Читать книгу Liccle Bit. Der Kleine aus Crongton - Alex Wheatle - Страница 11
6 KRIEG IN CRONGTON
ОглавлениеAM NÄCHSTEN MORGEN WACHTE ICH um 6.45 Uhr auf und es ging mir nicht besser. Ich dachte, dass ich vielleicht Dad fragen sollte, ob ich eine Weile bei ihm wohnen durfte, aber hätte ich davon auch nur andeutungsweise angefangen, wäre Mum abgegangen wie ein Tornado, der verstopfte Kloschüsseln aus der Verankerung reißt. Ich machte den Fernseher an und merkte, dass mein Handy blinkte. Ich nahm es und sah eine SMS von Jonah. Wieso schickt der mir so früh schon Nachrichten? Ich öffnete sie.
South Crong im Wareika Way ermordet. Bullen haben alles abgesperrt. McKay ist unterwegs. Treffen uns dort.
Scheiße! Es geht los. Wareika Way war nicht weit vom Park entfernt. Größtenteils bestand er aus vierstöckigen Wohnblocks, nur am Anfang und am Ende standen fünfzehnstöckige Hochhäuser. Eigentlich kam es dort nicht häufig zu Messerstechereien oder sonstigem Ärger, weil Manjaro die Gegend kontrollierte. Die meisten, die da wohnten, gehörten zu Manjaros Crew, deshalb war ich auch so geschockt, dass es den Bruder ausgerechnet dort erwischt hatte. Ich antwortete Jonah.
Bin unterwegs
Ich wusch mich in Windeseile, zog mich an, und als ich am Wareika Way eintraf, fuhr gerade der Krankenwagen davon, aber nicht besonders schnell und die Sirene war auch nicht eingeschaltet. Die Bullen hatten die ganze Straße abgesperrt, aber an beiden Enden hatten sich Menschentrauben gebildet. Leute ungefähr im selben Alter wie meine Mum standen in ihren Morgenmänteln da. Ich hörte eine Frau weinen, konnte sie aber nicht sehen. Andere starrten aus den Fenstern, und ein paar Brüder standen auf Mauern oder waren an Laternenmasten hochgeklettert. Alle beobachteten sie die Typen von der Spurensicherung in ihren weißen Overalls. Einige von denen hatten sogar Gesichtsmasken übergezogen. Wär’s keine Messerstecherei gewesen, hätte man auch denken können, irgendeine fiese leberzerfressende Pest hätte Crongton heimgesucht. Die Bullen untersuchten jeden Zentimeter. Sie hatten kleine Pinselchen und Plastiktütchen in den Händen, und insgeheim dachte ich, dass ich den Boden lieber nicht so genau unter die Lupe nehmen würde, weil ich mindestens eine Million Typen da schon hatte hinpissen und hinrotzen sehen. Mir schoss in den Kopf, dass der Tatort ein gutes Motiv für eine Skizze oder ein Gemälde gewesen wäre.
Dann entdeckte ich McKay und Jonah am anderen Ende vom Wareika Way, ich musste also noch mal ganz außen rum, um zu ihnen zu kommen. Als ich dort war, schoben uns die Bullen noch mal ein Stück weiter zurück.
»Zurücktreten, bitte, bitte, weiter zurück«, sagte einer von ihnen und hielt die Hände ausgestreckt vor sich. »Das ist ein Tatort.«
In Augenblicken wie diesen hasste ich es wirklich, so klein zu sein. Ich sah nur Schultern und Köpfe vor mir.
»Das war Nightlife«, flüsterte McKay mir ins Ohr. »Durchlöchert wie ein Sieb. Die haben ihm sogar ein Stück vom Ohr abgerissen – typisch für die North Crongs. Patricia Byrne, die da oben im vierten Stock wohnt, hat gesagt, da sind Sturzbäche von Blut in den Gully gelaufen.«
»Du meinst, den großen Weißen, der immer amerikanische Footballtrikots anhatte?«
»Genau den.« McKay nickte. »Stand auf die Washington Redskins. Vor ein paar Jahren hat ihm sein Dad einen Redskins-Helm zum Geburtstag geschenkt, kurz bevor er auf Nimmerwiedersehen verschwunden ist.«
»Nightlife war einer von Manjaros besten Kumpels«, meinte Jonah.
»Wieso wurde er so genannt?«, fragte ich.
»Weil er nachts immer raus ist. Seine Mum hat ihm nicht erlaubt, in der Wohnung zu kiffen«, erwiderte McKay.
