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V. Schule der Poesie
ОглавлениеBei Y. Bonnefoy heißt es einmal: „Die Poesie: das Gestrüpp entfernen von dem oder jenem Wort, zu dem man, zufällig, einen Zugang gefunden hat: wie man das Wasser erklingen hört unter dem Schutt und den hohen Kräutern, man kehrt dann zurück dorthin, und legt eine Quelle frei.“65 „Um das Empfinden des Lebens wiederherzustellen und die Dinge zu fühlen, um den Stein steinern zu machen, existiert das, was man Kunst nennt. Ziel der Kunst ist es, ein Empfinden des Gegenstandes zu vermitteln, als Sehen, und nicht als Wiedererkennen.“66 „Gott, Innen des Worts, Atem. Wer das Wort handhabt, ist Gott näher, hat also die Pflicht, das Wort zu achten, weil es den Atem trägt, anstatt ihn zu verbergen, ihn erstarren oder verlöschen zu lassen“67, hat Philippe Jaccottet geschrieben. Die Lektüre von Gedichten, das aufmerksame Lesen und Bedenken kann dazu führen, dass man sie auch öffentlich einmal verwendet, in der Liturgie oder Katechese. Ebenso wichtig aber ist, dass sie als eine Art Sensorium und Kriterium fungieren für den theologischen Umgang mit der Sprache.
Nehmen wir ein Gedicht der österreichischen Dichterin Friederike Mayröcker, die 1924 in Wien geboren wurde; es ist 1966 in dem Band „Tod durch Musen“68 erschienen.
WIRD WELKEN WIE GRAS
AUCH MEINE HAND UND DIE PUPILLE
wird welken wie Gras · mein Fusz und mein Haar mein stillstes Wort wird welken wie Gras · dein Mund dein Mund wird welken wie Gras · dein Schauen in mich wird welken wie Gras · meine Wange meine Wange und die kleine Blume die du dort weiszt wird welken wie Gras wird welken wie Gras · dein Mund dein purpurfarbener Mund wird welken wie Gras · aber die Nacht aber der Nebel aber die Fülle wird welken wie Gras wird welken wie Gras
„wird welken wie Gras“ – das ist biblischer Ton. Ps 90,5 f. heißt es von den Menschenkindern: „Sie sind wie das sprossende Gras: am Morgen erblüht es und sprosst, am Abend welkt es und verdorrt.“ Ps 103,15: „Des Menschen Tage sind wie das Gras, er blüht wie die Blume des Feldes; wenn der Wind darüber geht, so ist sie dahin.“ Und Jes 40,6 f. setzt der Prophet dem Aufruf zur Predigt den Einwurf entgegen: „Was soll ich rufen? Alles Fleisch ist ja Gras und all seine Pracht wie die Blume des Feldes. Das Gras verdorrt, und die Blume welkt, wenn der Hauch des Herrn darüber weht“. Er erhält die Antwort: „Ja, das Volk ist wie Gras, aber das Wort unseres Gottes bleibt in Ewigkeit“ (V 8).
Ich wollte nachsehen, wo diese Verse vorkommen in der Liturgie. Ich fand: als Lesung für den zweiten Adventssonntag im Lesejahr B war Jes 40,1 – 11 vorgesehen. Aber, gerade diese Verse 6 – 8, haarscharf diese Verse, hatten die liturgischen Redakteure aus dem Text herausgeschnitten. Vielleicht passten sie ihnen nicht in die gewünschte adventlich-tröstliche Haupttonart; vielleicht hatte ein beteiligter Exeget redaktionskritische Bedenken – wer weiß.
Den Vers, den die Liturgiebauleute verwarfen, gerade ihn, hat weit außerhalb des theologischen Feldes eine Frau aufgehoben und ihn zum Eckstein und Kehrvers eines Gedichts gemacht. Sie hat sich eingemischt in die biblische Überlieferung. Es ist kein Kommentar zur Stelle, keine gereimte Exegese. Dieser Vers, dieser Vers allein hat es ihr angetan. Sie schrieb mir, dass sie dieses Gedicht nach einer Aufführung von Johannes Brahms’ „Ein deutsches Requiem“ geschrieben hat, dessen zweiter Satz ja diesen Bibelvers zum Zentrum hat.
„wird welken wie Gras“ – Der Vers kehrt wieder und wieder, neunmal, in litaneiartiger Intensität, weil „alles Fleisch“ ausdenkend beim Wort genommen wird, also auch mein Fleisch, dein Fleisch, also auch meine Hand und die Pupille und dein Mund, dein purpurfarbener Mund. Eins ums andere blüht auf und wird eingeholt von dem unentrinnbaren Refrain mit der dreimaligen Assonanz: „wird welken wie Gras“. Beim Wort nehmen heißt sinnlich denken. So ist aus dem biblischen Vers eine Weise von Liebe und Tod geworden, die an diesem, „deinem“, „meinem“ Leib aufeinandertreffen.
