Bett. Oder Heu. Oder wo immer sich Gelegenheit fand.
Die Spionin des Widerstands strich Skeyra über die Haare — flachsblonde Männerhaare.
"Du wirst leben", hauchte sie. "Skeyra, bitte. Wach auf."
Die Lider zuckten. Der Körper, der den Transfer empfangen hatte, bäumte sich zitternd auf. Dann erschlaffte er.
Stille.
Thorsmid zog die Elektroden aus dem Schädel. Er verschloss die Wunden mit Synthohautspray.
Eine Achterbahnfahrt der Hirnaktivität setzte ein.
Besorgt blickte Sander auf den Monitor. Hier war er der Experte.
Sandrine und Nimor blickten zu ihm.
Die Augenlider flatterten, der Monitor beruhigte sich.
Sander nickte Sandrine zu. Alles in Ordnung.
Die Widerständlerin nahm den Kopf des neuen Körpers in ihre Hände. "Skey, bist du da? Bitte antworte doch, Kleine!"
Die Augen des Männerkörpers öffneten sich. "Wo zur Hölle bin ich?"
Erleichtertes Lachen. Nimor, Sandrine und Sander fielen sich in die Arme.
Sandrine küsste Sander auf die Wange.
"Skey. Du hast uns wirklich für einen Moment erschreckt." Nimor lächelte, als er Skeyras neuen Körper von den Riemen befreite, mit der ihr Kopf und ihre Gliedmaßen auf das Bett geschnallt waren.
Männeraugen blickten Nimor verständnislos an.
"Ich bin Laric, Laric Svensson."
"Der Wal", rief er aus. "Er muss mich zurückgebracht haben."
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Ein verwirrter Fischer
Laric war erleichtert. Er hatte überlebt. Seine Eltern hätten einen weiteren Verlust nicht gut verwunden.
Wieso war er nicht im Krankenhaus? Oder zu Hause?
Wo zum Teufel war er?
"Hast du das Gefühl, fremde Gedanken zu haben?"
Eine braunhaarige Schönheit redete auf ihn ein. Ihre Haare trug sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Freche Strähnen fielen ihr in die Stirn, als sie sich zu ihm herunterbeugte.
Sie mochte ein paar Jahre älter sein, als er.
Was meinte sie? Was wollte sie?
"Wie meinst du das?" Laric fühlte sich seltsam. Nach dem Sturm, dem Sog im kalten Wasser, der ihn immer tiefer zog — er hatte nicht erwartet, die Augen noch einmal aufzuschlagen. Schon garnicht im Vollbesitz seiner Kräfte - mehr oder weniger.
"Spürst du ein fremdes Bewusstsein? Noch eines?", drang die schlanke Frau weiter auf ihn ein.
Ihre Lederjacke verlieh ihr ein raues Äußeres, als wäre mit ihr nicht gut Kirschen essen. Diese Frau war kein Zuckerpüppchen.
"Ich fürchte ich verstehe nicht", gab Laric zurück.
"Meine Tochter ist da drin." Die Frau tippte mit ihrem Zeigefinger an seine Stirn.
Sie sank in sich zusammen. "Zumindest sollte sie es sein."
Laric überlegte. Diese Frau war Mitte Zwanzig. Ihre Tochter, selbst wenn sie mit 18 entbunden hätte, konnte allenfalls 6-8 Jahre alt sein.
"Ihr habt ein Kind in meinen Körper..." Er unterbrach sich.
"Mit diesem Bionetic-Scheiß?"
"Moment, Freundchen." Ein blonder Kerl, um die Dreißig, mit Dreitagebart und langen Haaren, fuhr in die Höhe.
Laric schüttelte den Kopf. "Nein, hier drin ist niemand außer mir. Ich wünschte, ich hätte deine Tochter... Moment." Laric hielt inne.
Hoffnungsvoll sah die Frau ihn an.
Laric riss die Augen auf. "Sie sind Professor Thorsmid und Professor Marrado... O mein Gott."
Laric sprang auf, stieß die Frau zurück, so dass sie gegen die beiden Professoren fiel, und rannte zur Tür. Er riss sie auf.
Etwas piekte in seinen Rücken.
