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2 AN DER HEIMATFRONT

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ICH DREHTE DEN SCHLÜSSEL IN DER WOHNÜNGSTÜR und trat ein. Gran war am Kochen. Elaine versuchte Jerome irgendwas aus einem Gläschen zu füttern, aber mein Neffe wollte nichts davon wissen. Er brüllte das ganze Haus zusammen. Hätte ich schlucken müssen, was Jerome vorgesetzt bekam, hätte ich auch Zeter und Mordio geschrien.

»Du wolltest einfach an mir vorbeispazieren«, erwischte Gran mich im Flur. »Komm her, Lemar! Lass dich anschauen.«

Ich ging zu Gran, linste in den Topf und sah die Bolognese friedlich vor sich hin blubbern. Auch die Spaghetti warteten schon darauf, in einem anderen Topf gekocht zu werden. Gran umarmte mich, als würde es Glück bringen – ihre Unterarme waren so dick wie die Zweiliterflaschen Coke, die Mum immer kaufte. Sie drückte mir einen dicken Kuss auf die Stirn und umarmte mich gleich noch mal. »Spazier nicht an mir vorbei, als würdest du mich nicht kennen!«, ermahnte sie mich.

Ich vermied es möglichst, mich mit Gran auf der Straße blicken zu lassen, weil sie echt peinlich sein konnte.

Nachdem ich Elaine kurz ein Hallo zugenickt hatte, ging ich in mein Zimmer, meinen Skizzenblock holen. Anschließend kehrte ich mit Bleistiften und Block in die Küche zurück. »Also, Gran, bist du bereit?«

»Siehst du nicht, dass ich am Kochen bin? Wenn wir gegessen haben, setz ich mich für dich hin. Aber jetzt verschwinde und mach deine anderen Hausaufgaben.«

»Und lass sie mich sehen, wenn du fertig bist«, setzte Elaine hinzu.

Jerome machte immer noch einen Riesenkrawall und verweigerte sein Essen.

In unserer Wohnung gab’s drei Zimmer, außerdem ein Wohnzimmer. Eins für Gran, eins für Elaine und Jerome und das kleinste war meins. Mum schlief unter der Woche auf dem Sofa, aber am Wochenende tauschte sie mit Gran. Elaine und Jerome warteten auf eine Sozialwohnung, eine Million Leute vom Wohnungs- und Sozialamt waren schon vorbeigekommen. Inzwischen war Jerome schon elf Monate alt und die beiden hatten immer noch keine eigene Bleibe.

Als ich in mein Zimmer kam, warf ich meinen Rucksack aufs Bett und überlegte, ob ich meine Mathe-Hausaufgaben machen sollte. Mum hatte mir einen kleinen Tisch in die Ecke gestellt und einen gebrauchten Drehstuhl dazu, den sie von der Arbeit mit nach Hause geschleppt hatte. Ich setzte mich auf den Stuhl, schlug mein Mathebuch auf und sah die ganzen Fragen, die alle irgendwas mit Kreisen, Radius und einem gewissen Pi zu tun hatten. Ich wurde nicht schlau draus, also klappte ich das Buch wieder zu und legte mich aufs Ohr.

Eine Stunde später gab’s Essen. Am Tisch saßen nur Gran und ich. Mum war noch nicht von der Arbeit zurück und Elaine brachte Jerome gerade ins Bett.

»Hast du heute mit dem Mädchen geredet, in das du dich verguckt hast?«, wollte Gran augenzwinkernd wissen. Ihre Augen waren karamellfarben mit unzähligen kleinen Muttermalen drum herum – die würde ich auch zeichnen müssen.

Noch bevor ich antworten konnte, hörten wir den Schlüssel in der Wohnungstür. Mum kam rein, wirkte müde und geistesabwesend. Sie stellte ein paar Tüten in die Küche, drückte Gran ein Küsschen auf die Wange, wuschelte mir durchs Haar und holte sich eine Dose Bier aus dem Kühlschrank.

»Hi, Mum«, sagte ich. »Guter Tag auf der Arbeit?«

»Nicht wirklich. Diese scheiß Kunden sind manchmal so dreist.«

»Was haben sie denn heute wieder gemacht?«

»Jetzt nicht, Lemar«, erwiderte Mum. »Ich kann mich nicht zum Essen hinsetzen. Im Wohnzimmer steht ein Sack schmutzige Wäsche, und die wird sich nicht von alleine waschen. Hast du die Leute wegen der Waschmaschine angerufen, Mum?«

Gran starrte ihr Essen an, drehte ein paar Spaghetti auf die Gabel und schob sie sich in den Mund. Erst als sie den Mund voll hatte, antwortete sie. »Das hast du mir gestern Abend ganz spät gesagt, Yvonne«, erklärte Gran. »Ich hab schon halb geschlafen! Tut mir leid … ich hab’s vergessen.«

»Mum! Ich brauche eine funktionierende Waschmaschine. Die Trommel ist verzogen. Ruf wenigstens jetzt da an. Ich muss in den Waschsalon.«

»Soll ich helfen, Mum?«, bot ich an.

