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II. Gutes denken, tun und dichten

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Der lateinischen Herkunft des Begriffs folgend, könnte man „Qualität“ zunächst im ontologischen Sinne der scholastischen „qualitas“ verstehen, als Beschaffenheit eines bestimmten Seienden, hier also der Eigenart jener bestimmten Textkörper, die man als Kirchengesänge bezeichnet. Im Zuge solchen Verständnisses wäre eine Taxonomie von Textsorten des Kirchengesangs vorzulegen, eine Typologie von Genera litteraria, in denen er sich realisiert. Bei der Bestimmung des Genus litterarium kommen bekanntlich formale und funktionale Komponenten zusammen; analog zu einem in der Kunstgeschichte gebräuchlichen Begriff könnte man von „Funktionsformen“ sprechen. Eine solche Sichtung der hymnodischen Genera et Species ist unverzichtbar, damit man weiß, von welchem literarischen Feld man überhaupt spricht. Aber der Begriff „Qualität“ ist im vorliegenden Zusammenhang nicht vorrangig in diesem ontologischen Sinne von literarischer Beschaffenheit gemeint, sondern im normativen Sinne von Wertigkeit. Es steht weniger die Klassifikation nach generischen Differenzmerkmalen zur Debatte als die Erörterung von Wertmaßstäben und Urteilskriterien. Es geht um eine Kriteriologie, die freilich ohne taxonomische Ordnung im Nebel stochert.

Bewertung setzt eine Situation der Wahl voraus, in der es zugleich möglich und nötig ist, das eine dem anderen vorzuziehen. Im Bereich des Kirchengesangs gibt es zwei exemplarische Wahlsituationen: die zumeist über mehrere Jahre sich erstreckende Makrosituation der Entstehung eines Gesangbuchs und die zumeist im Stundenmaß bleibende Mikrosituation der Entscheidung über die Liedgestaltung eines bestimmten Gottesdienstes. Die Resultate dieser beiden Wahlentscheidungen sind miteinander verschränkt. Die Globalentscheidung des Gesangbuchs befindet darüber, was langfristig als Repertoire dem Gemeindegesang zur Verfügung stehen soll. Die Mikroentscheidungen der Liturgen vor Ort befinden, jedenfalls in der Summe ihrer Bevorzugungen und Vernachlässigungen, darüber, was wirklich unter das Volk kommt und was als hymnodischer Ladenhüter verstaubt. Es wäre eine lohnende Arbeit empirischer Hymnologie, zu ermitteln, welche Gesänge, bezogen auf ein bestimmtes Gesangbuch, realiter in Gebrauch genommen worden sind, in welchem Umfang, zu welchen Anlässen, aus welchen Gründen. Solche von den lokalen Liturgen oder liturgischen Gremien gelenkte hymnologische Volksabstimmung über ein Gesangbuch kann zwar nicht alleiniger Maßstab sein, aber ihre Ergebnisse könnten doch den Realitätssinn von Gesangbuchmachern im Hinblick auf künftige Entscheidungen schärfen, jedenfalls der kriteriologischen Reflexion bodennahe Fakten bieten.

Da mir solche empirischen Untersuchungen aber nicht zur Hand sind, niste ich meine Überlegungen in der Makrosituation der Entstehung eines Gesangbuchs ein und wähle dazu den exemplarischen Fall des ersten katholischen Einheitsgesangbuchs deutscher Zunge, des in den Jahren 1963 bis 1975 entstandenen „Gotteslob“.10 Die verantwortlichen Hersteller dieses Gesangbuchs haben in einem umfänglichen Redaktionsbericht über Entscheidungsprozeduren ihrer zehnjährigen Arbeit Auskunft gegeben.11

Dieses Gesangbuch mitsamt den Informationen über seine Entstehung wirft für den an diesem Prozess nicht beteiligten, aber von seinem Ergebnis betroffenen Theologen eine Fülle von Fragen auf hinsichtlich des Konzepts und Verfahrens dieser einschneidenden Veränderung der Gesangbuchlandschaft des deutschsprachigen Katholizismus. Aber es ist hier nicht der Ort einer kirchen- und theologiegeschichtlichen Gesangbuchanalyse in toto.12 Es geht um etwas Begrenzteres, die Frage der Qualität kirchlicher Gesänge. Auch das ist schon ein weites Feld.

Als beschleunigender Anlass und legislativer Hintergrund des neuen Einheitsgesangbuchs ist die Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils anzusehen. In der Liturgiekonstitution des Jahres 1963 und den nachfolgenden Dokumenten zur „Musica sacra“ wird als allen Reformen zugrundeliegender Grundsatz herausgestellt, dass die Musik als „pars integralis“ der Liturgie zu betrachten sei.13 Der Kirchengesang des Chores oder des Volkes soll nicht mehr etwas sein, was die eigentlich allein vom Priester gefeierte Messe als eine Art Parallelaktion begleitet, sondern übernimmt als solcher bestimmte Funktionsstellen der Liturgie. Diese unbestreitbare Aufwertung der liturgischen Rolle der singenden Gemeinde bindet sie jedoch gleichzeitig auch enger an die Vorgegebenheiten der offiziellen Liturgie. Die funktionelle Beförderung bedeutet zugleich eine Einengung des Spielraums. Ein Passus der Instruktion „Musicam Sacram“ von 1967 macht das deutlich: „Aus dem überlieferten Schatz der Kirchenmusik soll zunächst das hervorgeholt werden, was den Bedürfnissen der erneuerten Liturgie entspricht; sodann sollen Fachleute prüfen, ob anderes diesen Bedürfnissen angepasst werden kann; das übrige schließlich, das mit dem Wesen und der angemessenen seelsorglichen Ausrichtung der liturgischen Feier nicht in Einklang gebracht werden kann, soll nach Tunlichkeit in Andachtsübungen, besonders auch in selbständige Wortgottesdienste übernommen werden.“14

