Читать книгу Wer braucht ein Herz, wenn es gebrochen werden kann - Alex Wheatle - Страница 11
6 NAOMIS (UN–) HEIMLICHER VEREHRER
ОглавлениеAM NÄCHSTEN MORGEN REDETE MUM nicht mit mir. Sie versuchte es nicht mal. Als ich aufgestanden war und mich angezogen hatte, ging ich in ihr Zimmer. Tabakgestank stieg mir in die Nase.
»Mum.« Ich stieß sie an. »Mum!« Keine Regung. Ich wusste, dass sie nur so tat, als würde sie schlafen. Egal. Dann würde ich sie eben die beleidigte Leberwurst spielen lassen.
Ich ging in die Küche. Die Schüssel mit dem Wasser und der Kratzschwamm vom Vorabend lagen noch auf dem Boden. Die Cornflakes-Packung war leer und der Brotkasten genauso. In der Keksdose fand ich nur noch Krümel. Keine Eier im Kühlschrank. Ich beschloss, die Schokomousse zu frühstücken. Verdammt, war die gut. Hinterher trank ich Wasser. Im Bad musste ich meine ganze Kraft aufbieten, um noch was aus der Zahnpasta rauszukriegen, damit ich mir meine Backenzähne schrubben konnte. Ich starrte mich im Spiegel an. Shevray war hübscher als ich – und verfügte ganz eindeutig über die dickeren Titten und die geschmeidigeren Oberschenkel.
Ich ging in die Schule. Wieder machte ich kurz vor Sams Tür halt, überlegte es mir aber auch dieses Mal anders.
Ausnahmsweise kam ich nicht zu spät, aber Mr Holman entdeckte mich trotzdem, als ich an der Anmeldung vorbeiflitzte. Er lächelte mich an, weshalb ich es unhöflich gefunden hätte, einfach davonzuflutschen, und kam auf mich zu.
»Maureen«, sagte er. »Freut mich, dass du heute pünktlich bist.«
»Soll das witzig sein? Lassen Sie’s lieber, steht Ihnen nicht.«
»Ich wollte dich nur informieren.«
»Worüber? Beeilen Sie sich, ich hab IT.«
»Die Schule hat entschieden, einen Therapeuten einzustellen.«
»Und?«
»Wir Lehrer sind nicht dafür ausgebildet, uns der Probleme anzunehmen, mit denen die Schüler teilweise zu kämpfen haben. Ende der Woche geht ein Rundschreiben raus.«
»Denken Sie, ich bräuchte einen Therapeuten?«
»Das… das hab ich nicht gesagt.«
Holman wirkte nervös, sah aus wie irre. Ich ließ ihn weiter Läuse fangen und verzog mich in die erste Stunde.
In Anbetracht meines Dramas, musste ich mich echt für meine Leistungen in der Schule loben. Mein Französisch wurde immer besser – Mon Français est tres bon! – und Elaine und ich halfen uns gegenseitig bei den IT-Aufgaben.
Mum hatte mir fünf SMS geschickt, um mir zu sagen, dass ich nach der Schule direkt nach Hause kommen sollte, aber ich ignorierte sie – wenn sie auf beleidigt machen und mich anschweigen konnte, dann konnte ich den Spieß auch umdrehen.
Elaine musste online was für Englisch nachgucken, also gingen Naomi und ich mit ihr in die South Crong Bibliothek. Im Foyer hingen lauter Plakate mit RETTET UNSERE BIBLIOTHEK. Flyer lagen auf dem ganzen Tresen verstreut. Wir ließen uns als Online-Nutzer registrieren und begegneten Linval Thompson auf dem Weg in den Computerraum. Ich hatte ihn schon öfter mit seinem Angebergang voll eingebildet durch die Gegend schleichen, Wodka trinken und Joints rauchen sehen. Früher war er auf unserer Schule gewesen. Echt komisch, ihn jetzt hier mit einem Buch zu sehen. Einem für Unternehmensgründer.
»Naomi!«, rief er. »Wieso hast du mich nicht angerufen? Hörst du deine Mailbox nicht ab? Hab auf deinen Anruf gewartet!«
Linval trug eine teure Marken-Trainingshose, Marken-Sneaker und eine riesige Daunenjacke, die sämtlichen Titanic-Passagieren als Rettungsboot hätte dienen können. Ein blaues Tuch bedeckte die Hälfte seines kahlen Schädels.