Er lief in die Nacht. Es regnete. Er trat mit dem linken Fuß in eine Schlammpfütze. Laric registrierte es kaum.
Schon nach kurzer Zeit, während er durch die Gassen der Oberstadt rannte, spürte er, wie seine Beine weich wurden, als hätte er zu viel Stavafeuer getrunken.
Er sackte zusammen. Eisiges Wasser tränkte seine Hosenbeine. Grabeskälte schlich sich in seine Knochen.
Kurz darauf hoben Sandrine und Nimor ihn hoch und luden seinen Körper auf Nimors Schulter.
"Es ist nur ein Betäubungsmittel" hörte Laric, bevor sich ein weiteres Mal die Schwärze über ihn senkte. Diesmal füllten sich seine Lungen jedoch nicht mit eiskaltem Wasser.
#
Verschleppt
Laric hob den Kopf. Er saß auf einem Stuhl. Gefesselt.
Sander Marrado saß ihm gegenüber. Daneben die brünette Mittzwanzigerin, die sie Sandrine nannten. Sie war attraktiv, durchaus.
Thorsmid hielt ein Betäubungsgewehr in der Hand.
"Nur zur Sicherheit." der Professor lächelte grimmig.
"Ist sie jetzt bei dir?", erkundigte sich Sandrine. Sie suchte ihre Tochter. Daran erinnerte er sich.
"Nein. Leider." Laric senkte den Blick. Ein kleines Mädchen in seinem Geist — das hätte ihm noch gefehlt. Dennoch: Er wünschte, das Mädchen würde da sein. Irgendwie fühlte er sich schuldig, weil sie es nicht war.
"Dann ist sie tot." Nimor Thorsmids Stimme klang endgültig. "Es tut mir leid, Sandrine."
"Nein." Die schlanke Schönheit rutschte zu Boden. Sandrine. Sie wirkte innerlich zerstört — kein Wunder.
"Nein", hauchte sie ein weiteres Mal. "Meine kleine Skeyra."
"Wie alt war sie?", wollte Laric wissen.
"23. Sie war 23." Sandrines Stimme klang kraftlos.
Laric schüttelte den Kopf. In diesem Fall müsste die Frau mindestens Anfang 40 sein. Das ließ sich mit ihrem Aussehen nicht vereinbaren. Vielleicht war sie geistesgestört.
Sander sah finster drein. Er packte Sandrine bei den Schultern.
"Ich glaube, du hast uns und der Welt so einiges verschwiegen. Wenn es stimmt, was ich glaube, ist Sandrine nicht dein wirklicher Name."
Laric horchte auf. Bahnte sich zwischen seinen Entführern ein Streit an? Vielleicht bot ihm das eine weitere Chance zur Flucht.
Nimor Thorsmid sah Sander Marrado ebenso überrascht an, wie Laric. "Wer zur Hölle ist sie deiner Meinung nach? Meinst du etwa, Olivia Feralov wäre allen Ernstes wiederauferstanden?"
Mit bedeutungsschwerer Stimme durchbrach Marrado schließlich die unheimliche Stille, die sich im Raum breit gemacht hatte.
"Wenn ich recht habe, ist sie die erste Frau Norgenons, die einen Bewusstseinstransfer zuwege gebracht hat. Vor Jahren. Vor dem Unfall, bei dem sie angeblich starb."
Sander zeigte auf Sandrine. "Du hast richtig vermutet, Nimor. Diese Frau ist niemand anderes als Skeyras Mutter: Doktor der Bionetic, Olivia Feralov."
Das haute selbst Laric aus den Socken. Jeder kannte sie aus den Nachrichten. Sie war bei einem Unfall gestorben, zusammen mit ihrem Ehemann. Nur die Tochter hatte überlebt. Sie war ungefähr im selben Alter, wie er selbst.
Entweder waren die Frau und beide Profs vollständig unzurechnungsfähig oder Laric war Zeuge äußerst seltsamer Vorfälle.
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Seltsame Entführer
Laric beobachtete, wie Thorsmid ungläubig zu Sandrine - oder Olivia - sah.
"Ist das wahr?", flüsterte der Professor mit rauer Stimme.