Die Übernahme dieser liturgiereformerischen Grundstellung in die Kriteriologie der Gesangbuchherstellung hatte in Interferenz mit einer Reihe anderer Einflüsse der Zeit um 1970 erhebliche Veränderungen im Gefolge. Die vorrangige Orientierung an den messliturgischen Funktionsstellen der Ordinariumsgesänge Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus, Agnus Dei wie der primär antiphonal-psalmistisch verstandenen Propriumsgesänge hatte im „Gotteslob“ eine, an der älteren katholischen Gesangbuchpraxis gemessen, exorbitante Zunahme von „nichtliedmäßigen Gesängen“, Kehrversen, Psalmen, Akklamationen usw. zur Folge. Der produktive Eifer auf diesem liturgiefunktional neu erschlossenen Feld scheint weniger auf der literarischen als auf der musikalischen Ebene am Werk gewesen und dementsprechend eher einer musikologischen Analyse und Kritik zuzuordnen zu sein.

Die außergewöhnliche Expansion dieser Form des Kirchengesangs gibt jedoch auch zu pastoralliturgischen Rückfragen Anlass, welchen Wert es etwa hat, dass die Gemeinde – allein den Stammteil gerechnet – z. B. das Sanctus in insgesamt 18 Varianten singen kann, fünf lateinisch-gregorianischen, acht deutsch-verbalen und fünf deutsch-paraphrasierenden. Wenn das Evangelische Gesangbuch (EG) mit fünf Sanctus-Gesängen auskommt, dann hat das sicher seinen Grund in dem anderen Rang der Abendmahlsfeier, aber auch die älteren katholischen Diözesangesangbücher waren auf diesem Sektor viel bescheidener. Variatio delectat!? Dass die Variantenbildung auf dem Gebiet der Ordinariumsgesänge wie der Kehrverse kirchliche Komponisten delektiert, ist nicht zu übersehen. Aber diese Produktionslust ist abzuwägen gegen die Bedeutung des kulturellen Gedächtnisses, das mit der Steigerung der Varianten eher verschwimmen könnte, ohne dass im Gegenzug mit den einzelnen Varianten ein merklicher Bedeutungsgewinn zu verbuchen wäre. Eine Qualitätsprüfung hätte hier zu bedenken, ob nicht eine Reduzierung der Produktpalette die memoriellen Rezeptionschancen erhöhen könnte. Damit ist bereits ein generelleres Qualitätskriterium ins Feld geführt. Ein kirchlicher Gesang ist auch daran zu messen, wie weit es ihm – einzelnen Strophen, Versen, Motiven, Melodien, Imaginationen – gelingt, über den begrenzten Funktionsraum der Liturgie hinaus zu wirken in die memorielle Kultur.

Reformerische Uniformierung kann bestehende literarische und musikalische Gedächtnisstränge abreißen, die Einführung einer übermäßigen Variantenfrequenz sie erst gar nicht zustande kommen lassen. Die Ausbildung eines christlich geprägten Gedächtnisses als Referenzhorizont der wechselnden Alltagserfahrung erscheint mir als eine wichtige Zielperspektive des Gottesdienstes, die durch rein liturgiefunktionelle Bewertung nicht konterkariert werden sollte.

Die erwähnte liturgiereformerische Neubewertung des Kirchengesangs hat also einerseits zu einer produktiven, in ihrem Produktionseifer aber durchaus befragbaren Expansion nicht liedmäßiger Gesänge geführt. Andererseits schränken die liturgiefunktionalen Vorgaben, wenn man sie ernst nimmt, den Gebrauch der eigentlichen Kirchenlieder der deutschsprachigen Tradition zwangsläufig ein. Als messliturgische Gesänge zum Einzug, zwischen den Lesungen, zur Gabenbereitung, zur Kommunion sind viele dieser Lieder nach Herkunft, Umfang und inhaltlicher Ausrichtung nicht unmittelbar geeignet. Sie würden also, dem Siebprinzip der Instruktion „Musicam sacram“ entsprechend, eher in den Bereich der „pia exercitia“, der paraliturgischen Andachtsübungen gehören. Dass viele spezifisch katholische Lieder der deutschsprachigen Tradition nach Genese und Gebrauch im Bereich der Volksandachten, Messandachten, Prozessionen usw. anzusiedeln sind, ist offenkundig. Eben dieses für die katholische Frömmigkeit sehr prägende Andachtswesen wurde nun nicht nur von den liturgiereformerischen Kräften, die in klerikal-monastischer Tradition Messliturgie, Wortgottesdienst und Stundengebet favorisierten, vernachlässigt, es unterlag in der Zeit um 1970 auch dem Prozess einer frömmigkeitspraktischen Erosion großen Ausmaßes.15 Die sozioökonomisch bedingte Reduzierung der religiösen Aktivitäten auf den Sonntagsgottesdienst konvergierte mit dessen ekklesialer Hochschätzung. Viele einst sehr gebräuchliche und gern gesungene Lieder aus dem Bereich der Marien- und Heiligenverehrung, der Sakraments- und Herz-Jesu-Frömmigkeit, der Kreuzweg-, Mai- und Rosenkranzandachten gerieten durch diese Entwicklung in eine labile Position. Das „Gotteslob“ gibt das durch Reduzierung und ideologische Überarbeitung des einschlägigen Repertoires zu erkennen. Wie es mit dem faktischen Gebrauch der in diesem Bereich beibehaltenen Gesänge steht, wäre empirisch zu untersuchen. Der faktische Nichtgebrauch ist der härteste Prellbock der gesamten Qualitätsdiskussion.