»Und deshalb wussten die auch, wo sie ihn kriegen«, flüsterte ich.
»Genau«, erwiderte McKay. »Vielleicht haben ihn die North Crongs schon eine Weile beobachtet. Die Kacke wird so was von überkochen. Manjaro muss sich ernsthaft was einfallen lassen. Überleg dir das mal: ein North-Crong auf South Crong-Gebiet – im Wareika Way –, und dann macht er einen South Crong alle? Genauso gut hätten sie Manjaro persönlich aus einem Hubschrauber raus auf den Kopf kacken können.«
Ich sah mich um und entdeckte nur einen South Crong mit einer blauen Basecap. Er machte irgendwas mit seinem Handy.
»Wahrscheinlich werden die Bullen überall rumfragen«, sagte McKay. »Halt bloß dicht, wenn die bei euch auf der Matte stehen.«
»Ich weiß eh nichts«, erwiderte Jonah.
Wir verzogen uns wieder in Richtung unserer Blocks und fragten uns, wie’s jetzt weitergehen würde in diesem South-Crong-North-Crong-Krieg. Als wir eine Abkürzung durch eine schmale Gasse nahmen, fing McKay zu mosern an, weil er noch nichts zum Frühstück gehabt hatte.
Ich weiß nicht warum, aber ich hatte das Gefühl, dass uns jemand folgte. Um mich zu vergewissern, schaute ich mir drei Mal über die Schulter, aber da war keiner.
»Was ist los mit dir, Bit?«, fragte McKay. »Glaubst du, die Bullen sind dir auf den Fersen?«
»Nein«, erwiderte ich. »Hab nur kurz gedacht, es wäre jemand hinter uns.«
Jonah drehte sich auf der Stelle um, schaute hier- und dorthin. Ich hatte immer noch so ein komisches Gefühl und dachte, dass es Jonah und McKay genauso ging, auch wenn sie sich’s niemals anmerken lassen würden.
»Kein Wunder, dass du Paranoia schiebst«, sagte McKay. »Ich kann’s auch kaum glauben, dass die Nightlife auf South-Crong-Gebiet abgestochen haben. Manjaro poliert bestimmt schon seine Kalaschnikows und schnallt sich Granaten vor die Brust. Würde mich nicht wundern, wenn der Flugabwehrraketen und so einen Scheiß hat. Wisst ihr, solche, wie die arabischen Brüder hinten auf die Ladeflächen von ihren Lastern bauen.«
Jonah und ich schüttelten die Köpfe und verdrehten die Augen.
Wir bogen in einen schmalen Weg hinter einer Reihe von kleinen Häusern ein. Die Hinterhöfe waren kaum größer als Hobbithöhlen. Überall hingen Schilder mit »Achtung bissiger Hund« an den Toren, obwohl ich wusste, dass viele gar keine Hunde hatten.
»Keine Ahnung, wie’s euch geht, aber auf mich warten ein paar fette Würstchen, Speck, Bohnen und gebratene Tomate«, sagte McKay. »Das muss ich mal eben schnell mit Mango- und Ananassaft runterspülen. Also gehabt euch wohl und lasst euch nicht abstechen.«
McKay joggte davon, während Jonah und ich um die nächste Ecke bogen. Rumms! Fast wären wir gegen Manjaro gedonnert. Mein Rückgrat erstarrte zum Eiszapfen. Mit dem Rücken zur Wand stand er da. Alleine. Eine Sekunde lang dachte ich, er wäre uns gefolgt. Nee, aber wieso sollte er mir nachlaufen? Er trug ein schwarzes T-Shirt und schwarze Schweißbänder an den Handgelenken. Die Morgensonne glänzte auf seinem rasierten Schädel. Er schaute in den Himmel, als würde er sich eine böse alttestamentarische Rache ausdenken. Ich sah Jonah an, und einen Augenblick lang war er starr vor Angst, dann machte er kehrt und rannte los, als hätte er gerade erfahren, dass einer aus der Siebten sein Lieblings-PS3-Spiel konfisziert hatte.
»Wieso haut dein Bro ständig ab?«, wollte Manjaro “wissen. »Ich tu ihm doch nichts.«
»Der ist ein bisschen nervös«, sagte ich.
»Verständlich.« Manjaro nickte. Er richtete den Blick nach Osten, dann nach Westen, misstrauisch gegenüber jedem, der ihn zur Kenntnis nahm. Ich spürte mein Herz in meiner Kehle poltern. »Ich hab dich im Wareika Way gesehen.«
»Wir … wir haben gehört, was passiert ist«, brachte ich heraus.
