Читать книгу Wer braucht ein Herz, wenn es gebrochen werden kann - Alex Wheatle - Страница 9
4 AUF DER WACHE
Оглавление»ALSO, WENN WIR NICHT IM SHENK-I-SHECK chillen gehen, was machen wir dann? Hausaufgaben?«, fragte Naomi. »Ihr beiden seid so traurig wie ein Regentag.«
»Hab ich dich nicht gerade ins Kino geschleust, damit du Tom Cruise sehen kannst?«, fragte Elaine.
Naomi dachte drüber nach. »Trotzdem bist du grau.«
Elaine sprang Naomi an und wir prügelten uns nur so aus Scheiß mitten auf der Straße. Als wir fertig waren, hatte ich blaue Flecken am Handgelenk (Naomi machte immer Brennnesseln bei anderen), Kratzer am Hals und einen tauben Arm. Wir klopften uns den Dreck von den Klamotten, zupften die Haare zurecht und brachten Naomi zurück ins Heim.
Sie wohnte in der Waterhouse Street, in der Nähe vom Wareika Way in einem dreistöckigen Haus mit einem schönen Vorgarten. Wenn ich den ganzen Scheiß mit Mum und ihren Freunden erzählt hätte, würde ich jetzt auch in so einem Heim wohnen. Daran dachte ich oft.
Wir warteten draußen, während Naomi reinging und uns was zu trinken rausholte. Sie kam mit drei Gläsern Orangenlimo wieder raus. »Tut mir leid, dass es nichts Stärkeres ist. Wenn ich in die Küche gehe, beobachten die mich immer wie Drohnen.«
Wir tranken hastig, während Naomi sich, deutlich sichtbar im Blickfeld des Mannes, der uns vom Fenster aus beobachtete, eine Zigarette anzündete. Wir kannten Naomi seit ein paar Monaten, aber sie lud uns nie ein, reinzukommen. Und wir fragten nicht, warum.
»Kneift nicht beim Shoppen am Samstag«, sagte Naomi, bevor sie reinging. »Ich brauch ein paar Tops. Ihr sollt mir auch nur Rückendeckung geben.«
»Ich glaube, Mum hat schon was mit mir vor«, entschuldigte sich Elaine.
»Und ich geh mit dem Staubsauger in der Wohnung spazieren«, sagte ich.
Naomi schüttelte den Kopf und zog abfällig die Oberlippe hoch.
Wir verabschiedeten uns und ich ging mit Elaine zu ihrem Wohnblock. Ich sagte nicht viel, aber sie laberte wie ein Wasserfall darüber, dass sie auf die Schauspielschule wollte, und vorher einer Theatergruppe beitreten würde, um Bühnenerfahrung zu sammeln. Wir machten halt bei Dagthorn’s um Schokolade zu kaufen, und teilten uns eine Tafel. Als wir fast bei ihr waren, blieb sie stehen und starrte mich durchdringend an. »Was ist los, Mo?«
»Was meinst du?«, erwiderte ich.
»Du hast kaum was gesagt, seit wir aus dem Kino raus sind«, sagte sie. »Ich merke doch, wenn du Stress hast. Was ist heute Morgen wirklich passiert?«
»Hab verschlafen.«
»Und auf dem Mond hat ein Schwein eine Ente gepimpert.«
»Ich lüge nicht, Elaine.«
»Tom Cruise wartet oben und will mich zum Essen ausführen. Komm schon, Mo.«
Ich starrte zu Boden.
»Mo!«
Betretene Stille. Ich spürte, wie mich ihr brennender Blick durchbohrte. Schließlich schaute ich auf.
»Ist wegen Mums Freund«, gestand ich.
»Was hat er gemacht?« Wut blitzte in ihren Augen auf. Sie schien genauso sauer auf mich zu sein, weil ich nichts gesagt hatte, wie auf ihn. »Ich will die ganze Geschichte hören«, verlangte Elaine.
Ich zögerte. Elaine war nicht die Sorte Freundin, die sich Kummer anhörte, mir auf die Schulter klopfte und »ei ei« machte.
»Mo! Spuck’s aus.«
Ich setzte mich an die Mauer. Sie schaute mich stinksauer an. Ich schloss die Augen und spürte, wie mein Herzschlag meinen Hals hochwanderte.