Natürlich erschöpft sie sich nicht im Kriterium der tatsächlichen Verwendung. Ich möchte mich darum der Frage poetisch-theologischer Wertmaßstäbe zuwenden, begrenzt auf das Feld der eigentlichen Kirchenlieder. Meine Überlegungen schließen sich an Beispiele an und zwar an strittige Fälle, weil sich an ihnen die zur Bewertung vorgebrachten Argumente und die ihnen zugrunde liegenden Kriterien am besten validieren und diskutieren lassen. Der Redaktionsbericht liefert hinsichtlich der Auswahl und Bearbeitung von Liedern ausreichend strittige Fälle, aus denen ich einige ad modum exempli auswähle.

Ich nehme als erstes ein kleines Lied, das es nicht geschafft hat. Der Fall ist deswegen etwas gewichtiger, weil es sich um ein Lied handelt, „das eine gewisse Festigkeit gegenüber den Abnutzungsprozessen der Zeit“16 erwiesen hatte. Es gehörte bereits zu den 23 Titeln, die nach einem Beschluss der Fuldaer Bischofskonferenz aus dem Jahre 1916 als Einheitslieder in allen Diözesen einzuführen waren17, und fand sich auch unter den 74 Einheitsliedern, die die deutsche Bischofskonferenz im Jahre 1947 als Kernbestand des katholischen Kirchenliedguts beschlossen hatte, und war dementsprechend in allen Diözesangesangbüchern der Folgezeit vertreten.18 Im Jahre 1972/73 wurde es mit neun anderen alten Einheitsliedern nicht in den Stammteil des neuen Einheitsgesangbuchs aufgenommen: das Lied „Jesu, dir leb ich“.

Die im Redaktionsbericht mitgeteilte Begründung ist die von allen zehn Fällen kürzeste: Gemäß „Entscheid der HK (Hauptkommission) vom Juli 1972 wurde zu diesem Lied die Meinung der Diözesen eingeholt. Auf deren Votum von 13 Ja und 14 Nein hin lehnte die HK im Dezember 1972 das Lied mehrheitlich ab.“19 Die Begründung liefert kein inhaltliches Argument, sondern nur den Mechanismus einer offenbar schwierigen Entscheidungsfindung. Nach der Ablehnung für den Stammteil hat es dann in zehn Diözesananhängen Unterkunft gefunden.20

Das umstrittene Lied besteht aus zwei kurzen Strophen und hat den Wortlaut:

„Jesu, dir leb ich! Jesu, dir sterb ich! Jesu, dein bin ich im Leben und im Tod.

O, sei uns gnädig, sei uns barmherzig! Führ uns, o Jesus, in Deine Seligkeit!“

Die in den älteren Gesangbüchern gebräuchliche Legende lautet: „Text: Als Kehrverse schon im 17./18. Jh. bekannt, Liegnitz 1828; Weise: Franz Bühler (1760 – 1824)“.21 In einer sorgfältig belegten Untersuchung hat F. Schulz die Geschichte des Liedes weiter aufhellen können22. Die erste Strophe ist als Reimgebet bis ins 16. Jh. zurückzuverfolgen: Die „bis jetzt früheste Fassung des Jesusgebets: O Herr Jesu / dir leb ich / dir stirb ich / dein bin ich / tot und lebendig“23 findet sich in einem Gebetbuch des Jahres 1557. Das Gebet stammt nach den frühesten Belegen des 16. Jh. aus evangelischer Tradition und erscheint im 17. Jh. dann auch in katholischen Gebetbüchern. Aufgeführt wird es im Zusammenhang des Morgensegens oder als Sterbegebet. Der „offensichtlich bekannte und fest geprägte Text“24 erhält um 1800 eine Liedfassung, zunächst evangelisch in einem Gesangbuch der Brüdergemeine von 1784 und dann katholisch. Der ersten, 1813 veröffentlichten Melodie folgte vor 1824 die von dem Augsburger Domkapellmeister Franz Bihler stammende Melodie25, die sich in der Folgezeit, wenn auch mit zahlreichen melodischen Varianten, durchsetzte (zwischen 1828 und 1909 in 17 katholischen Gesangbüchern nachweisbar26). Die zweite Strophe findet sich erstmals in einem katholischen Gesangbuch von 1837 und wird „von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an bis zur Gegenwart in fast alle vom Pietismus und der Erweckungsbewegung geprägten Liederbücher für kirchliche und freikirchliche evangelische Gemeinschaften sowie für Kinder- und Jugendgottesdienste“27 übernommen. Mit der Streichung aus dem Liedrepertoire des „Gotteslob“ wurde also ein altes, im interkonfessionellen Frömmigkeitsaustausch interessantes Stück aus dem Verkehr gezogen. Versteckt unter der Rubrik „Sterbegebete“ hat die erste Strophe sich im Gebetsteil (Nr. 79,1) erhalten.