Naomi wurde rot, während Elaine die Arme verschränkte und abfällig die Oberlippe hochzog. »Sie hat kein Interesse«, erklärte Elaine. »Du kannst dich also verziehen und deinen Körpergeruch in einem anderen Postleitzahlenbezirk verbreiten – wir müssen lernen.«
»Elaine, was hab ich dir eigentlich getan, dass du mir ständig die Tour vermasseln musst?«, fragte er.
»Die Frage ist eher, mit wem du sonst abhängst«, entgegnete Elaine.
Ich konnte nicht anders als kichern, und Naomi fiel ein. Linval machte jetzt eine ernste Miene.
»Wieso muss du ständig die Brüder dissen, mit denen ich rumziehe?«, wollte er wissen. »Das ist meine Familie. Die halten zu mir. Weißt du, dass neulich einer von meinen Kumpels abgestochen wurde?«
»Hab’s gehört«, sagte Elaine. »Ist tragisch, aber ich disse die Brüder, mit denen du rumziehst, weil sie garantiert dealen, andere einschüchtern und alle möglichen krummen Touren durchziehen. Wenn du bei dem Spiel mitmachst, wird’s böse enden.«
Ich merkte, wie Linval allmählich die Hutschnur platzte. »Irgendwann schlag ich dir noch mal deine dreiste Klappe aus der Fresse!«, drohte er.
»Dann schlagt ihr also außerdem auch noch Mädchen, du und deine Crew?«, erwiderte Elaine. »Wollt ihr einen Orden dafür?«
»Elaine! Elaine!«, schaltete sich Naomi ein. »Schon okay.«
Elaine unterstrich ein letztes Mal ihre Abneigung gegenüber Linval, indem sie noch einmal abfällig die Oberlippe hochzog.
»Wie du siehst, bin ich noch auf der Schule«, sagte Naomi und zeigte auf ihren Blazer. »Glaubst du’s mir jetzt? Wie alt bist du? Zwanzig? Zweiundzwanzig? Du bist zu alt für …«
»Neunzehn«, fiel Linval ihr ins Wort. »Johnny Depp ist mit einer zusammen, die fünfundzwanzig Jahre jünger ist, also alles wunderbar in Ordnung mit uns – wir könnten lässig Arm in Arm auf der Straße …«
»Aber du wirst niemals die Tore der Schokoladenfabrik für uns öffnen«, lachte ich. »Oder mit Geistern durch die Karibik segeln.«
Ich konnte mir die paar Scherze nicht verkneifen, um die Anspannung ein bisschen zu lösen, aber Elaine und Linval standen nicht auf die Einmischung.
»Naomi!«, flehte Linval. »Vergiss deine spielverderberischen Schwestern. Wir können noch mal von vorne anfangen, ins Kino gehen, zum Bowling, dann ein Strawberry Delight in der Cheesecake Lounge und auf die Rollschuhbahn in Ashburton – kannst du fahren? Was meinst du, Naomi? Egal, was du willst, ich tauche korrekt und ordentlich auf und bin ein perfekter Gentleman. Anständig bis zum Anschlag!«
Elaine entfuhr ein Lachen.
Linval ignorierte uns. »Hast du am Samstag schon was vor?«, fragte er.
»Sie geht shoppen«, sagte ich.
»Und braucht keinen Begleiter«, setzte Elaine hinzu.
Linval griff in die Tasche seiner Daunenjacke und zog ein Bündel Geldscheine heraus, die von einer goldenen Klammer zusammengehalten wurden. Naomi bekam ganz große Augen. Elaine schüttelte den Kopf, während ich versuchte, das Geld zu zählen. Er musste ungefähr dreihundert Pfund in der Hand halten.
Linval grinste. »Komm mit mir shoppen. Wir gehen in die ganzen Designerläden in Ashburton. Ich kauf dir ein paar Klamotten, und danach gehen wir in den Steak Palace und ziehen uns ein paar durchgebratene Buffalo Ribs mit Fritten rein. Was sagst du, Naomi? Wir fahren mit dem Taxi hin und zurück – willst ja nicht mit deinen teuren Tüten in einen dreckigen Bus steigen!«
Naomi stierte immer noch die Scheine an. »Viel … vielleicht ein anderes Mal«, sagte sie. »Aber ich geh lieber alleine oder mit meinen Schwestern shoppen.«
Elaine wollte weiter. »Komm, Naomi, wir müssen lernen – und die Uhr tickt.«
Linval steckte sein Geld wieder ein. »Ruf mich an«, sagte er zu Naomi. »Wir wären ein gutes Team. Deine Schwestern sind bloß so spröde, weil niemand was von ihnen will. Die sind neidisch.«
»WORAUF?«, explodierte Elaine. Sie drehte sich um, raste zu Linval zurück und hätte ihm beinahe mit dem Zeigefinger ein Auge ausgestochen. »Glaubst du, ich brauche einen Kerl, der mir mein Leben ruiniert und mir vorschreibt, was ich machen soll? Schieb deinen ungehobelten Bauernarsch aus meinem Blickfeld und deine Achseln aus meinem Riechbereich!«
»Du hast sie nicht mehr alle, wenn du denkst, dass ich von einem der Gangster hier aus der Gegend angegraben werden will«, warf ich ein.