Im Lesen eines solchen Gedichts können wir in unserer Einbildungskraft an Erfahrungen Anteil nehmen, die wir in der eigenen leiblichen Realität vielleicht nicht, vielleicht niemals machen. Aber indem unsere Erfahrungen (Erinnerungen, Erwartungen) sich mit den im Gedicht niedergeschriebenen zu unterhalten beginnen, wird unsere Anteilnahme an der Welt gestärkt. Sympathie in diesem Sinne ist eine für Theologen wichtige und zugleich merkwürdig schwierige Tugend. Dass sie schwierig ist, ist vielleicht die Kehrseite jener ungeheuren Affirmation des Kerygmas von Tod und Auferstehung, dieser Glaubensgewissheit, die alles, komme, was wolle, immer schon überstrahlt und aufgefangen hat.
Ehe ein Gedicht wie dies ganz hat gegenwärtig werden können, ist der glaubenssichere Leser längst darüber hinaus: „wird welken, wie Gras.“ Ja, aber das Wort unseres Gottes bleibt, und die Auferstehung der Toten kommt. Weil nicht nur Dickfelligkeit und Hartherzigkeit, sondern auch der sichere Glaube selbst Ursache einer eigentümlichen Anästhese sein kann, darum hat Poesie, die auf Erschütterung zielt, bei gläubigen Theologen keinen leichten Stand. Was ein Requiem sein könnte, wird schon als Auferstehungsamt gefeiert.
„wird welken wie Gras“ ist ein erotisches Gedicht, nicht nur darin, dass es erotische Bilder evoziert, sondern in der Sprache selbst, im Umgang mit der Sprache selbst. In einer Arbeit von S. Moser über Friederike Mayröcker heißt es: „Erotik als Poesie ist eine besondere Art, mit den Wörtern, mit der Welt umzugehen: liebend, sich aussetzend, offen, zerrissen, sich hingebend, verausgabend, verschwendend, unnachgiebig, verzehrend, gewalttätig (…) Aber auch (…) das Zurückschrecken, Auslassen, Loslassen.“69
Hier, in diesem Gedicht, sind es die einfachsten, alltäglichsten Wörter, wenige nur, die aufgehoben, hingestellt, wiederholt werden, weil man so schnell von ihnen nicht loskommt; ihnen wird das Gewicht der Dinge, die sie anzeigen, verliehen; magische Nachbarschaften werden in die Wege geleitet; der Klang und Rhythmus geprüft, in dem alles gehen könnte, immer mit dem Singsang des Refrains zwischendrin. Das ist Widerstand gegen den Verschleiß, gegen die Inflation, gegen die gedankenlose Wortmengenvermehrung, an der, nach dem Eindruck H. Bölls zumindest, auch die Theologie sich kräftig beteiligt: „Ich habe den Eindruck, dass die Theologie viel Sprache verbraucht und nicht viel sagt (…) Sie ist ungeheuer wortreich und ausschweifend. Wenn sie formelhaft würde, auch im Sinne von (…) Poesie, könnte sie sich vielleicht (…) eher mitteilen.“70
Als die Liturgiereform den Tisch des Wortes reicher decken und die biblischen Schatzkammern weiter öffnen ließ, die Übersetzung in die Muttersprachen freigab, neue Texte, Textalternativen und -varianten anbot, sprachliche Gestaltungsräume eröffnete, da vermehrten sich die Wörter wie von selbst. Das ist in sich noch keine Inflation, sowenig es die Vermehrung der verfügbaren Geldmenge ist. Erst wenn der Geldschöpfung keine Vermehrung der Warenerzeugung gegenübersteht, sprechen die Ökonomen von Inflation. Dies erst ist auch der kritische Punkt der theologischen Wortmengenvermehrung. Die redselige Einschäumung der Primärtexte durch ein redundantes Einführungswesen nach dem Vorbild des überflüssig aufgeblähten Schottmessbuchs ist nicht gerade ein gutes Zeichen für die hohe Einschätzung ihrer religiösen Kaufkraft. An der Poesie kann man lernen, wie man durch Redundanzentzug und Verfahren der Verdichtung Worten Wert und Gewicht verleihen kann.
Es sind nicht die großartigen Gedanken, sondern die unscheinbaren Sprachbewegungen, in denen sich die Bedeutung eines Gedichts für uns ereignet. Die Fassungslosigkeit dessen, was in Friederike Mayröckers Gedicht zur Sprache kommt, dringt vor bis in den äußersten Winkel der Interpunktion. Mit Satzzeichen gliedern wir nicht nur den Fluss der Rede, wir geben damit auch zu verstehen, welchen Status wir dem Gesagten verleihen möchten: eine Frage, eine Aussage, ein Ausruf. Die in diesem Gedicht gesetzten Punkte sind eine Erfindung Friederike Mayröckers; sie stehen auf halber Zeilenhöhe. Sie sind kein Punktum, kein „wird welken wie Gras Punkt, daran gibt es nichts zu rütteln“. Schon gar nicht aber sind es Fragezeichen. Nein, es steht überhaupt nicht infrage, was hier gesagt ist. Es ist eine Art Schwebepunkt, ein zum Punkt verkürzter Gedankenstrich, ein Gedankenpunkt, das kurze Stocken des Atems: wird welken wie Gras – todsicher und unfasslich.