Was lässt sich über das Argument der frömmigkeitsgeschichtlichen Anciennität hinaus poetisch-theologisch zu diesem einfachen Stück volkstümlicher Lyrik sagen? Wer die erste Strophe mit theologiegeschichtlichem Ohr hört, wird sich zwanglos an Röm 14,7 f. erinnern: „Keiner von uns lebt sich selbst und keiner stirbt sich selbst; leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Ob wir also leben oder sterben, wir sind des Herrn.“ Das Lied „Jesu, dir leb ich“ nimmt das semantische Potential dieses paulinischen Paränesestücks mitsamt seiner triadisch gesteigerten rhetorischen Form auf. Verändert ist die grammatische Struktur: Die Aussage wird in eine Anrufung übersetzt, „Jesus“ steht statt „Herr“ und im Vokativ. Das resolut konfessorische des paulinischen Briefs ist in die Subjektivität eines Geständnisses (erste Person Singular) überführt; an die Stelle des herrschaftlichen Kyrios-Tons ist Jesus-Minne getreten. Im Verhältnis zur paulinischen Vorgabe ist es nicht einfach die Versifizierung einer neutestamentlichen Prosapassage, sondern ein Echo, eine persönliche Antwort auf die paulinische Predigt.

Die zweite Strophe, die, von der ersten Person Singular in die erste Person Plural springend, wie ein Additum wirkt und genetisch ja auch ist, erweist sich bei näherem Zusehen aber gerade als sinnvolles theo-logisches Supplement der ersten. Wenn man im Römerbrief an der erwähnten Referenzstelle weiterliest, heißt es im Vers 10: „Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder auch du, was verachtest du deinen Bruder? Denn wir alle werden vor den Richterstuhl Gottes treten müssen.“

Also: „O sei uns gnädig,

sei uns barmherzig!“

„Uns“, nicht mir bloß, uns, die wir alle vor den Richterstuhl Gottes treten müssen und darum verzichten sollten, die Brüder zu richten. Wie in der ersten Strophe ist es auch hier ein, freilich indirekteres Echo auf die paulinische Vorgabe. Es ist keine Wiederholung des bereits prosaisch Gesagten in Versform, sondern eine von der Vorgabe inspirierte Antwort. Das Echo hat den Frömmigkeitsfarbklang barocker Jesus-Devotion, aber ganz einfach, ohne Exaltation.

Röm 14,7 – 9 ist in der römischen Leseordnung am 24. Sonntag im Jahreskreis/Lesejahr A vorgesehen. Man könnte sich das kleine Lied als Antwortgesang denken, aber in der rituellen Konsekution der Zwischengesänge kommt es da vielleicht zu schnell. Man braucht vielleicht den Raum der Messe, damit so ein persönliches Echo auf eine Lesung möglich wird. In Gesangbüchern des 19. und 20. Jh war das Lied „Jesu, dir leb ich“ vor allem als Gesang „nach der Wandlung“ vorgesehen.

Nein, das Lied ist gewiss kein Spitzenwerk der deutschen Lyrik, aber es ist ein von der Schrift inspiriertes Lied von intimer Emotion und geprägter Form, das liturgisch seinen bestimmbaren Ort haben könnte. Der „sensus fidelium“, der dem Lied im 20. Jh. eine von den bischöflichen Autoritäten abgesegnete „temporale Stabilität“28verliehen hat, hat an einem Stück religiöser Volkspoesie festgehalten, für dessen Qualität sich auch poetisch-theologische Gründe ins Feld führen lassen.

Um ein Lied von nachweisbar „langdauernder Beliebtheit“29 und volkspoetisch gefasster theologischer Substanz, dazu von bescheidenem Raumanspruch aus dem gemeinsamen Liederschatz durch autoritativen Beschluss auszuschließen, bedürfte es starker Argumente. Der Redaktionsbericht gibt darüber keine Auskunft. Man kann nur vermuten, dass es sich um ein Geschmacksurteil aus der besonderen klimatischen Situation um 1970 handelt. Da die theologische Substanz des Liedes – wie die Aufnahme von Röm 14,7 f. in die Leseordnung zeigt – offenbar nicht angefochten wird (wie das in anderen Fällen bzgl. der Mariologie, Sakramententheologie, Ekklesiologie geschehen ist), könnte der Grund in jener besonderen Jesus-Frömmigkeit liegen, die sich hier aussingt. Der liturgischen Objektivität altkirchlicher Kyrios-Frömmigkeit den Vorzug vor der „gotisch“-subjektiven Jesus-Andacht zu geben, war ein gängiger Impetus der jugendbewegten Liturgiebewegung, deren Veteranen ja um 1970 in kirchlich maßgebende Positionen gelangt waren. Zur gleichen Zeit entdeckte die historisch-kritische Exegese den historischen Jesus, zu dem man ein Verhältnis der intentionalen Sympathie, aber nicht einer irgendwie erotischen Devotion aufbauen konnte. Die Sakramententheologie favorisierte den kommunitären, nicht den subjektiv-intimen Charakter der Kommunion. Wenn dies die Gründe der Ablehnung gewesen sein sollten, so ist ihre Anwendung doch nicht konsistent gewesen, insofern andere Lieder vergleichbarer Frömmigkeitshaltung wie „Schönster Herr Jesu“, „Morgenstern der finstern Nacht“ oder „O Jesu, all mein Leben bist du“ durchaus aufgenommen wurden. Sollten es letztendlich musikalische Bedenken gegen die Melodie des Liedes gewesen sein, so muss ich das Urteil darüber delegieren.