Linval lachte spöttisch. Bevor er ging, nahm er einen Zeigefinger und den kleinen ans Ohr. »Ruf mich an, Naomi. Oder schick mir eine SMS, wenn dein Guthaben durchhängt. Ich weiß, du verstehst mich. Lass es uns machen wie Marvin Gaye … Let’s get it on!«
»Wer ist Marvin Gaye?«, fragte ich.
Linval schlang die Arme um seinen Oberkörper und groovte mit geschlossenen Augen. »Let’s get it on. Guck dir das auf YouTube an.«
Naomi und ich lachten laut, aber Elaine bedachte Linval mit einem Blick, der wohl noch seine Vorfahren erschreckt haben musste.
Als wir zum Computerraum gingen, schüttelte Elaine immer noch den Kopf. »Naomi, lass dich von dem bloß nicht überreden, nur weil er mit seiner Kohle angibt.«
»Aber hast du das gesehen?«, meinte Naomi. »Das waren mindestens dreihundert Pfund!«
»Aber wo kriegt er seine Scheine her?«, fragte ich. »Die einzigen Brüder hier in der Gegend mit so einem Budget sind Gangster.«
»Genau!«, nickte Elaine.
Wir setzten uns an die Computer, aber lernen und Hausaufgaben standen jetzt nicht mehr auf unserer Tagesordnung.
»Mir gefällt seine große Klappe«, sagte Naomi. »Ich hab die Nase voll von den Brüdern an der Schule, die immer bloß die Auslegware anglotzen, aber nicht mal den Mund aufkriegen. Zum Beispiel Kingsley Golding aus der Sechsten. Der starrt mich immer bloß an. Super, solider Muskeltyp, aber stiller als ein Mönchsfurz!«
»Du bist keine Auslegware, Naomi«, sagte ich. »Ich will einen Bruder, der mehr in mir sieht als nur das.«
»Und Linval macht bloß Ärger – glaub mir«, sagte Elaine. »Der ist auf dem Gangstertrip.«
»Du übertreibst«, sagte Naomi. »Der kifft bloß, mehr nicht. Und wer raucht hier nicht ab und zu mal einen Joint? Alle. Erst neulich hab ich meine Betreuerin im Auto kiffen sehen, bevor sie zu mir rein ist.«
»Wenn ich deine Betreuerin wäre, bräuchte ich was Stärkeres als einen Joint«, lachte Elaine.
»Das ist nicht witzig!«, meinte Naomi. »Die hat sich in meinen ganzen Privatkram eingemischt. Ob ich meinen Vater sehen will, hat sie gefragt. Scheiße, nein! Der hat mir nichts zu bieten, außer seiner vollgesoffenen, abgebrannten Persönlichkeit.«
»Wenn das mein Vater wäre, würde ich mich nicht länger mit ihm abgeben, als man für einmal warm pissen braucht«, meinte Elaine.
Ich dachte an Lloyd. Ich wollte das Thema wechseln.
»Kann mich mal jemand über diesen Linval aufklären?«, fragte ich. »Mit wem hängt er denn ab? Und was zieht er für Touren ab?«
Elaine und Naomi sahen einander an.
»Elaine!« Ich hob meine Stimme. »Naomi! Hört auf, mich auszuschließen.«
»Schrei nicht so«, sagte Naomi. Sie zog ihren Stuhl näher an meinen und schaute sich über die Schulter. »Der zieht mit Folly Ranking und seiner Crew durch die Gegend – neulich wurde einer von denen draußen vor dem Four Aces in Central Crong abgestochen – ein Bruder namens Marshall Lee.«
»Marshall Lee?«, wiederholte ich. »Nie gehört. Folly Ranking? Bei dem Namen klingelt was – ist das nicht der OG bei uns hier?«
Naomi nickte. Freudig strahlte sie. »Den hab ich mal im Shenk-I-Sheck gesehen«, erklärte sie. »Der hat so riesige weiße Sneaker an und einen Gürtel mit einer Schnalle aus reinem Gold. Und …«
»Sam hat mal was über den gesagt«, fiel ich ein.
