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Kapitel Eins - Teil 3

Auf dem Rückweg in die Stadt weinte Kate. Sie schluchzte nicht, sie schniefte nicht, sie gab keinen Laut von sich, sondern ließ die Tränen kullern und im Stoff ihres Shirts versickern.

War dies etwa das Ergebnis ihrer gemeinsamen fünf Jahre? Gingen sie nun so miteinander um? Beleidigten und schlugen sich, um dann Sex zu haben? Gewiss konnten sie nicht behaupten, eine gewöhnliche Beziehung zu führen, doch was gerade geschehen war, war für Kates Empfinden schlicht und ergreifend der absolute Tiefpunkt. Davor hatte sie geglaubt, nicht tiefer geraten zu können, schließlich schwiegen Henry und sie praktisch seit vier Monaten. Er redete nie viel, wenn er in einer kreativen Krise steckte. Er zog sich immer zurück und ließ sie außen vor – und immer hatte sie es toleriert und ihm den zur Findung benötigten Raum gelassen. Doch dieses Mal dauerte es zu lange an, und mit jedem Tag schien er tiefer in seiner Gleichgültigkeit zu versinken.

Für kurze Zeit war das Haus im Wald ihre gemeinsame Bleibe gewesen. Kates Wohnung in der Stadt über der Werkstatt und dem Shop hatte lediglich zum Ausweichen gedient, damit sie und Henry sich nicht auf der Pelle hockten oder sich im Miteinander-Leben festfuhren. Leider wich sie seit Langem die Woche über aus und wünschte sich immer häufiger, auch übers Wochenende ausweichen zu können – ohne jedes Gefühl des Bedauerns.

Mehr Tränen liefen über ihre Wangen, als sie sich bewusst wurde, dass es gute Zeiten gegeben hatte und diese beinahe in Vergessenheit geraten waren.

Die Ausstellung der Purpur-Bilder war es gewesen, auf der Kate Henry Irons kennengelernt hatte. Wie jede andere seiner Ausstellungen hatte sie die Vernissage aus Faszination für seine Bilder besucht, und entgegen der Intention anderer weiblicher Besucher war es ihr dabei nie in den Sinn gekommen, mit dem Künstler anzubandeln. Nicht unbedingt, weil man über ihn sagte, dass er seine Lebensgefährtinnen so häufig wechselte wie die Farben auf seiner Palette. Sie mochte seine Kunst. Für den Mann selbst hatte sie sich nicht interessiert. Allein sein Äußeres, der so typisch künstlerisch alternative Hauch, der ihn umgab, hatte sie absolut nicht angesprochen.

Später hatte Henry ihr erzählt, dass sie ihm aus zwei Gründen aufgefallen war. Zum einen hatte sie Die Purpurwüste extrem lange betrachtet. Zum anderen war sie ein Farbklecks in einer schwarzgrauen Masse gewesen.

In die Arbeit an einem Armreif vertieft, hatte sie die Zeit vergessen und irgendwann erschrocken festgestellt, dass die Vernissage gerade begann. An sich herabschauend, hatte sie beschlossen, dass ihr Outfit gerade gut genug war. Über einer dunkelroten Ballonhose trug sie eine weiße Tunika. Um ihren Hals baumelten drei unterschiedlich lange Ketten aus schwarzen und roten Glasperlen, die sie am Morgen als Kombination anprobiert hatte. Also sprintete sie los, löste ihr Haar auf dem Weg zum Auto, betrachte sich in dessen Fenster und steckte die glatten, blonden Strähnen doch wieder zu einem Knäuel am Hinterkopf zusammen. Außer Puste war sie auf der Vernissage aufgeschlagen, wo sich Henry gerade zu seinen Bildern äußerte. Sein Blick war zu ihr geschnellt, und eine Stunde später, während ihrer Betrachtung des Bildes Die Purpurwüste, hatte er sie angesprochen.

Ob er bereits wüsste, in welcher Farbe er seine nächsten Bilder malen würde, hatte sie ihn gefragt, und er hatte »Taubenblau« geantwortet. Auf ihren Blick hin, hatte er sie mit einem Lächeln darauf hingewiesen, dass dies die Farbe ihrer Augen sei.