»Wir gehen keinen Zentimeter weiter, wenn du nicht auspackst.«
Ich öffnete die Augen. Und erzählte ihr, dass Mum Lloyd am Wochenende mein Essen gegeben hatte, von seinem Real-Madrid-Trikot und dass er mich aus dem Bett geprügelt und mir mit der Faust gedroht hatte, weil ich ihm ans Bein getreten hatte. Dann von heute Morgen und den fünf Pfund und dass ich gedacht hatte, er würde wieder zuschlagen. Sie hörte aufmerksam zu, legte mir hin und wieder eine Hand auf die Schulter und strich mir die Haare aus dem Gesicht. Als ich fertig war, umarmte sie mich ganz fest. Ich konnte die Tränen nicht zurückhalten.
»Ich hab ihn schon ein bisschen geärgert«, sagte ich. »Ich meine, immerhin hab ich auf sein Lieblingstrikot gepisst. Und du weißt ja, was ich für eine Klappe habe, wenn ich sauer bin.«
»Der ist aber ein ausgewachsener Mann!«, sagte Elaine. »Er hat kein verdammtes Recht, dich zu schlagen und aus dem Bett zu katapultieren. Hast du gehört, Mo? Absolut kein Recht. Mein Dad wohnt nicht mehr bei uns, und wenn wir uns sehen, streiten wir uns manchmal wie die Bekloppten, aber meinst du, ich würde mich von ihm schlagen lassen? Auf keinen verfluchten Fall.«
»Aber er ist ja auch dein richtiger Dad«, sagte ich.
»Spielt keine Rolle«, erwiderte Elaine. »Wenn du seiner Fettfresse am Frühstückstisch begegnest, hat er sich zu benehmen wie ein richtiger Dad.«
»Was soll ich machen?«, fragte ich. »Er ist praktisch schon bei uns eingezogen.«
»Du gehst zu den Bullen«, sagte Elaine.
»Den Bullen? Ist das nicht ein bisschen drastisch?«
»Am Sonntag hat er zugeschlagen und heute Morgen fast wieder? Wer weiß, wozu der fähig ist, wenn das letzte bisschen Vernunft seinen Knastbruderarsch verlässt?«
Unterschiedliche Szenarien schossen mir in den Kopf. Lloyd war erst vor ein paar Monaten aus dem Gefängnis entlassen worden. Mum hatte mir nicht erzählt, weswegen er gesessen hatte. Wenn er noch mal in einer Zelle schmachten und Porridge zum Frühstück fressen musste, würde Mum mir das niemals verzeihen.
»Ich … ich weiß nicht, ob ich damit zu den Bullen gehen kann«, sagte ich. »Kann man denen denn vertrauen? Vielleicht glauben die mir gar nicht.«
»Müssen sie aber, Mo«, behaupete Elaine und legte mir einen Arm um die Schulter.
»Mum wird zum T-Rex. Lloyd ist gerade erst aus dem Knast raus.«
»Mo, hör mir zu. Du stehst auf ihrer Prioritätenliste ganz oben, hast du gehört? Jedenfalls solltest du da stehen. Ist mir scheißegal, wie sauer sie wird – du musst Lloyd anzeigen. Der ist doppelt so groß wie du! Irgendwann richtet er noch größeren Schaden an, als dich nur aus dem Bett zu schmeißen. Eigentlich dürfte er gar nicht ungebeten in dein Zimmer platzen!«
»Aber …«
»Kein aber. Ich sag dir, was wir machen. Wir gehen hoch, essen was – hoffentlich hat Gran heute gekocht –, und danach gehen wir zu den Bullen.«
Ich musste fünf Minuten sitzen bleiben, um das alles runterzuladen. Vielleicht konnte mir ja eine von diesen Dragon Hip Pillen durch die ganze Kacke helfen.