»Folly Ranking verteidigt hier die Gegend«, fiel Naomi ein. »Der raubt Brüder aus, die er nicht kennt, und verkauft den Scheiß über die Internetcafés, Schnapsläden und am Ruskin Green, wo die Bezirksverwaltung diese ganzen blauen Trainingsräder aufgestellt hat. Außerdem kassiert er Schutzgeld bei zwei Herrenfriseuren.«
»Wenn der dich anspricht«, sagte Elaine, »guckst du eiskalt weg. Mit einem gefährlichen Bruder wie dem oder Linval willst du nichts trinken gehen.«
Kalte Spucke lief mir die Kehle runter.
Naomi lächelte. »Linval würde mich nicht wie Scheiße behandeln.« Ich war nicht so sicher, ob sie auch an den Bruder dachte, der neulich erst erstochen worden war. Ich hatte das Gefühl, dass Naomi sowieso bereit war, was mit Linval anzufangen, ganz egal, was Elaine noch über ihn auspacken würde.
»Diese Gs sind alle gleich«, sagte Elaine. Glaubst du wirklich, du bist die Einzige, an der er gerade schraubt?«
Naomi dachte drüber nach. »Kann sein… aber er hat Kohle.«
»Nimm die Titten aus seiner Brieftasche«, sagte ich. »Es geht nicht nur um Geld.«
»Doch!«, widersprach Naomi. »Von einem traurigen Collegebruder, der mit Knappheit kämpft und mich gerade mal auf einen extragroßen Milkshake einlädt, will ich nichts. Was sollen wir denn mit unserer Zeit anfangen? Spazieren gehen im Park und trockenes Brot an die Enten verfüttern?«
»Lern ihn kennen«, schlug ich vor. »Find raus, wie er drauf ist. Hilf ihm, seine Träume zu verwirklichen. Halt zu ihm, wenn’s ihm dreckig geht. Seid füreinander da.«
Während Sams Gesicht vor meinem geistigen Auge erschien, starrten Elaine und Naomi mich an, als hätte ich mongolische Lyrik zitiert.
»Ich denke nicht, dass sie seine Priesterin werden möchte«, sagte Elaine.
»Mo«, lachte Naomi. »Wenn mich nicht alles täuscht, bin ich gerade mal fünfzehn – weißt du, das ist das Alter, in dem man angeblich so viel Spaß hat. Ich lass mir doch von keinem langweiligen Bürotypen an die Wäsche gehen, mich vor den Altar zerren und dann dazu verdonnern, seinen schreienden Kindern den Hintern abzuwischen. Auf keinen Fall, Mann!«
»Aber sei vorsichtig«, warf Elaine ein. »Wenn er mit Folly Ranking rumzieht, verfolgt ihn die Gefahr. Denk dran, was Marshall Lee passiert ist.«
»So schlimm sind die nicht«, sagte Naomi. »Was ist schon dabei, wenn die hier und da ein bisschen Ware verticken. Würden sie’s nicht machen, würden’s andere tun. Das wisst ihr doch. Und hier in der Gegend ist es egal, ob du mit einer Crew rumziehst oder ohne, aufs Maul kriegst du sowieso. Vergiss nicht. Ich hab Crumbs verloren. Der war ein echter Bruder für mich. Und überhaupt kein Gangster – nur neugierig.«
Ich entdeckte die Trauer in Naomis Blick. Sie hatte nicht unrecht. Solange ich denken konnte, hatte hier in der Gegend immer jemand gedealt. Einer von Mums Ex-Freunden, Nicodemus, hatte Gras und alles Mögliche bei uns in der Wohnung verkauft. Jeden Abend hockten alle möglichen Leute auf dem wackligen Hocker bei uns in der Küche. Sie gaben Nico ein paar Scheine und kosteten die Ware. Wenn ich mir vor dem Schlafengehen noch einen Kakao machte, war ich high wie Thunderbird Five. Mum hat er Klamotten gekauft, goldene Ringe, Ketten und so ein Dampfreinigerteil. Als ich neun war, ist er mit mir auf den Jahrmarkt in Ashburton Park – sogar da hat er Shit verkauft. Eines Tages ist er verschwunden. Mum haben die Markenklamotten nicht mehr gepasst, und den Goldschmuck hatte sie sowieso längst zum Pfandleiher gebracht. So machte man das in South Crong.
