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ОглавлениеIV. Gedämpfte Erinnerung
1. Die Feinde dämpfen
Wer im Gang seiner Lebensgeschichte Gesangbuchreformen überlebt, kollidiert beim Singen des neu Geschriebenen leicht mit dem, was er von Jugend an automatisch im Kopf hat. Das Alterinnerte muss natürlich nicht das sprichwörtlich gute Alte sein, aber es taucht als Alternative jedenfalls auf und reizt zur Prüfung, ob es wirklich zu Recht verworfen wurde.
Manchmal sind es kleine Sprachvolten, die im Gedächtnis von ungefähr wieder auftauchen: „Hilf uns hie kämpfen, / die Feinde dämpfen, Sankt Michael.“ Als ich im Gotteslob nach dem Lied suchte, fand ich es, Nr. 606: „Unüberwindlich starker Held“53; aber jener Vers war verschwunden, der einzige, dessentwegen das Lied mir überhaupt im Gedächtnis geblieben war. Mich interessierte der Grund der Tilgung; im „Redaktionsbericht zum Einheitsgesangbuch Gotteslob“ fand sich der Vermerk: „Der Refrain wurde wegen des mit dieser Bedeutung nicht mehr gebräuchlichen ,dämpfen‘ umgeformt wie schon Dgsb Eichstätt 1952.“54 Und was hatte man stattdessen gefunden? – „Hilf uns im Streite / zum Sieg uns leite, Sankt Michael.“ Abgesehen davon, dass ich diesem neuen Reimpaar keinen poetischen Reiz abgewinnen konnte, fragte ich mich, ob jene Begründung denn eigentlich stichhaltig sei. Alle Lexika, die ich befragte, kannten das Wort „dämpfen“, z. B. „die Glut dämpfen“ oder „die Lautstärke dämpfen“ auch „jemandem einen Dämpfer aufsetzen“, ihn mäßigen also. Das war, auf Feinde bezogen, also doch anwendbar. Es hieß nur etwas anderes als einfach „Streit“ und „Sieg“. Es hieß den Feinden einen Dämpfer aufsetzen, ihre großmäulige Lautstärke dämpfen, ihre Großmannssucht eindämmen, mit sanfter Gewalt gegen ihre Wut und Arroganz angehen. Die sprachliche Skurrilität „die Feinde dämpfen“ enthielt, etwas näher betrachtet, Momente einer Strategie des Defensivkriegs, die mir politisch wie privat bedenkenswert erschienen. Aber nun war es zu spät. Es hieß nun eben: „Hilf uns im Streite, zum Sieg uns leite.“ Die Reform hatte eine vermeintliche Anstößigkeit beseitigt und sich dafür eine gereimte Belanglosigkeit eingehandelt. Absicht dieser Veränderung war, das Lied für die Gegenwart zu retten. Dazu reichte diese kleine Modifikation aber nicht aus. Im „Redaktionsbericht“ heißt es lapidar: „Str. 4 und 6 aus E (= Einheitslieder der deutschen Bistümer 1947) wurden gestrichen, da sie eine entbehrliche Ausweitung der vorausgehenden Str. 3 und 5 darstellen und zum Thema des geistigen Kampfes nichts Neues aussagen.“55 Die gestrichenen Strophen lauten, Str. 4: „Groß ist dein Macht, groß ist dein Heer, Sankt Michael / groß auf dem Land, groß auf dem Meer.“
Str. 6: „O starker Held, groß ist die Kraft, Sankt Michael! / Ach komm mit deiner Ritterschaft.“
Man kann sich des Eindrucks schwer erwehren, dass es sich hier gar nicht um das Thema des „geistigen Kampfes“ handelt und also auch nicht um dessen „entbehrliche Ausweitung“, sondern um weniger spirituelle Kämpfe zu Wasser und zu Lande. Der vollständige Urtext gibt zu erkennen, dass es hier nicht (wie z. B. in Angelus Silesius’ „Mir nach, spricht Christus, unser Held“) um die militia spiritualis der christlichen Seele geht, sondern um ein ekklesiales Schutz- und Trutzlied. St. Michael, der Patron der römischen Kirche und des deutschen Volkes wird um Hilfe angerufen. Über die reale Bedrohung der Entstehungszeit 1621 kann man kaum Zweifel hegen, mitten im dreißigjährigen Krieg, ein Jahr nach der Schlacht am Weißen Berge. Es ist ein religionspolitisches Lied, bei dem die singenden Katholiken die Feinde der Kirche, die Protestanten, vielleicht auch die das christliche Abendland bedrohenden Türken im Visier haben.