Qualität ist natürlich eine relative Größe und man könnte sagen, dass – meine Überlegungen in Ehren – es eben doch bessere Lieder gäbe, die im „Gotteslob“ jenem „Jesus, dir leb ich“ gegenüber entschiedenen Vorzug verdienten. Wir wollen das überprüfen an einem Lied, das derselben Abteilung „Lieder zu Jesus Christus“ angehört und etwas mehr Raum in Anspruch nimmt als das verworfene Stück. Es ist das Lied Gotteslob Nr. 552 „Alles Leben ist dunkel“. Der Text stammt von Maria Luise Thurmair, verfasst im Jahre 1971, die Weise von Wolfram Menschick, Domkapellmeister in Eichstätt, aus dem Jahre 1973. Das Lied hatte, wie man sieht, bei seinem Eingang ins Gesangbuch überhaupt keine Probezeit im Gemeindegebrauch hinter sich, es wurde ad hoc angefertigt. Zur Genese ist dem Redaktionsbericht zu entnehmen, dass es aus einer Ausschreibung hervorgegangen ist.30 Die für die Lieder zuständige Subkommission hatte, um von ihr festgestellte „Lücken im Liedgut“ zu schließen, den Weg gezielter (an drei bis fünf Personen gerichteter) Ausschreibungen und direkter Aufträge eingeschlagen.31 Von den 30 auf solchem Wege neu entstandenen Texten stammen 16 von Maria Luise Thurmair.32 Thurmair war Mitglied der ausschreibenden Subkommission und Leiterin des von dieser eingesetzten Arbeitskreises „Texte“.33

Bei der Aufnahme eines solchen Liedes in den allgemeinen Liederschatz muss die poetisch-theologische Qualität besonders hoch sein, da es ohne gemeindliche Bewährung gemeindlich bewährte Gesänge ersetzen soll.

Das auf dem bezeichneten Kommissionsweg in das „Gotteslob“ (Nr. 552) gelangte Lied lautet:

„Alles Leben ist dunkel. Keiner weiß, wo er endet. Jeder sehnt sich nach Glück. Gott hat ein Herz für den Menschen: Jesus ward einer von uns.

Jesus lebt unser Leben. Jesus trug unsre Sünden. Jesus starb unsern Tod. Gott hat ein Herz für den Menschen: Jesus ist einer von uns.

Mitten in Jesu Worten, mitten in Jesu Taten schlägt dies Herz für die Welt. Gott hat ein Herz für den Menschen: Jesus ist dieses Herz.“

Im Unterschied zu den meisten älteren Christusliedern beginnt dieses neue nicht mit einer Anrufung an Jesus Christus, sondern es beginnt mit drei anthropologischen Generalsätzen in der logischen Form von All-Aussagen bzw. deren Negation: Alles, Keiner, Jeder. Nach den Regeln der Prädikatenlogik haben allquantierte Sätze einen sehr sensiblen Wahrheitswert. Der erste Satz („Alles Leben ist dunkel“) ist selber semantisch sehr dunkel und bei logischer Aufhellung doch wahrscheinlich nicht zutreffend. Der zweite Satz („Keiner weiß, wo er endet“) wäre schon dann falsch, und zwar für alle, die ihn aussprechen, wenn ein einziger es unwiderleglich wissen sollte, was nach Koh 3,19 f. nicht auszuschließen ist. Der dritte Satz: („Jeder sehnt sich nach Glück“) ist wegen der unbegrenzten Substituierbarkeit des Ausdrucks „Glück“ von jener unwiderleglichen Trivialität, die (ohne Zusatzargument) von der Sentimentalität der Schlager mindestens genau so effektiv bedient werden kann wie von geistlicher Soteriologie.

Zu den logischen Schwächen kommen christologische. Der Zusatz „Jesus ward einer von uns“ ist dogmatisch irreführend. „Jesus“ ist nach biblischem und allgemein-theologischem Sprachgebrauch der Name, der diesem Menschenkind, dem Sohn der Jungfrau Maria nach seiner Geburt gegeben wurde. Jesus „ward nicht einer von uns“, er ist es von Anfang an gewesen, sofern mit „einer von uns“ gemeint ist, dass er die gleiche menschliche Natur hatte wie wir. Gemeint ist offenbar, aber eben nicht gesagt, dass „Gott“ einer von uns ward, also Mensch geworden ist, wie Martin Luther im Sinne der johanneisch-nizänischen Inkarnationstheologie korrekt dichtet: „Der Sohn des Vaters, Gott von Art / ein Gast in der Welt hier ward“ (EG Nr. 23, Str.5). Man tut dem Satz „Jesus ward einer von uns“ vielleicht zu viel Ehre an, wenn man ihn als häretisch bezeichnet, aber er gehört zu den christologischen Schludrigkeiten, deren Folge (durch Doppelpunkte verschleierte) logische und soteriologische Unklarheiten im parataktischen Gefüge des Ganzen sind.