Ich ging mit Elaine nach Hause. Bevor wir in die Wohnung gingen, schälte Elaine sich die falschen Wimpern ab und steckte sie in ein kleines Portemonnaie. Ihre Mum war nicht zu Hause, aber ihre Gran saß auf einem Hocker in der Küche, ein Geschirrtuch über der Schulter. Ein Kopftuch in den jamaikanischen Farben zierte ihren Kopf. Sie nippte an einer Cola-Rum – der Geruch kitzelte meine Nüstern. Irgendeine jamaikanische Oldschool-Musik nudelte aus dem kleinen Gettoblaster. »Maureen!«, grüßte sie. »Lange nicht gesehen! Hast du vergessen, wo ich wohne? Hast du gedacht, ich bin schon tot?«
»Nein, nein, Ms Jackson!«, erwiderte ich. »Hatte nur echt viel zu tun. Sie wissen doch, wie das ist. Hab gelernt, Hausaufgaben gemacht, und was weiß ich was.«
»Hör auf mit diesem Ms-Jackson-Unsinn, Maureen! Sag einfach Gran … wie geht’s Clarrie-May?«
»Der geht’s gut«, sagte ich. »Arbeitet immer noch Teilzeit im Waschsalon.«
»Gut, dass sie endlich was gefunden hat.« Sie widmete Elaine ihre Aufmerksamkeit. »Und wieso kommst du so spät?«
»Gran, ich hab’s dir doch gesagt. Wir waren nach der Schule noch im Kino.«
»Du sagst mir nie irgendwas.«
»Heute Morgen hab ich’s dir und Mum gesagt.«
Gran versuchte sich zu erinnern. Ich fand’s echt lieb von ihr. Mum scherte sich nie drum, wann ich nach der Schule nach Hause kam.
»Hast du nicht was vergessen?«, fragte Gran.
Elaine grinste. Sie umarmte Gran herzlich und drückte ihr ein Küsschen auf die Wange. Ich wünschte, bei Mum und mir wäre das auch so. »Pass auf, dass du mein Glas nicht umkippst! Weißt du, wie teuer der Rum ist? Sag’s deiner Mutter nicht.«
»Mach ich nicht.«
»Wollt ihr essen? Fleischbällchen in meiner hausgemachten Sauce mit Reis. Willst du probieren, was ich gekocht hab, Maureen? Egal, was meine Enkelkinder sagen, du wirst nicht dran sterben.«
»Ja, bitte.«
»Gib mir fünf Minuten, dann mach ich’s euch warm.«
Elaine führte mich in ihr Zimmer. Denzel Washington wachte an der Wand über ihrem Bett. Terrence Howard in seiner ganzen muskulösen Pracht zierte die Tür. Stapel von DVDs in durchsichtigen Plastikhüllen kämpften um einen Platz auf der Kommode. Ich setzte mich auf ihr Bett. Elaine machte die Tür zu. »Ich hoffe, du hast Hunger, Mo. Gran macht immer Riesenportionen und kann’s gar nicht leiden, wenn was auf dem Teller bleibt.«
»Glaub mir, ich hab voll den Riesenhunger«, sagte ich. »Die Wings und Fritten heute Mittag, hätten keinen klapprigen Grashüpfer satt gemacht.«
»Alles klar?«, fragte Elaine, wahrscheinlich weil sie meine Angst spürte.
»Ich könnte was zu trinken vertragen.«
»Ich hol dir Johannisbeersaft.«
Kaum machte Elaine die Tür auf, platzte ihr kleiner Bruder Lemar ins Zimmer. Er sprang aufs Bett und setzte sich neben mich.
»Raus!«, bellte Elaine. »Mo hat heute keine Zeit für dich.«
Lemar schlang mir die Arme um den Hals und schenkte mir das breiteste Grinsen der Welt. So was von süß. Ich wünschte, ich hätte auch einen kleinen Bruder.
»Schon okay, Elaine.«
»Benimm dich!«, ermahnte Elaine Lemar. »Und in meinem Zimmer wird nichts angefasst.« Sie ging mir was zu trinken holen.
»Und wie läuft’s so in deinem ersten Jahr an der South Crong High?«, fragte ich. »Viel zu viel Rumgerenne«, beschwerte Lemar sich. »Wieso können nicht alle Stunden in unserem Klassenraum stattfinden? Sollen die Lehrer doch zu uns kommen! Wäre viel einfacher.«
Er sprang vom Bett und ging Elaines DVD-Sammlung durch. »Kunst ist mein Lieblingsfach, aber ich zeichne lieber Menschen als Äpfel und Orangen«, fuhr Lemar fort.
Lemar war eine schöne Ablenkung. Ich lachte, als er mir erzählte, welche Lehrer er mochte und welche er nicht ausstehen konnte, und versuchte, möglichst verständnisvoll zu gucken, als er mir erklärte, wieso er sich vor dem Sport nicht umziehen wollte.