2. Kraft und Herbheit
Die Jugendbewegung der 20er und 30er Jahre unseres Jahrhunderts hegte starke Sympathien für den Engel der Deutschen. So ist das Lied in der Urfassung auch in das 1939 von Josef Diewald, Adolf Lohmann und Georg Thurmair herausgegebene „Kirchenlied“ gelangt, dem für die deutsche Einheitsliedentwicklung eine große Bedeutung zukommt. Im Vorwort des Mainzer Bischofs heißt es dort: „Ihr habt die alten Texte und Weisen aus den Quellen erforscht und ihnen ihre Kraft und Herbheit zurückgegeben, da in glaubensschwachen Zeiten vieles Schöne in den Liedern unserer Ahnen verkannt oder vergessen wurde … Dank sei euch, dass ihr mit Liebe gesammelt habt, was uns an gemeinsamem Liedgut verbinden kann zu einem gewaltigen Gottbekenntnis aller Christen in deutschen Landen! … Mögen viele dieser Lieder wieder heimisch werden in unseren Familien, damit Glaubensfreudigkeit und Glaubenstreue an ihnen wachsen und unsere Häuser widerklingen von einem frohen und befreienden Singen, wie es uns Deutschen nachgerühmt wird von alters her.“56
Das ist, könnte man sagen, die katholische Version der wenig beachteten zweiten Strophe des Deutschlandliedes: „Deutsche Frau’n und deutsche Treue, / Deutscher Wein und deutscher Sang, / sollen in der Welt behalten / ihren guten alten Klang.“ Die romantische Idee eines das deutsche Volkstum einigenden alten Liedguts verbindet sich in der kirchlichen Jugendbewegung mit der Idee einer katholischen Glaubenstreue zu dem Versuch, „zu einem einheitlichen Liedgut deutscher Katholiken den Grund zu legen.“57 Der Wunsch nach einem Einheitsgesangbuch ist also älter und noch von anderen Motiven gespeist, als es die in der neueren Argumentation vorgebrachten pastoralpragmatischen Gründe der Migration und Mobilität erkennen lassen.58
Das einheitsstiftende alte Liedgut des „Kirchenlied“ ist im Großen und Ganzen das des 16. und 17. Jahrhunderts. Das 18. und 19. Jahrhundert sind kaum vertreten; sie gelten offenbar als „glaubensschwache“ Verfallszeiten, in denen die alte „Kraft und Herbheit“ verloren gegangen war. Auf dem Liedsektor spielen das 16. und 17. Jahrhundert für die katholische Jugendbewegung der dreißiger Jahre die Rolle, die in ihrem Kunstverstand die „Romanik“ spielte, zentriert um das Bild des „Christus König“. Diese weltanschaulich normativen Epochen gelten auch als Vorbild der eigenen Produktion, im Bereich der kirchlichen Kunst der dreißiger Jahre die Orientierung an der Kunst des ersten Jahrtausends bis zur Romanik, im Kirchenlied neue Texte von Adolf Lohmann, Georg Thurmair und anderen, „im Verantwortungsbewusstsein gegenüber dem großen Erbe der Vergangenheit“59.
3. Glaubenskampf
So steht das alte „Unüberwindlich starker Held“ im „Kirchenlied“ neben einem neuen, 1935 von Bernhard Feigenbutz gedichteten60:
„Das Flammenschwert in Händen, umloht von Feuerbränden, zwangst du der Hölle Macht. Der Himmelsdom erdröhnte, als donnernd ihn durchtönte des Rufes heil’ge Macht: Wer ist wie Gott? Wer ist wie Gott?
Dein Bildnis auf den Fahnen, so zogen unsre Ahnen zum Kampf und auch zum Sieg. Du, hilf den Glauben wahren, und unsern Streiterscharen voran dein Schlachtruf flieg: Wer ist wie Gott? Wer ist wie Gott?