»Lass dich bloß nicht auf den ein«, warnte Elaine und legte Naomi eine Hand auf die Schulter. »Du bist nach Crumbs’ Tod immer noch verletzlich.«
»Elaine hat nicht unrecht«, ergänzte ich.
Wir umarmten uns alle.
»Wollen wir jetzt Hausaufgaben machen?«, fragte ich. »Deshalb sind wir doch hier.«
»Und wenn wir fertig sind, gehen wir ins Shenk-I-Sheck?«, fragte Naomi.
»NEEIIIN!«
Während wir Elaine bei ihren Hausaufgaben halfen, bekam ich zwei weitere SMS von Mum.
MAUREEN, WO BIST DU???
MAUREEN, KOMM NACH HAUSE!!!
O Gott! Die musste stinksauer sein, sonst würde sie mich nicht Maureen nennen. Aber wenn sie denkt, ich ändere meine Meinung noch, was das Weggehen mit Lloyd betrifft, dann hat sie sich getäuscht.
Elaine und ich brachten Naomi nach Hause, und erneut versuchte sie uns den ganzen Weg lang zu überreden, mit ihr auf diese Mission oder jenes Abenteuer zu gehen. Bevor sie im Haus verschwand, sagte sie: »Ich verabrede mich mit Linval. Mal sehen, was der sagt. Ich glaube, der ist trotz der ganzen Angeberei eigentlich voll okay. An seinem Körper sitzt alles genau an der richtigen Stelle. Und witzig ist er auch.«
Elaine wollte was sagen, überlegte es sich aber anders. Stattdessen schüttelte sie den Kopf.
»Lass ihn bloß nicht ran, nur weil er mit Geldscheinen wedelt«, sagte ich.
Naomi grinste. »Meinst du, bei mir gibt’s Fummeln im Sonderangebot?«
»Sei vorsichtig«, sagte Elaine. »Wenn einer von seinen Kumpels abgestochen wurde, kann ihm auch so was blühen… oder sonst wem, der mit ihm durch die Straßen zieht.«
Naomi schenkte uns ein müdes Lächeln. Ich vermutete, dass sie einfach auf Gefahr stand. Wir umarmten uns erneut, dann ging sie rein. Als sie die Tür zugemacht hatte, sagte Elaine: »Bei der werden wir Schutzengel spielen müssen.«
»Glaub ich auch«, stimmte ich ihr zu. »Und auf keinen Fall gehen wir zusammen shoppen.«
»Vielleicht sollten wir aber am Samstag was anderes mit ihr machen – aufpassen, dass sie nichts Krummes versucht?«, schlug Elaine vor.
Ich dachte drüber nach. »Sie muss lernen, dass sie keinen Mist baut, nur weil sie mal alleine ist.«
»Auch ein Argument.« Elaine nickte. »Bist du jetzt bereit?«
»Wozu?«, erwiderte ich.
»Deine Aussage fertig aufnehmen zu lassen und zu unterschreiben, Mo.«
Ich ging los. Elaine holte mich ein. »Genauso wie gestern Abend, ich komm mit.«
Ich antwortete nicht.
»Mo?«
Ich starrte zu Boden.
»Mo!«, drängte Elaine erneut. »Ziehen wir das durch?«
Ich blieb abrupt stehen und schüttelte langsam den Kopf.
»Mo! Bitte sag nicht, dass du das fette Arschloch ungeschoren davonkommen lässt. Der hätte dich ernsthaft verletzen können.«
»Meinst du, mir gefällt das?« Ich hob die Stimme. »Er wird’s nicht wieder tun. Mum hat ihn schwören lassen. Ich will nicht mehr dran denken.«
»Nein! So darf das nicht enden«, widersprach Elaine. »Und wenn ich dich eigenhändig auf die Wache zerren muss, dann mach ich das. Hör mir zu! Du darfst nicht zulassen, dass irgendein Mann mit so einer Scheiße davonkommt…«
»Elaine! Halt die Klappe! Verdammte Scheiße! Wenn du so rumschreist, kann ich nicht denken.«
»Dann kommst du nicht mit?«
»NEEEEINN!«
Stille.
Wir sahen einander böse an.