»Irgend so eine gemeine Kuh hat mich Liccle Bit genannt«, sagte er.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte ich. »Bald schießt du in die Höhe. Glaub mir.«
»Ehrlich?«
»Na klar. Bevor du weißt, wie dir geschieht, spielst du Basketball bei den Crongton Crewnecks.«
»Meinst du echt?«
»Absolut!«
Elaine kam fünf Minuten später mit einem Tablett voller Essen zurück. Sie sah Lemar böse an. »Raus!«
»Hab mich nur mit Mo unterhalten.«
»Schieb dein Hinterteil hier raus, bevor ich dir einen Tritt verpasse.«
Lemar zog beleidigt ab. Ich hätte nichts dagegen gehabt, dass er bleibt. Jetzt muss ich dran denken, dass ich zu den Bullen gehen und auspacken soll.
»Danach bist du voll satt«, sagte Elaine. »Ist aber ganz schön scharf – Gran macht Jamaican Jerk an alles dran.«
Bis ich mit dem Essen fertig war, lief mir die Nase, und in meiner Brust fühlte es sich an wie in einem Hochofen. Elaine musste mir noch ein Glas zu trinken holen. Ich kippte es in einem Zug runter.
»Bist du bereit?«, fragte Elaine.
Ich war nicht bereit.
Ich nickte.
Gran schaute im Wohnzimmer fern. »Geht ihr noch mal weg?«
»Ja, Gran«, erwiderte Elaine.
»Wohin? Ihr seid doch eben erst gekommen. Könnt ihr nicht mal zwei Minuten lang die Füße still halten?«
»Ich muss Mo bei was helfen.«
»Und wobei?«
Elaines geöffneter Mund stand auf Pause. Ich musste schnell nachdenken.
»Wir gehen ins Internetcafé, recherchieren ein bisschen – für Geschichte.«
Gran nickte. »Seid vorsichtig da draußen, Mädchen. Und kommt gleich wieder nach Hause, wenn ihr fertig seid.«
»Machen wir«, riefen wir einstimmig.
Gran wusste das nicht, aber tatsächlich wären wir lieber gestorben, als uns im Well Charged Internetcafé in der Bushmaster Lane blicken zu lassen. Es befand sich im Keller eines Getränkeladens und es stank nach Gras, Alkohol und Schweiß. Gangsta verkauften dort Dragon Hip und andere abgefahrene Chemikalien. Dem langbärtigen Besitzer Johnny Osbourne, der auf einem wackligen Hocker hinter dem hohen Tresen saß, war das alles egal, Hauptsache man bezahlte die Gebühr fürs Einloggen.
Wir brauchten fünfundzwanzig Minuten bis zur Polizeiwache von Crong.
In Wirklichkeit schleppte ich mich dorthin. Ich freute mich nicht gerade darauf, meine persönlichen Angelegenheiten vor den Bullen auszubreiten.
Wir gingen rein und setzten uns in den Wartebereich, während sich eine Mutter laut darüber beschwerte, dass irgendeine Gettoratte ihrem achtjährigen Sohn das Handy geklaut hatte. Blöde Kuh!, dachte ich. Wieso kauft sie auch einem so kleinen Kind ein Handy?
Je länger wir warteten, umso nervöser wurde ich. Endlich war die Frau mit ihrer Schimpftirade fertig. Elaine stand auf. Ich blieb sitzen.
»Mo, steh auf.«
Wir gingen zur Anmeldung. Ein Polizist in einem kurzärmeligen weißen Hemd und mit Krawatte stand hinter dem Tresen. Sein Kinn war so glatt, dass mir wieder der Action Man einfiel, den Elaine Lemar vor ein paar Jahren zum Geburtstag gekauft hatte. Er füllte ein Formular aus.
»Ich will aber mit keinem Mann reden«, flüsterte ich.
»Wir fragen, ob sie eine Frau haben«, sagte Elaine.
Der Beamte schaute auf und lächelte. »Wie kann ich euch helfen?«
Ich kann nicht glauben, dass ich das mache. Mum wird hochgehen. Meine Beine fühlten sich komisch an. Mein Herz bummerte wie Nelsons Kanonen. Ich musste meine Hände auf den Tresen legen, um mich abzustützen.