»Nightlife … das war ein loyaler Bruder«, sagte Manjaro. Seine Stimme war schwer vor lauter Trauer. Sein Tonfall überraschte mich. »Wenn ein Bruder in der Scheiße gesessen hat, war er immer der Erste, der angerannt kam, um zu helfen, hast du kapiert? Der hat nicht gezögert, Renegaten an die Wand zu drücken.«
»Rene … was? Klar, kapiert… tut mir leid, du weißt schon, tut mir echt leid.«
»Das weiß ich zu schätzen, Kleiner, ja wirklich. Ich werde mich um seine Familie kümmern, weißt du, denen was spenden. Die brauchen es, sein Dad hat sich schon lange verpisst. Keine Ahnung, wieso er die einfach hat sitzen lassen.« Pause. »Ich will, dass du mir einen Gefallen tust.«
»Ich?«
Ich hoffte, dass es was Leichtes sein würde, wie zum Beispiel Eis aus dem Laden holen. Aber irgendwie wusste ich schon, dass es das nicht war.
»Ja, du«, sagte er. »Ich hab das Gefühl, ich kann dir vertrauen. Du bist ehrlich.«
Ich stellte mir Elaine und Mum vor, wie sie mich beschimpften, aber schließlich konnte ich meine eigenen Entscheidungen treffen, oder? Außerdem war egal, was ich machte, die beiden hassten mich sowieso.
»Was soll ich machen?«, platzte es aus mir heraus.
»Bloß wo hingehen und was abholen«, erwiderte Manjaro. »Kein großes Ding, aber wenn du mir den Gefallen tust, spende ich dir was.«
Ich fragte mich, wie viel das sein würde. Wenn ich noch öfter was für Manjaro erledigen könnte, wäre vielleicht außer den neuen Sneakern auch noch ein neues Adidas-Trikot drin. Gar nicht so schlecht, oder? Nur eine kleine Besorgung, dann konnte ich mir neue Klamotten kaufen. Vielleicht würde Venetia mich dann endlich mal zur Kenntnis nehmen. »Ist es weit?«
»Nein, ungefähr zwanzig Minuten zu Fuß hinter den alten Fabriken. Nicht weit von Crong Village.«
»Und soll ich heute da hin?«
»Nein, nicht heute. Heute trauern wir um Nightlife und in den nächsten Tagen auch noch. Gib mir deine Handynummer, dann bekommst du einen Anruf, wenn das Ding abgeholt werden muss.«
Muss ich wirklich meine Nummer rausrücken? Und wenn er mich zu Hause anruft, wenn Elaine da ist? Von jetzt an stell ich mein Handy lieber auf lautlos.
»Was ist es denn?«, wollte ich wissen.
»Kein großes Ding«, sagte Manjaro schulterzuckend. »Ich würd’s selbst holen, aber sobald ich das Viertel hier verlasse, hab ich die Bullen an den Fersen. Du weißt doch, wie das ist, wenn die einen anhalten und durchsuchen, die ganze Scheiße, hast du kapiert? Jetzt wo Nightlife tot ist, wird’s noch schlimmer – der wusste, was es bedeutet, ein wahrer Bruder zu sein. Ich will mich nicht mit den Bullen anlegen, solange ich um Nightlife trauere.«
»Kann ich verstehen«, erwiderte ich.
»Und du hast doch noch nie Ärger mit den Bullen gehabt, oder? Wenn du was rumschleppst, dann doch meistens deine Schultasche und deine Zeichnungen, oder?«
»Ich und Ärger? Meine Mum würde mir so die Ohren lang ziehen, das würdest du noch am anderen Ende von Crongton hören.«
Manjaro grinste, aber kurz danach war sein Gesicht wieder wie Beton.
Ich gab Manjaro meine Nummer. Ich fand’s komisch, dass er sie sich aufschrieb und nicht in sein Telefon einspeicherte.
»Du hörst von uns«, sagte er.
»Okay«, sagte ich.
Dann schob er sich die Hände in die Taschen und verzog sich. Ich sah ihm nach, bis er um eine Ecke bog, und fragte mich, ob es richtig gewesen war, ihm meine Nummer zu geben. Gar kein Ding, fand ich. Wahrscheinlich soll ich ein paar Sneaker oder so was bei einer Freundin abholen – McKay schätzt, Manjaro hat in ganz Crongton an die sechs Ladys verteilt. Wahrscheinlich war das auch der Grund, weshalb meine Schwester ihn abgesägt hatte.