»Hast du keine Hausaufgaben?«

»Doch, aber …«

»Mach deine Hausaufgaben, Lemar!«

Anderthalb Stunden später zeichnete ich Gran im Wohnzimmer. Andauernd machte sie’s mir schwer, indem sie lächelte oder den Kopf drehte. Ich hatte gerade so den Umriss ihres Gesichts, dann fing ich mit den Augen an. Ihr Doppelkinn richtig hinzubekommen war schwer, auf ihrer Stirn fuhren zwei tiefe Falten Achterbahn. Ich vermutete, dass Gran Ende sechzig war, aber sie hat mir ihr Alter nie verraten. Einmal hatte Mum mich gebeten, sie lieber nicht danach zu fragen. Inzwischen hatte Elaine es endlich geschafft, Jerome zum Schlafen zu bringen, und jetzt sah sie irgendeinen Musiksender im Fernsehen.

»Du hast meine Frage nicht beantwortet«, sagte Gran. »Hast du mit dem Mädchen gesprochen, das es dir angetan hat?«

Meine Festplatte suchte nach einer Entgegnung, während mein Gesicht aufheizte, als wär’s an den Wasserkocher angeschlossen. Meine Schwester antwortete für mich. »Venetia heißt die, die ihm gefällt«, verriet sie. »Lemar hat größere Chancen, X Factor zu gewinnen, als an sie ranzukommen. Alle aus dem Jahrgang und sogar die aus der Zehnten fahren auf sie ab. Ich kenne sogar ein paar Mädchen, die auf sie stehen.«

»Venetia ist es nicht«, protestierte ich. »Was weißt du denn? Du gehst nicht mal mehr auf meine Schule.«

»Ich hab immer noch Freundinnen da«, widersprach Elaine.

»Das reicht«, sagte Gran.

In dem Moment hörten wir die Wohnungstür. Mum kam mit zwei Riesenladungen Wäsche rein. Ich rannte los, um ihr zu helfen, hängte die Sachen auf den Ständer im Bad. Als ich ins Wohnzimmer zurückkam, war Gran aufgestanden, um sich einen Kaffee zu machen.

»Gran!«

»Bin gleich wieder da, Lemar. Nur die Ruhe.«

Ich nahm meinen Skizzenblock, Mum sah mein viertelfertiges Porträt von Gran. »Das ist echt gut«, meinte sie. »Weiter so.«

»Aber Mathe hat er noch nicht gemacht«, warf Elaine ein.

»Mach ich später, Mum.«

Mum nickte immer noch, würdigte mein Kunstwerk. Das war schön. Mum nahm sich sonst fast nie Zeit für meinen Schulkram. »Mum, gehst du am Wochenende mit mir zum Friseur?«

Sie stemmte die Hände in die Hüften und schenkte mir einen ihrer Blicke. Dann zeigte sie mit dem rechten Zeigefinger auf mich. »Lemar, du weißt, dass die Waschmaschine kaputt ist. Hast du eine Ahnung, was es kostet, wenn wir eine neue Trommel brauchen? Die vom Kabelfernsehen rufen mich jetzt schon auf der Arbeit an und beschweren sich, weil ich die Rechnung nicht bezahlt habe, die vom Bestelkatalog hab ich auch jeden Tag am Handy, und jetzt willst du verdammt noch mal zum Friseur!«

»Er will einen Iro, Mum«, schaltete Elaine sich ein. »Bei den Jungs in seinem Alter ist das der letzte Schrei.«

»Der letzte Schrei muss warten«, sagte Mum. »Sonst sorg ich dafür, dass Lemar zum letzten Mal schreit!«

Mum dampfte in die Küche ab, machte sich ihr Essen in der Mikrowelle heiß. Gran kam mit ihrem Kaffee wieder rein, und ich arbeitete zwanzig Minuten lang weiter an dem Porträt, bis Gran müde wurde und sich hinlegen wollte.

Am Abend ging ich mit dem Gefühl ins Bett, betrogen worden zu sein. Ich hab Elaine nicht gesagt, dass sie ein Baby kriegen soll, dachte ich.Ist nicht meine Schuld, dass Gran bei uns wohnt, und auch nicht, dass Mum den Leuten vom Bestellkatalog Geld schuldet; das meiste, was sie bestellt hat, waren Buggys und so ein Zeug für Jerome. Und jetzt hat sie nicht mal zehn Pfund für mich, damit ich mir die Haare schneiden lassen kann. Was sind schon zehn Pfund? Morgen muss ich in die Schule, und am Tag danach auch, und Jonah und McKay werden mich bis zum Umfallen wegen meiner scheiß Haare verarschen.

Liccle Bit. Der Kleine aus Crongton

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