»Meine Freundin möchte eine Meldung machen, aber sie möchte mit keinem Mann drüber sprechen«, sagte Elaine. »Verstehen Sie das?«
Der Polizist nickte. Anscheinend war er nicht beleidigt. »Ja, verstehe ich«, sagte er. »Bitte wartet hier, ich hole jemanden, der geeignet ist, sich die Beschwerde anzuhören.«
Ich war echt froh, dass Elaine bei mir war.
Fünfzehn Minuten später kam eine Polizistin mit einer Frau in einem grauen Hosenanzug, die uns erklärte, sie sei von der Abteilung für Opferschutz. Sie führten uns durch die Wache in einen ruhigen Raum, in dem ein Sofa, ein paar einfache Stühle und ein Tisch standen, darauf eine schlichte Vase mit Plastikblumen. Was zum Teufel soll denn das? Vor den Fenstern weiße Jalousien. Elaine und ich entschieden uns für das Sofa. Ich fragte mich, wie viele Leute, die Opfer von Gewalt geworden waren oder anderen Kummer zu berichten hatten, schon auf diesem Polster Platz genommen hatten.
»Können wir euch was bringen?«, fragte die Beamtin.
»Wasser«, erwiderte ich.
»Danke, nichts«, sagte Elaine.
Ich spürte, wie sich die Schweißperlen auf meiner Stirn schlagartig vermehrten. Die Ader an meiner linken Schläfe fing an zu pochen. O Gott! Ich mache das wirklich. Elaine hielt meine Hand. Ich drückte ihre andere. Draußen hörte ich einen Drucker Papier ausspucken. Irgendwo über uns summte eine Klimaanlage. Die Lady, die das Wasser für mich holen gegangen war, brauchte ewig. Endlich kam sie wieder. Ich nahm einen Schluck. Und noch einen. Ich fragte mich, ob ich mir das Wasser vielleicht am besten über den Kopf schütten sollte.
»Fühlt ihr euch jetzt wohl?«, fragte die Beamtin.
Ich fühlte mich nicht wohl, aber ich nickte.
»Wie können wir euch behilflich sein?«, fragte die Polizistin.
Die vom Opferschutz blätterte die erste Seite ihres Blocks um und hielt den Stift bereit. »Mein Name ist Ms Sharon Hunt«, sagte sie. »Ich bin hier, um euch zu unterstützen, soweit ich kann.«
O Gott, die klingt wie Naomis Betreuerin – sind die etwa miteinander verwandt?
Alle sahen jetzt mich an.
»Sag’s ihnen, Mo!«, drängte Elaine. »Mach schon! Schau sie an.« Irgendwas lähmte meine Zunge.
Betretene Stille.
»Vielleicht können wir mit deinem Namen und deiner Anschrift anfangen?«, schlug die Polizistin vor. »Kannst du uns sagen, auf welche Schule du gehst?«
Ich holte megatief Luft und presste leise eine Antwort heraus. »Auf die South Crong High. Ich heiße Maureen Baker, bin fünfzehn Jahre alt und wohne mit meiner Mum zusammen.«
Die Polizistin und Ms Hunt gaben sich die größte Mühe, ihre schönsten »O Gott, wir nehmen das wahnsinnig ernst«-Mienen aufzusetzen. Elaine nickte mir zu, trieb mich an.
»Es geht um den Freund von meiner Mum«, fuhr ich fort.
»Er ist in ihr Zimmer geplatzt und hat sie geschlagen, sodass sie aus dem Bett geflogen ist!«, explodierte es aus Elaine heraus, sie zeigte dabei auf mich.
Ich holte erneut tief Luft und erzählte das ganze Drama mit Lloyd. Ms Hunt konnte echt schnell schreiben – ihre Finger verschwammen vor meinen Augen. Elaine strich mir über den Rücken – am liebsten hätte ich ihr gesagt, dass sie’s nicht so fest machen soll, ich war nämlich kurz davor zu kotzen.
Die Bullen wollten eine offizielle Aussage von mir. Deshalb musste ich die ganze Geschichte noch mal erzählen.
Sie fragten, ob ich einen Arzt sehen wollte. Nein.
Dann fingen sie mit was an, das mir einen Wahnsinnsschrecken einjagte.
