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5 MUTTERLIEBE

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BEVOR WIR DIE POLIZEIWACHE VERLIESSEN, fragte mich die Polizistin: »Maureen, bist du sicher, dass du das Aussageprotokoll nicht doch schon unterschreiben möchtest?«

Das Wort »Aussageprotokoll« schockte mich. Ich stellte mir Leute mit Professor-Snape-Umhängen und weißen Perücken vor und schüttelte den Kopf. »Ich … ich komm morgen wieder. Oder vielleicht Ende der Woche.«

»Bitte mach das«, sagte die Polizistin. Sie rang sich ein mitfühlendes Lächeln ab, aber ich konnte die Enttäuschung in ihren Augen sehen.

Im Streifenwagen bat ich darum, zwei Ecken von meinem Wohnblock entfernt rausgelassen zu werden. Elaine stieg mit mir aus. Heiliger Bimbam! Sam würde niemals glauben, dass ich in einem Polizeiwagen mitgefahren war.

»Soll ich mit dir rauf?«, bot Elaine an.

Ich schaute auf meinem Handy nach der Uhrzeit. »Schon nach neun«, sagte ich. »Steht deine Mum nicht auf dem Balkon und schimpft?«

»Bestimmt, aber ich würde gerne wissen, ob bei dir alles in Ordnung ist.«

»Schon gut, Elaine. Wenn er was versucht, bist du die Erste, die ich anrufe.«

Elaine umarmte mich lange. »Pass auf dich auf, Mo, und wenn das fette Arschloch dich auch nur schief anguckt, kommst du ganz schnell zu mir. Versprochen?«

»Versprochen.«

Ich verzog mich zum Haus. Elaine blieb stehen und sah mir nach, bis ich drin war. Müdigkeit überfiel mich, als ich die Treppe hochstieg. Mit jedem Schritt fühlte ich mich schwerer. Einen Augenblick blieb ich bei Sam vor der Tür stehen. Ich hätte ihm gerne von meinem Tag erzählt. Wollte sein Gesicht sehen, seinen Half-Fro und die Cornrows auf der anderen Seite. Sein Lächeln. Aber jetzt war er mit ihr zusammen. Vielleicht verknoteten sie schon ihre Zungen auf dem Sofa. Ich glaube kaum, dass Shevray Nein sagen würde, wenn Sam ihre Brust betatschen und die Finger gen Süden wandern ließ.

Ich versuchte das Bild der beiden zusammen aus meinen Gedanken zu löschen, rannte die Treppe rauf und betrat die Wohnung. Sofort schlug mir der Geruch von Putzmittel und Lavendel entgegen. In der Küche plärrte das Radio »Chiquitita« von Abba. Ich ging hin und fand Mum mit Kopftuch und gelben Gummihandschuhen auf den Knien vor dem Backofen. Eine Schüssel Seifenwasser daneben. Ich stellte das Radio leiser.

»Mum!«

Sie drehte sich um und lächelte, hatte Schmutz am Kinn.

»Ahhh! Meine Kleine ist zu Hause. Wo warst du?«

»Im Kino.«

»Mit Elaine?«, fragte sie.

»Ja.«

»So ein nettes Mädchen – gute Familie. Hab neulich ihre Mum im Supermarkt getroffen – die hat’s immer eilig – ich hab Hi gesagt, aber sie ist ab wie eine Rakete – war wohl auf dem Weg zur Arbeit.«

Ich schaute auf die Pfütze an ihren Füßen.

»Mum es ist fast zehn Uhr – wieso putzt du um die Uhrzeit noch den Backofen?«

Sie stand auf und zog ihre Gummihandschuhe ab. Trocknete sich die Unterarme mit einem Geschirrtuch und zündete sich eine Zigarette an. »Hier sah’s aus wie im Schweinestall«, sagte sie. »Also hab ich sauber gemacht – hast du mir das nicht immer wieder gesagt? Dass ich mal putzen soll?«

»Rauch nicht so nah am Ofen«, sagte ich. »Wo ist Lloyd?«

Sie ignorierte meine Warnung, zog fest an ihrem Krebslolli.