Nach Auskunft des Redaktionsberichts ist die Ausschreibung für dieses Lied aus den „Bemühungen der Sonderkommission um ein neuzeitliches Herz-Jesu-Lied“34 hervorgegangen. Die Herz-Jesu-Verehrung ist eine spezifisch katholische Devotionsform, die zur öffentlichen Kultausübung erst seit dem 17. Jh. drängte und von der Mitte des 19. Jh. bis zur Mitte des 20. Jh. ihre frömmigkeitsgeschichtliche Blütezeit erlebte. Diese für den neueren Katholizismus höchst prägende Kultform hatte in Liedern wie P. Gerhardts „O Herz des Königs aller Welt“35 oder Guido Maria Drewes‘ Lied „Ein Herz ist uns geschenket“36 – das erste (bearbeitet) im „Gotteslob“, das zweite nicht – genuinen Ausdruck gefunden. Eine Frömmigkeit, die man in ihrer genuinen Devotionsform offenbar nicht mehr goutiert, durch eine kurzfristig angelegte Auftragsarbeit modernisieren zu wollen, scheint mir eine religiöse Marktfiktion zu dokumentieren, die sich von gewachsener Frömmigkeit weit entfernt hat. Die älteren Herz-Jesu-Lieder sind in ihrer sprachlichen Form eine Ausübung dieser besonderen Frömmigkeit, im vorliegenden neuen Lied werden ausgedachte Grundsätze einer Herz-Jesu-Theologie in Versform vorgelegt, die sich dem modernen Bewusstsein anzudienen sucht, indem sie mit idiomatischen Wendungen wie „ein Herz haben für“ und „einer von uns“ den genuinen Symbolkern der Herz-Jesu-Verehrung äußerlich umspielt, um ihn schließlich durch einen metaphorischen Christustitel („Jesus ist dieses Herz“) zu ersetzen. Ob dieses Lied, das ja keine praktische Vorgeschichte hatte, ehe es ins Gesangbuch gelangte, mit dessen Hilfe eine praktische Nachgeschichte hatte, also in dem seit den siebziger Jahren noch schmaler gewordenen Reservat der Herz-Jesu-Frömmigkeit erwähnenswerte Aufnahme gefunden hat, vermag ich nicht zu sagen.

Die Künstlichkeit dieses Konstrukts zeigt sich schließlich in seiner mangelnden Kunstfertigkeit. Symptomatisch dafür ist das in einem modernen Text antiquierte „ward“ und eine Kleinigkeit in der zweiten Strophe. Elisionen sind in der Kirchenliedgeschichte durchaus üblich; diese aber („Jesus lebt‘ unser Leben“) verunklart das geschriebene Präteritum in ein zu hörendes Präsens.

Die Qualitätsprüfung des Liedes weist logische, dogmatische, frömmigkeitspraktische und poetische Mängel aus, die es zur Aufnahme in ein allgemeines Gesangbuch untauglich erscheinen lassen. Sollte jemand einwenden, meine Bewertung des Liedes sei zu kritisch, so möchte ich die Forderungen in Erinnerung bringen, die Maria Luise Thurmair selbst für die Auswahl von Liedern formuliert hat: „Die Lieder sollten in ihrer theologischen Aussage richtig sein, den Anforderungen der Liturgie entsprechen, künstlerisch wertvoll sein, für den heutigen Menschen vollziehbar sein, für das gesamte deutsche Sprachgebiet gelten, in möglichem Umfang ökumenisch sein.“37 Die selbstformulierten Kriterien hätten die Annahme des Liedes verhindern müssen.

Ich wähle zur Gegenprobe ein Lied des großen Jesuitenpoeten Friedrich Spee, das Lied „Tu auf, tu auf, du schönes Blut“. Es steht als Barockgedicht von hohem Rang in Spees „Trutz-Nachtigal“38 und zur geistlichen Anwendung ausgelegt in Spees „Güldenem Tugend-Buch“39. Es ist in die katholische Gesangspraxis aufgenommen und darin über Jahrhunderte beibehalten worden.40 1939 stand es in dem weit verbreiteten „Kirchenlied“; 1947 gehörte es zum Kreis der 74 bischöflich beschlossenen deutschen Einheitslieder. 1973 wurde es für den Stammteil des „Gotteslob“ gestrichen mit der Begründung: „Dieses Gedicht von Friedrich Spee 1638 ist eine eindringliche, gereimte Bußpredigt, jedoch belastet mit heute unverständlichen Ausdrücken und Bildern, die sich ohne Zerstörung des Ganzen nicht modernisieren lassen … Nachdem T (= der Text) von den Diözesen mehrheitlich abgelehnt worden war, wurde das Lied nach langer Diskussion 1973 von der HK (= Hauptkommission) gestrichen, auch im Hinblick auf andere treffliche Bußlieder“.41

Für die Qualität des Liedes spricht seine lange kirchliche Gebrauchsgeschichte und sein literarischer Rang. Eben letzteres aber, seine barockpoetische Qualität, scheint ihm in den Augen der neuen Gesangbuchmacher zum Verhängnis geworden zu sein. Es sind die „Ausdrücke und Bilder“, die es mit Unverständlichkeit belasten. Das Lied widersetzt sich, wie das große Poesie zu tun pflegt, der Modernisierung und wird, weil es sich dem hermeneutischen Horizont der Heutigen nicht fügen will, eben fallengelassen, um anderen „trefflichen Bußliedern“ Platz zu machen.

An Friedrich Spees Lied lässt sich das bei der Bewertung von Liedern immer wieder begegnende Argument der Unverständlichkeit bzw. Unvollziehbarkeit älterer Bildwelten erörtern. Bei der Handhabung dieses Kriteriums werden nicht selten semantische und normative Gesichtspunkte miteinander vermischt. Im ersten Fall handelt es sich darum, dass man die Bedeutung von Wörtern und Sätzen, zumeist aufgrund der stattgehabten Sprachentwicklung, nicht unmittelbar versteht oder missversteht. Solche Verstehensprobleme kann man durch Erläuterung oder notfalls durch sprachliche Bearbeitung beheben. Im anderen Fall handelt es sich darum, dass man die Bedeutung wohl versteht, ihre Geltung aber nicht akzeptiert. Dieser zweite Fall wiegt schwerer, weil er den diachronen Konsens der Glaubensgemeinschaft berührt, der sich ja in der Konsonanz der generationenübergreifenden Singtradition bekundet. Ich bin der Ansicht, dass man diesen Konsens nicht allzu leicht aufkündigen sollte, weil sich möglicherweise im Einklagen jetztzeitiger Glaubwürdigkeit nur die undurchschaute Beschränktheit des eigenen Zeitgeistes durchsetzt. Hermeneutische Prüfung ist umso mehr angesagt, je höher der poetische Rang und je stärker die praktische Singtradition sind. Beides steht bei Spees Lied „Tu auf, tu auf, du schönes Blut“ außer Frage.