»Du bist erst fünfzehn«, sagte Ms Hunt. »Wir müssen das Jugendamt informieren. Du bist gefährdet, und möglicherweise müssen wir geeignete Schritte einleiten, ist dir das bewusst? Oder zumindest die anderen Behörden auf deinen Fall aufmerksam machen, damit sie …«
»Das Jugendamt bringt mich nirgendwohin!«, fauchte ich. »Ich will einfach nur, dass Lloyd aus der Wohnung verschwindet. Das ist alles. Ich will bei meiner Mum wohnen bleiben!«
Ich dachte an Naomi im Heim und dass sie uns nie einlud, reinzukommen. Was zum Teufel ging innerhalb dieser Mauern vor?
»Niemand wird dich von deiner Mum trennen«, sagte Ms Hunt. »Aber vielleicht braucht sie Hilfe oder eine Beratung, um dich besser schützen zu können …«
Plötzlich war mir viel zu heiß. Der Druck in meinem Schädel war zu stark. Schweiß strömte aus meinen Achseln. Auch am Bauchnabel konnte ich ihn spüren. Ich trank den Rest meines Wassers und stand auf. »Elaine – ich kann das nicht.«
»Aber du hast das toll gemacht, Mo«, sagte Elaine. »Du bist fast fertig«. Sie schaute die Polizistin an und fragte: »Sie ist doch fast fertig, oder?«
Die Polizistin nickte. »Wenn du willst, Maureen, machen wir eine Pause – vielleicht gehst du zwischendurch Luft schnappen oder kommst morgen noch mal, um die Aussage fertigzustellen und zu unterschreiben?«
»Das hat keine Eile«, sagte Ms Hunt. »Ist uns recht, so wie’s für dich am besten ist. Wenn du möchtest, rufen wir beim Jugendschutz an und sorgen dafür, dass du heute Abend eine sichere Unterkunft bekommst.«
»Nein! Ich übernachte nicht bei Leuten, die ich nicht kenne!«
Ich spürte, wie sie mir mit ihren starren Blicken den Schädel durchbohrten. Mein Gehirn fühlte sich an, als wollte es gleich explodieren. »ICH WILL RAUS HIER!«
Elaine stand auf und nahm mich in den Arm. »Machen Sie die Tür auf«, sagte sie. »Ich geh mit ihr nach draußen.«
Bevor ich rausgeführt wurde, schenkte mir Ms Hunt noch ein Glas Wasser ein. Die Polizistin machte die Tür auf. Andere Beamte schauten von ihren Schreibtischen und Computerbildschirmen auf. Ich konnte es nicht ertragen, angeglotzt zu werden, deshalb vergrub ich mein Gesicht an Elaines Schulter und ließ mich von ihr führen. Als ich die Augen wieder aufmachte, befand ich mich mit Elaine, der Polizistin und Ms Hunt auf dem Parkplatz. Wir setzten uns alle zusammen auf eine Bank. Meine Hände zitterten. Ich suchte in meinem Schulrucksack nach einem Taschentuch, konnte aber keins finden. Ms Hunt erriet, was ich suchte, und bot mir eins an. »Kann ich dir noch was holen?«, fragte sie. »Tee? Kekse?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Würden Sie uns kurz alleine lassen?«, fragte Elaine.
Die Polizistin und Ms Hunt sahen einander an, dann nickten sie. »Natürlich. Nehmt euch die Zeit, die ihr braucht.«
Sie verzogen sich wieder nach drinnen. Die Abendluft kühlte meine Stirn. Hinter einer hohen Backsteinmauer rauschte der Verkehr. Ich hielt mir den Becher an die Lippen und trank.
»Das ist echt sehr mutig, was du da machst, Mo«, sagte Elaine. »Vielleicht sollten wir morgen wiederkommen und die Aussage fertig aufnehmen lassen.«
Ich war froh, dass Elaine das sagte. Ich atmete wieder leichter und wischte mir den Schweiß vom Gesicht.
»Wir bitten die Bullen, uns nach Hause zu fahren«, sagte Elaine. »Das ist das Mindeste, was die machen können.«
»Nicht ganz bis nach Hause«, sagte ich. »Ich will nicht, dass Mum oder Lloyd uns bei denen aus dem Wagen steigen sehen.«
»Einverstanden«, sagte Elaine und umarmte mich noch mal.