Nach einer Weile gingen wir weiter.
»Wieso?«, wollte Elaine wissen.
»Ich glaube … ich glaube, Lloyd weiß, dass er einen Riesenfehler gemacht hat«, sagte ich. »Gestern Abend war er nicht da. Mum hat gesagt, es täte ihm leid – sie will, dass ich seinen vierjährigen Sohn kennenlerne. Ich glaube, Mum will eine richtige Familie. Ich hab mir heute noch mal alles durch den Kopf gehen lassen, und vielleicht wäre es das Beste, wenn ich … «
»Mo? Was erzählst du denn da, Sis? Glaub mir, so einem kannst du nicht trauen. Der hat gesessen und du weißt nullkommgarnichts darüber, was er verbrochen hat. Vielleicht hat er seine Ex verprügelt oder einem Rentner im Park sein Ding gezeigt. Ich weine um seinen Sohn, weil er von einem schrägen Hooligan wie dem großgezogen wird.«
»Ich glaube, so was war’s nicht«, sagte ich. »Und wenigstens hat der Junge einen Dad. Ich will nicht diejenige sein, die ihn ihm nimmt.«
»Was ist los mit meinen beiden Schwestern heute? Die eine ist scharf auf einen G aus Folly Rankings Crew, und du willst mit einem Kerl auf glückliche Familie machen, der dich aus deinem eigenen Bett geprügelt hat. Das kannst du nicht bringen!«
»Ich will nicht zu den Bullen gehen«, sagte ich. »Bei denen da drin ist mir schlecht geworden. Ist was ganz anderes, ob ich dir erzähle, was los gewesen ist, oder den Bullen. Hast du mir nicht erzählt, dass sie die Hälfte von den Leuten, die sie festnehmen, erst mal verprügeln? Nicht mal Naomi hab ich’s erzählt.«
Elaine zog mich am Arm und baute sich vor mir auf. Ein paar Sekunden sagte sie nichts, aber als sie dann doch den Mund aufmachte, sprach sie ganz langsam. »Mo, gib ihm nicht noch mal eine Chance. Wenn meine Mum einen Freund hätte, der die Hand gegen mich hebt, würde mein Dad was richtig Schweres und Scharfes aus seiner Werkzeugkiste raussuchen, das kannst du mir glauben.«
Ich schüttelte Elaines Hand ab. »Schön, dass du einen Daddy hast, der dir hilft«, sagte ich. »Meiner ist nicht da. Und kein Mensch weiß, wo der Versager steckt!«
Ich ging weiter. Jetzt schneller. Ich musste die Tränen zurückkämpfen, die mir in den Augen brannten.
Mein Dad dies und mein Dad das! Halt die Fresse mit deinem Dad. Sei froh, dass du überhaupt einen hast!
Ich schaute über meine Schulter. Ich wollte, dass sie zu mir gerannt kam. Dass sie mich einholte und mich noch mal ganz lange in den Arm nahm. Aber sie tat es nicht. Elaine stand immer noch genau da, wo ich sie stehen gelassen hatte. Das fühlte sich schrecklich an. War ja nicht ihre Schuld, dass mein Dad sich verpisst hatte.
»Kommst du zum Essen mit zu mir?«, rief sie. »Gran macht Fisch.«
»Fisch?«, schrie ich zurück. »Elaine, du weißt, dass ich Fisch nicht ausstehen kann. Schon bei dem Geruch dreht sich mir der Magen um.« Ich erinnerte mich an das letzte Mal, als ich mit Naomi in einem Fish-and-Chips-Laden war – anschließend hatte ich alle Abstufungen von Beige über das Schaufenster des Zeitungsladens nebenan gekotzt. »Außerdem hat Mum mir Nachrichten geschickt, die will wissen, wo ich bin.«
»Warte.«
Als Elaine zu mir kam, spürte ich eine Träne im linken Auge. Ich wollte sie nicht wegwischen, das hätte sie gleich gesehen. Dann umarmte sie mich endlich und ich schlang meine Arme um ihren Hals und ließ sie da liegen. Ich roch das Kokosöl in ihren Haaren, und das war in diesem Moment das Tröstlichste auf der ganzen Welt. »Dasselbe wie gestern«, flüsterte sie. »Wenn er dich auch nur schief ansieht, kommst du ganz schnell zu mir. Versprochen?«
»Versprochen.«
»Komm wenigstens noch bis zur Tür mit zu mir«, beharrte Elaine.