Im Redaktionsbericht wird Spees Lied dem Urteil unterworfen: „Es gibt Lieder aus den verschiedenen Epochen, die nicht mehr tragbar sind, weil es vielen Gottesdienstbesuchern unmöglich ist, sich mit ihnen zu identifizieren.“42 Es ist also letztlich kein semantisches, sondern ein normatives Problem.

Die hier gedichtete Bußtheologie wird für inkompatibel gehalten mit der heute herrschenden; ein Rückfall in glücklicherweise überwundene Vorstellungen wird befürchtet. Wenn man jedoch in angemessener hermeneutischer Demut großer Tradition gegenüber das herrschende Bewusstsein nicht für das non plus ultra hält, könnte gerade in dem Fremdgewordenen auch Vergessenes und Verdrängtes entdeckt werden und vielleicht ein Potential, über den erreichten Bewusstseinsstand ohne Regression hinauszugelangen.

Nur eine eingehende Analyse könnte den poetisch-theologischen Gehalt des Liedes zum Vorschein bringen. Zum vorläufigen Qualitätsnachweis möchte ich auf zwei geistliche Dimensionen hinweisen. Das Lied entwickelt zunächst eine theologische Kardiologie, deren metaphorische Mitte das Bild der Festung, der Herzensburg ist. Aus Herzenskenntnis also wird bei Spee Sünde als Verschanzung, Unzugänglichkeit, Verhärtung und Verschließung des Herzens gesehen und die Bekehrung als Öffnung, als Aufgabe der inneren Blockade und Versteinerung. Könnte es sein, dass in solcher geistlichen Poesie kardiognostische Einsichten aufbewahrt sind, die heutzutage ganz in die säkulare Domäne der Psychotherapeuten abgewandert sind, von wo sie dann pastoralpsychologisch wieder adaptiert werden? Das zweite Moment, das zu bedenken wäre, ist die in den letzten beiden Strophen hervortretende Eschatologie als Beschwörung der Gefahr, sein einmaliges, begrenztes Leben zu verspielen. Auch hier ist vielleicht manches aufgehoben, was durch eine Art Beschwichtigungsthanatologie in die Latenz gedrängt worden ist.

Bei der Frage der heutigen Vollziehbarkeit oder Unvollziehbarkeit älterer Lieder geht es nicht darum, fremd anmutende Stücke der geistlichen Poesie daran zu messen, ob sie sich in das herrschende Bewusstsein problemlos einpassen, sondern ob sie durch theologisch-spirituellen Sinngewinn darüber hinauszuführen imstande sind. Mit seinem poetischen Rang und geistlichen Gehalt, könnte Spees Lied den konzessionierten zehn Bußliedern des „Gotteslob“ durchaus das Wasser reichen. Liturgiefunktional bietet im Übrigen gerade die Fastenzeit wegen ihrer zeitlichen Länge sowohl in den Messen wie in den gerade zu dieser Zeit am ehesten noch üblichen Andachten genügend Raum für das Singen und predigende Besprechen eines weiteren Bußliedes.

In anderen Fällen hat der Abwehrreflex gegenüber den imaginativen Zumutungen barocker Poesie dazu geführt, auf überlieferte Texte nicht einfach zu verzichten, sondern sie durch Ausbesserungen tolerabel zu gestalten. Solche Textbearbeitungsarbeit begleitet die Gesangbuchgeschichte auf allen ihren Wegen. Auch lyrische Werke von höherem Rang sind, wenn sie in diesen Gebrauchszusammenhang geraten, davor nicht sicher.

Als Beispiel nehme ich das ökumenisch hochwertige Lied „Morgenglanz der Ewigkeit“. Dass Knorr von Rosenroths Lied zu den Perlen nicht nur des Kirchengesangs, sondern der deutschen Poesie überhaupt gehört, lässt sich in Anthologien nachprüfen.43 Das ursprünglich siebenstrophige Gedicht ist in der evangelischen Tradition (EKG Nr. 349 / EG Nr. 450) auf fünf Strophen zurückgenommen; über den theologischen Entlastungsgewinn, den man sich mit der Streichung des Morgennebels und der Kleiderfrage aus diesem von Knorr von Rosenroth sehr konsistent entfalteten geistlichen Morgenszenarium einhandelt, könnte man streiten; aber hier hat die Gesangspraxis entschieden.

Die Bearbeitung im katholischen „Gotteslob“ (Nr. 668) geht aber entschieden weiter. Sie hat von der Perle nur einen Splitter behalten, nur die erste Strophe, die Strophen zwei bis vier sind eine Neudichtung, die 1969 von Maria Luise Thurmair im Auftrag der Sonderkommission ausgeführt wurde.44 Sie geht dabei von der Unterstellung aus, dass es sich hier nicht um „literarisch Wertvolles“ handelt, sondern um ein Stück „Gebrauchsdichtung, das, wenn nötig stärker verändert oder neu gefasst“45 werden dürfe. Wenn das Evangelische Gesangbuch bei diesem Lied die Markierung „ö“ („ökumenisch“) hat, so ist das, jedenfalls auf das offizielle katholische „Gotteslob“ bezogen, irreführend.