So wird für alle Zeiten dein Schwert das Gute scheiden von Teufels List und Trug. Uns, die wir hier noch ringen, das Böse zu bezwingen, dein Schlachtruf ist genug: Wer ist wie Gott? Wer ist wie Gott?“
Lieder von ähnlichem Glaubenskampfgeist hat Georg Thurmair zum „Kirchenlied“ beigesteuert, z. B. das Georgslied: „Wir stehn im Kampfe und im Streit mit dieser bösen Weltenzeit, die über uns gekommen“61 (1934), oder das geradezu kreuzfahrerische Lied „Das Banner ist dem Herrn geweiht“62 (1934), dessen zweite Strophe lautet:
„Wir stehen hier in Einigkeit, dem Herrgott hingegeben, wie Engel seinem Dienst geweiht, Soldaten für das Leben. Nun wehe, Banner, allezeit, und führe du im Kriege für Gottes große Herrlichkeit sein Kreuz zu seinem Siege!“
Natürlich ist es des Satans Macht, gegen die hier der Feldgesang angestimmt wird, aber wo der Feind konkret steht, dass man so stark zu singen hat, wird nicht mit Ross und Reiter beim Namen genannt. Ob es 1934 – ein Jahr nach dem Reichskonkordat – schon die Nazis sind oder der atheistische Bolschewismus im Osten, oder einfach die antichristlichen Weltanschauungen, der Liberalismus, Sozialismus, jedenfalls: „Kommt her, des Königs Aufgebot, die seine Fahne fassen.“63 Weil der Feind nicht genau benannt wird, singt man im Zustand einer permanenten Mobilmachung.
Das „Kirchenlied“ ist nach dem Zweiten Weltkrieg unverändert nachgedruckt worden. Und wir haben als Jugendliche in den fünfziger Jahren mit Bannern und Fackeln gesungen: „Unüberwindlich starker Held, Sankt Michael“, mehr oder minder diffus den Feind unseres katholischen Milieus ahnend. Dieses Lied gehört, von seinem gegenreformatorischen Ursprung wie von der kontextuellen Rezeption in den dreißiger Jahren her gesehen, in einen religionspolitischen Zusammenhang. In den für den Gebrauch des „Gotteslob“ am Anfang der siebziger Jahre gestrichenen beiden Strophen ist das nicht zu übersehen. Aber auch ohne sie ist das Lied dem „Thema des geistigen Kampfes“, sofern man darunter die Spiritualität des geistlichen Kampfes der einzelnen Seele versteht, nicht unterzuordnen. Das hätten die Autoren des „Gotteslob“, die lebensgeschichtlich dem „Kirchenlied“ von 1938 ja nicht allzu fern standen, doch auch sehen können. Warum haben sie es durch Amputationen zu retten gesucht? Aus Anhänglichkeit an das „kraftvolle“ und „herbe“ Liedgut ihrer Jugendjahre? Der Redaktionsbericht deutet selbst einmal an, dass „das Liedgut der Kindheit meist normierend wirkt.“64 Oder weil man aus theologischem Systemzwang die thematische Rubrik „Engel“ besetzen musste und einem nichts besseres einfiel, als was seit Jugendtagen mit so viel emotionalen Konnotationen besetzt war, ohne viele Gedanken darüber, wo denn im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts solche Michaelsfrömmigkeit im christlichen Bewusstsein ernsthaft unterzubringen sei?
Das Lied wäre nur zu retten, wenn man seine Mentalität nicht durch kleine Korrekturen verschleierte, sondern dazu stehen und sich und andere weiter in sie hinein singen möchte. Da dies die Überarbeiter aber offenbar nicht geradewegs wollen, ist aus dem Ganzen ein Flickwerk geworden, das man besser aufgäbe. Es tut mir Leid um das „Dämpfen der Feinde“, das also mein poetisch-politisches Privatvergnügen bleiben wird. Es tut mir auch Leid um Friedrich Spee, den Dichter des Liedes, der bei allem jesuitisch-gegenreformatorischen Kampfgeist doch ein so großer Poet und Menschenrechtler dazu ist.