Mit einer Miene voller Bitterkeit sah die Frau zu ihnen auf. "Es ist wahr. Meinetwegen ist Sandrine gestorben, meine Leibwächterin. Und nun habe ich auch Skeyra verloren. Es war alles umsonst."
Laric war es plötzlich egal, was die drei für Händel untereinander hatten. Er wollte hier raus. Lebend.
"Was wird nun mit mir?", schrie er. "Tötet ihr mich etwa auch?"
Olivia oder Sandrine oder wie auch immer sie heißen mochte, erhob sich. Sie zog ein Messer aus ihrem Gürtel. Sie sah wild und bedrohlich aus. Mit einer langsamen Bewegung senkte sie ihre Klinge in Richtung seines Halses.
Laric schloss die Augen und bereitete sich auf den Einstich vor. Die Frau war ganz offensichtlich vom Wahnsinn befallen.
Als er die Augen wieder öffnete, da der erwartete Stich ausblieb, erblickte er ihr Gesicht dicht vor seinem.
"Wir haben dich nicht wiederbelebt, um dich jetzt wieder zu töten. Wir sind keine Schwerverbrecher", raunte sie, während sie ihm die Fesseln, durchschnitt.
"Ach, warum habt ihr dann meinen Körper aus dem Krankenhaus entführt?", fragte Laric bitter. Er hatte wieder zu seinem Mut zurückgefunden — außerdem war er nun in der Lage, zu entkommen.
"Die Ärzte hatten dich aufgegeben." Nimor schaltete sich ein. "Deine Familie war gerade dabei, sich von dir zu verabschieden. Deine Mutter und dein Vater." Seine Stimme klang müde.
Nimor sah Laric geradewegs in die Augen. "Du warst hirntot. Nachdem deine Eltern gegangen sind, haben sie die Herz-Lungen-Maschine abgestellt."
Laric erstarrte. Er sollte aufgegeben werden?
"Ihr lügt doch alle!", schrie er. "Niemals würden meine Eltern mich aufgeben!"
"Ich habe dich wieder angeschlossen", entgegnete Nimor sanft — so sanft, dass Laric wusste, dass der Mann die Wahrheit sagte. "Ich selbst habe die Maschine in Betrieb genommen und dein Bett zum Ausgang gebracht.", fuhr Nimor fort. "Sander hat den Wagen gefahren. Wir haben ihn anschließend wieder am Krankenhaus abgestellt, allerdings haben wir einige Geräte abgeschraubt. Wir bringen sie zurück, wenn du willst."
Er seufzte. "Es war sicher nicht das Edelste, was ich im Leben tat, aber ich glaubte, wir hätten keine andere Wahl."
Laric schnaubte. Wie sollte er damit umgehen? "Ich weiß jetzt von euch. Was nun?"
Sandrine/Olivia zuckte mit den Achseln. "Das liegt bei dir", hauchte sie. "Wir haben nicht das Recht, dich festzuhalten. Du kannst gehen."
Laric ließ sich das nicht zweimal sagen. Er schlüpfte zur Tür hinaus.
Eine Erkenntnis drängte sich in sein Bewusstsein, während er die Straßen Stavas entlang rannte. Er traf eine Entscheidung. Sie würde Folgen haben. Wenn er nur wüsste, welcher Art.
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Am Ende
Olivia ließ sich auf dem Boden nieder. Sie stieß die Luft in einem großen Seufzer aus.
"Was jetzt?" Fragte Sander.
Nimor zog ratlos die Schultern hoch.
Olivia saß apathisch da. Sie wollte einfach warten, bis sie gefunden und eingesperrt wurde. Sie wollte nicht weitermachen. Wofür auch? Sie hatte alles verloren. Es gab für sie keinen Grund mehr, sich anzustrengen, um weiterzuleben. Ein Leben ohne Skeyra war nicht denkbar. Sie war alles, wofür sie gekämpft hatte. Fast alles. Was sollte sie Feris sagen?
So saßen die drei lange schweigend beieinander.
Nur Thorsmid lachte einmal leise in sich hinein.
"Olivia Feralov. So dicht vor unserer Nase. Plötzlich erzielen wir einen Durchbruch nach dem anderen."
Er schüttelte den Kopf. "Wie konnte ich nur so blind sein. Wir hätten es nie allein geschafft, so weit zu kommen."