»Er fand es am besten, wenn … er meinte, am besten sollten du und ich mal was Schönes zusammen machen, weißt du? Einen Mutter-Tochter-Abend, nur wir beide. Es tut ihm echt leid, weißt du, wegen heute Morgen und auch am Wochenende. Er gibt sich wirklich große Mühe mit dir.«

»Er hat gemeint, das wär das Beste, Mum?«, wiederholte ich. »Er hat das vorgeschlagen?«

»Wieso, was meinst du denn, Schatz?«

»Was hältst du denn für das Beste, Mum?«

Sie sah mich böse an und wedelte den Rauch ihrer Zigarette weg. Dann drehte sie mir den Rücken zu und wusch ein paar Sachen in der Spüle ab. »Ich geb mir auch Mühe, Mo. Ich hab mich heute krankgemeldet und auf dich gewartet. Ich wollte dir die Haare waschen und flechten, weißt du, so wie Elaine sie hat. Ich hab dir deine Lieblingsschokomousse gekauft – steht im Kühlschrank.«

Sie ging zum Kühlschrank, machte ihn auf und griff rein. Hielt mir den Pudding hin. Ich nahm ihn nicht. Sie stellte ihn wieder rein.

»Mum … wir müssen reden.«

»Worüber denn, Schatz?«

»Lloyd.«

»Ich hab dir doch gesagt, was am Sonntag passiert ist, tut ihm leid. Um sechs hat er angerufen und gefragt, wie’s dir geht.«

»Wieso sagt er mir nicht selbst, dass es ihm leidtut?«

»Das wird er, Mo. Wenn ihr euch das nächste Mal seht. Er will nur, dass wir ein bisschen Zeit zusammen haben. So fürsorglich ist er.«

»Fürsorglich? Wieso wolltest du denn nicht mal ein bisschen Zeit mit mir verbringen, Mum? Heute Morgen konntest du’s nicht abwarten, bis ich endlich aus der Wohnung verschwinde.«

Mum drehte mir wieder den Rücken zu und wusch sich die Hände in der Spüle. Ich setzte mich an den Küchentisch und konnte nicht anders, als Mums Putzresultate zu bewundern – sogar die Spinnwebe an der Decke in der Ecke war weg.

»Wenn du willst«, sagte sie, »kann ich dir immer noch die Haare waschen. Ich hab Conditioner gekauft.«

»Ich kann mir selbst die Haare waschen, Mum – ich bin kein Kind mehr.«

»Wir wollten am Freitag mit dir essen gehen. Wie findest du die Cheesecake Lounge?«

Sie klang immer verzweifelter – wie ein Händler vom Markt in Crongton, der angeschlagene Äpfel verkaufen will.

»Wir?«, wiederholte ich. »Mit dem gehe ich nirgendwohin. Nicht mal hier im Haus durchs Treppenhaus oder in denselben Park zum Chillen.«

Sie drehte das Wasser ab und blieb eine Zeitlang still stehen, starrte aus dem Fenster – abgesehen von dem Nachbarblock gab’s nicht viel zu sehen. Dann schnappte sie sich das Geschirrhandtuch und trocknete sich die Hände ab. Schließlich drehte sie sich zu mir um. »Den Job hat er nicht bekommen, um den er sich heute beworben hat. Er gibt sich so viel Mühe, aber immer kreiden sie ihm seine Vorstrafen an.«

»Bu-hu, ich heul gleich. Wenn du Geige spielst, pack ich meine Harfe aus.«

»Pass auf, was du sagst, Mo. Ich kann dir auch eine knallen, dann vergeht dir dein Sarkasmus. Ich bin trotz allem deine Mutter!«

»Mutter? Wie kommst du denn da drauf?«

Eine kurze Sekunde lang fixierte sie mich mit einem brutalen Blick. Dann zwang sie sich zu lächeln, zog wieder die Gummihandschuhe über und zündete sich mit Fingern so gelb wie die Simpsons noch eine Zigarette an. Irgendwann würde ich was wegen ihrer Raucherei unternehmen müssen, aber nicht jetzt.