Das war kein Spruch gewesen, mit dem er sie hatte rumkriegen wollen, sondern die Ankündigung eines Vorhabens, das er kurze Zeit später umsetzte. Die taubenblauen Bilder zeigten fast alle Kate. Taten sie es nicht, standen sie im Zusammenhang mit ihr oder waren inspiriert von den Orten, an die sie einander entführt hatten.

Dies alles schien eine Ewigkeit her zu sein.

***

Zuhause angelangt, nahm Kate ihr Handy und wählte Jills Telefonnummer. Zwar weinte sie nicht mehr, doch sie war noch immer aufgewühlt. Sie brauchte keinen Ratschlag und würde von Jill nicht wirklich einen bekommen, im Gegenteil. Eher einen Tritt in den Hintern. Sie musste Jill einfach sehen und sich von der Seele reden, was sie gerade erlebt hatte.

Bei allen Versuchen wies sie eine automatische Ansage darauf hin, dass die angerufene Person nicht erreichbar war. Kate fiel die neue Nummer ein, die sie am Vortag notiert hatte, und schimpfte auf der Suche nach dem Zettel vor sich hin, weil Jill ständig ihre Telefonnummern änderte – genau genommen immer dann, wenn sie eines Lovers überdrüssig war.

Endlich fand sie den Zettel, tippte die Nummer ein und atmete erleichtert durch, als sie das Klingelzeichen hörte. Dass sich statt Jill ein Mann meldete, irritierte sie.

»Oh, Entschuldigung«, stotterte sie. »Da habe ich wohl eine falsche Nummer.«

»Das liegt im Auge des Betrachters«, lautete die prompte Reaktion, die Kate nur mit Schweigen zu quittieren wusste.

»Meine Nummer erscheint mir selbst nämlich ganz richtig«, fuhr die Stimme amüsiert fort. »Wen wollten Sie denn sprechen?«

»Jill.« Noch während Kate ihm diese Info gab, schüttelte sie den Kopf über sich. Was wusste er mit diesem Namen schon anzufangen. »Bei Ihnen erreiche ich sie wohl nicht, oder?«

»Nein, eher nicht. Hätte ich auch gegen die Gesellschaft einer Jill nichts einzuwenden.«

»Okay«, beeilte sie sich zu sagen und grollte im Stillen, weil er sich offenbar für besonders witzig hielt. »Sorry nochmals!« Sie beendete das Gespräch, ohne ein weiteres Wort von ihm abzuwarten.

Nachdem sie die notierte Nummer mit der eingetippten verglichen hatte und sichergegangen war, dass sie identisch waren, schnappte sie sich ihren Autoschlüssel, um zu Jill zu fahren.

Jill lebte am Stadtrand und es dauerte eine Viertelstunde, in der Kate jede rote Ampel verfluchte, bis sie vor dem kleinen Reihenhaus einparkte. Mit einiger Ernüchterung stellte sie fest, dass alle Fenster dunkel waren. Sie klingelte, doch wie befürchtet, war Jill nicht zu Hause.

Auf dem Heimweg versuchte Kate sich damit abzufinden, dass sie ihre Sorgen heute nicht loswerden würde, doch sie wählte, sobald sie die Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte, die zuletzt im Protokoll gespeicherte Nummer noch einmal an. Vielleicht, so hoffte sie, hatte es lediglich einen Fehler beim Verbindungsaufbau gegeben.

»Jill ist noch nicht eingetroffen«, informierte sie dieselbe Männerstimme. »Ich kann mich bei Ihnen melden, sobald sie hier aufkreuzt.«

Kate plumpste in einen Sessel. »Ach, verflixt! Tut mir leid!«, sagte sie und klang dabei offenbar verzweifelter, als ihr bewusst war.