Die neue Fassung soll angeblich „die Morgensituation des modernen Menschen berücksichtigen“46, das Werkbuch zum Gotteslob erläutert: „dabei wurde dringend gefordert, in den Morgenliedern nicht nur vom fröhlichen Erwachen zu sprechen, sondern auch die Situation des modernen Menschen zu berücksichtigen, der vielfach bedrängt und bedrückt den Belastungen des neuen Tages entgegengeht.“47 Als ob Knorr von Rosenroth einfach vom „fröhlichen Erwachen“ spräche und von den Nöten des Tagesanfangs keinen Schimmer hätte. Das Urteil verrät die oberflächliche Lektüre. Der poetisch-theologische Erfolg der daraus erwachsenen Totaloperation lässt sich aber wohl auf die Kriegskassendevise aus dem ersten Weltkrieg bringen: „Gold gab ich für Eisen.“

Dieses Verdikt ist keineswegs zu verstehen als nostalgische Aversion gegen modernes Liedgut, nur, jene drei neuen Strophen sind eben gar nicht modern. In neuer Fassung lautet die zweite Strophe:

„Such uns heim mit deiner Kraft, o du Aufgang aus der Höhe, dass der Sünde bittre Haft und des Zweifels Not vergehe. Gib uns Trost und Zuversicht durch dein Licht.“

Was ist daran moderner, morgenrealistischer, verständlicher als die zweite Strophe bei Knorr von Rosenroth:

„Deiner Güte Morgentau fall auf unser matt Gewissen; lass die dürre Lebens-Au lauter süßen Trost genießen und erquick uns, deine Schar, immerdar.“

Knorr dichtet die morgendliche Seelenlage des Menschen sympathetisch mit der Natur als „Lebens-Au“, die in ihrer Gewissensmattigkeit auf erquickenden Frühtau wartet. Thurmair dichtet in losem Anschluss an Lk 1,78 von der Heimsuchung durch eine Kraft, die eine bittere Haft vergehen macht, ohne dass sich in solchem Reimwerk ein einleuchtendes oder gar belebendes Bild einstellt. Es ist angefertigt, aber ohne Inspiration, ohne inspirierende Imagination.

Ich habe meine Überlegungen zu Kriterien des katholischen Kirchenlieds an wenigen Beispielen entwickelt, an strittigen Fällen. Es geht nicht um das Lob der guten alten Lieder. Es gibt durchaus, z. B. von Huub Oosterhuis, moderne Lieder, die in der Modernität das poetisch-theologische Niveau der alten halten und sich im Gemeindegesang bewährt haben. Das Lied „Licht, dat ons anstoot in de morgen“ / „Licht, das uns anstößt früh am Morgen“48 wäre z. B. ein ernsthafter Kandidat in der Abteilung Morgenlieder. Ein Feind der Poesie wie der Frömmigkeit ist aber das beschränkte Schulmeistern einer großen Tradition, die, wenn wir bescheiden genug sind, uns mitziehen und erheben kann, weil sie uns voraus ist. Das aber verlangt, dass man sich ihr mit gebotener Sorgfalt zuwendet.

Die Qualität eines Kirchenliedes ist ein komplexes Ding. Die poetisch-theologische Analyse kann die logische Konsistenz, die bildlogische Evidenz, die theologische Valenz, die rhythmisch-klangliche Stimmigkeit der Sätze und Wörter untersuchen, Defizite notieren, daraus Rangurteile ableiten. Zur Bewertung der Qualität eines Kirchenliedes ist zweitens unerläßlich der Gesichtspunkt der gottesdienstlichen Verwendbarkeit dieses Lyrikstücks. Eine bewegliche Funktionsforschung, die nach potentiellen Orten des jeweiligen Liedes in liturgischen und paraliturgischen Kontexten fragt, sollte sich jedoch nicht durch jene Funktionsorte fixieren lassen, die die gerade offiziell geltenden Liturgieformulare vorsehen. Liedern können auch angemessene Orte geschaffen werden, sie können von ihrer lyrischen Potenz her selbst gottesdienstbildend sein. Die dritte Dimension, in der die Qualität von Liedern zu prüfen ist, ist die faktische Rezeption. Lieder, die diachron oder synchron oder in beiden Hinsichten eine große Verbreitung aufweisen, sind, auch wenn dies nur auf bestimmte Regionen zutrifft, besonders pfleglich zu behandeln, weil sie Anknüpfungspunkte des kulturellen Gedächtnisses und des gesungenen Konsenses der Glaubensgemeinschaft sind. Eine historische und empirische Rezeptionsforschung ist darum das dritte Feld einer nüchternen Qualitätsprüfung. Wissenschaftliche Forschung kann freilich immer nur Argumente liefern, Entscheidungen mit ihren situativen Imponderabilien aber nicht ersetzen. Nicht also weil wir von poetisch-theologischer Arbeit beurlaubt wären, sondern weil, was da zu leisten ist, unsere Künste insgesamt übersteigt, steht im Gesangbuch, auch im „Gotteslob“ (Nr. 520), ein Lied wie „Liebster Jesu, wir sind hier“, dessen zweite Strophe eben lautet:

„Unser Wissen und Verstand ist mit Finsternis umhüllet, wo nicht deines Geistes Hand uns mit hellem Licht erfüllet. Gutes denken, tun und dichten musst du selbst in uns verrichten.“

Liturgie und Poesie

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