»Wie gesagt, was passiert ist, tut ihm sehr leid«, sagte sie. »Er will, dass ihr miteinander klarkommt. Willst du das nicht auch, Mo? Wäre doch besser für alle.«

»Ist schwer, mit jemandem klarzukommen, der einen schlägt«, fauchte ich. Ich konnte mir meinen Sarkasmus nicht verkneifen, aber wenn es ihr ernsthaft leidtat, würde sie ihm verbieten, seinen fetten Arsch jemals wieder über unsere Schwelle zu schieben. Wieso merkte sie nicht, dass der Typ mit jedem Atemzug Großalarm auslöste? Er konnte von Glück sagen, dass ich meine Aussage bei den Bullen noch nicht unterschrieben hatte. Und das hatte ich nur deshalb nicht getan, weil ich ihr die Peinlichkeit ersparen wollte. Wenn er auch nur einen Fingernagel an mich legte, schwor ich, würde ich zu den Bullen gehen und die Klappe aufreißen wie Beyoncé beim Super Bowl.

Jetzt sah ich das schlechte Gewissen in ihrem Blick. Sie warf die Zigarette in die Spüle, ging wieder auf die Knie und putzte weiter den Ofen.

»Lloyd ist das einzige bisschen Glück, das ich seit sehr sehr langer Zeit mal wieder habe«, sagte sie nach einer Weile. »Mir hat niemand mehr so was wie Liebe entgegengebracht seit … na ja. Ich war mit ein paar echten Arschlöchern zusammen.«

Da hatte sie nicht unrecht.

»Du kannst was Besseres finden als Lloyd, Mum.«

»Ich möchte, dass wir eine Familie werden«, sagte sie. »Lloyd hat einen kleinen Jungen – er ist vier. Jason heißt er. Wenn du willst, kannst du ihn kennenlernen.«

Ich antwortete nicht.

»Babes, was meinst du? Willst du Jason kennenlernen? Der hat richtig viel Energie, ist wahnsinnig süß und echt clever – kann schon seinen Namen schreiben. Willst du sehen, was der für hohe Bauklotztürme bauen kann!«

Ist das nicht schön für den süßen kleinen Jason? Verdammt noch mal Hurra! Wahrscheinlich ein total verwöhntes Balg. Und ich soll dann demnächst babysitten, wenn die beiden vögeln und die Matratze dauertesten.

»Er würde dich sehr gerne kennenlernen – du könntest seine große Schwester sein! Lloyd ist ganz vernarrt in ihn und ich auch, wenn ich ihn mal sehe.«

»Haut Lloyd ihm auch eine runter, sodass er aus dem Bett fliegt?«, blaffte ich.

Sie nuschelte leise was vor sich hin, das ich nicht ganz verstand, und putzte immer energischer, als wollte sie die schlechte Stimmung wegschrubben. Ich wusste, dass sie darunter litt, aber sie zog Lloyd immer wieder vor. Ich stand auf und ging in mein Zimmer, ließ sie weiter den schwarzen Ofen putzen und mich verfluchen.

Ich warf mich auf mein Bett. Mum drehte die Lautstärke des Radios wieder hoch. Lionel Richie sang »Hello«. Erneut hatte ich ganz gewaltig das Bedürfnis, mit Sam zu sprechen, unterdrückte es aber. Stattdessen stand ich auf, trat meine Tür zu und holte mein Lieblingsfotoalbum aus dem Kleiderschrank. O Gott! Wann hatte ich mir das letzte Mal was Neues gekauft? Ich schlug die erste Seite auf. Mum und ich am Strand in Bournemouth. Da musste ich fünf oder sechs gewesen sein. Ich trug ein rosa Trägerhemd, weiße Shorts, die mir zu lang waren, und Flipflops. Und baute Sandburgen. Sie stand im Hintergrund, versank im feuchten Sand, hinter ihr brauste das Meer, sie hatte einen Strohhut auf dem Kopf und eine Zigarette im Mund. Sie lachte. Keine Ahnung, wer das Bild aufgenommen hatte.

Wer braucht ein Herz, wenn es gebrochen werden kann

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