»Nicht so schlimm«, antwortete er und schien verunsichert, weil sie sich nicht gleich wieder verabschiedete. Dabei war sie mit dem Ohr zwar noch am Telefon, mit den Gedanken aber ganz woanders. »Also, falls ich sonst nichts für Sie tun kann …«

Seine vage Formulierung holte sie zurück in die Realität. »Nein, natürlich nicht … also dann …«

»Natürlich nicht?« Schon wieder klang er belustigt. »Wieso ist es so ausgeschlossen? Zumindest könnte ich mit Ihnen plaudern bis Jill da ist … bei einem von uns.«

Kate schluckte einen genervten Laut. »Das ist ein verlockendes Angebot, aber ich werde es ausschlagen müssen.«

»Warum, wenn es verlockend ist?«

»Weil ich zu tun habe. Und jetzt lege ich …«

»Zu tun zu haben scheint nicht gerade ein Vergnügen zu sein, dem man an einem Freitagabend nachgeht«, fiel er ihr ins Wort. »Sondern eher eine Verpflichtung.«

Nun klang er provokativ. Kate beschloss, ihm im gleichen Ton zu antworten.»Und Ihnen ist langweilig … an einem Freitagabend?«

»Absolut nicht. Ich unterhalte mich ganz ausgezeichnet.« Ihrem nächsten Einwurf vorbeugend, fuhr er fort: »Ich trinke Wein, höre Musik und überlege, ob ich in einen Club gehe oder den Abend so lasse, wie er ist.«

»Ah, ja. Na dann will ich Sie in Ruhe Wein trinken und überlegen lassen …«, versuchte sie ihn erneut abzuwimmeln.

»Meine Ruhe nehmen Sie mir absolut nicht. Im Gegenteil.«

»Aber wenn wir sprechen, können Sie die Musik nicht mehr hören.«

»Doch, die Musik sorgt für die perfekte Untermalung.«

Sie lauschte, konnte aber nichts hören. »Was für Musik ist es denn?« Im Stillen tippte sie auf Jazz, alternativ auf Chill-out.

»Zaz«, sagte er.

Das war eine Musikrichtung, von der sie noch nie gehört hatte. »Was ist das, Zaz?«

Er lachte. »Nicht das Zaz, die Zaz.«

»Die Zaz kenne ich genauso wenig.«

»Sie ist Französin.«

»Und sie singt französisch …«

»So ist es.«

»Französisch hatte ich ein Jahr lang in der High School«, erzählte Kate und zog die Füße unter den Po, um bequemer zu sitzen. »Davon ist wenig hängen geblieben. Ich würde kein Wort verstehen. Wovon singt sie?«

Er gab einen grüblerischen Laut von sich, schien zu überlegen, welche Zusammenfassung er ihr geben konnte. »Vom Leben, der Liebe, der Seele …«

Kate stutzte. Hatte er das wirklich gerade gesagt? Diese Worte benutzt, bei deren Klang eine Gänsehaut von ihrem Nacken bis zu den Fußsohlen krabbelte?

»Von Dingen, die wirklichen Wert haben«, fuhr er fort. »Von Momenten, an die man sich erinnern möchte und von Wünschen, die es sich zu wünschen lohnt.«

Sie wollte diese Musik hören, egal, ob sie den Text verstand oder nicht – doch sie vertrieb den Wunsch.

»Klingt toll«, entgegnete sie also und verlieh ihrer Stimme einen sachlichen Ton. Ihr Geist war damit nicht einverstanden und wollte sich fortträumen, zwang sie sogar, die Augen zu schließen. Ihr Verstand ermahnte sie jedoch, sie gleich wieder zu öffnen. Kate befolgte seinen Rat, straffte zudem die Schultern. »Und jetzt muss ich wirklich auflegen.«

Wie beim letzten Telefonat würgte sie ihn ab, indem sie die Verbindung unterbrach. Dann rollte sie sich auf der Couch zusammen, schob den Fremden aus ihren Gedanken, auch Henry – und Jill, die sich mal wieder herumtrieb –, und schlummerte ein.

***

Es dämmerte bereits, als sie aufwachte. Kurz streckte sie die vom Sessel gepeinigten Glieder und quälte sich in die Senkrechte. Dabei fiel ihr Handy auf den Boden. Auf dem Weg ins Bett überprüfte sie das Display und sah eine Nachricht.

Anspieltipp: Je veux von Zaz. Übersetzt heißt das: Ich will. Der Rest sei Ihrer Fantasie oder dem Wörterbuch überlassen.

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