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+++ Die Kaiserproklamation im Spiegelsaal zu Versailles +++

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Seit Sommer 1870 tobt der Deutsch-Französische Krieg, und seit dem 19. September des gleichen Jahres belagern deutsche Truppen Paris. Frankreich ist militärisch praktisch besiegt, doch das eigentliche Kriegsziel Otto von Bismarcks, die Einheit Deutschlands, ist erst durch die Kaiserproklamation am Morgen des 18. Januar 1871 vor den Toren der französischen Hauptstadt erreicht: im Schloss von Versailles.

+++ Noch immer toben Kämpfe zwischen deutschen und französischen Truppen. Paris ist seit Tagen von den Deutschen umstellt. Während der Belagerung wird das Versailler Schloss von den deutschen Truppen als Lazarett genutzt.

Versailles am Morgen des 18. Januar 1871: Schon früh am Morgen, noch vor Sonnenaufgang, bricht Hektik aus. Die verletzten Soldaten müssen weichen – auf Befehl von ganz oben. Man brauche den Spiegelsaal des Schlosses. Ärzte und Schwestern gehorchen. Sie räumen das Schloss. Bald dringen zu ihnen auch die ersten Gerüchte für den Aufwand durch: An diesem Tag soll im Versailler Schloss die Proklamation der deutschen Einheit und des neuen deutschen Kaisertums stattfinden. Andere wollen wissen, es handele sich um eine Feierlichkeit des Hauses Hohenzollern.

Wo vor wenigen Stunden noch Verwundete versorgt wurden, laufen schon bald die Vorbereitungen für die unbekannte Feier auf Hochtouren. Jeder Anwesende weiß es und spürt es bis in die Fußspitzen in den militärischen Stiefeln: Heute wird deutsche Geschichte geschrieben! Und das im wahrsten Sinn des Wortes. Keine preußische, keine bayerische, keine badische – deutsche Geschichte! Vielleicht wird dieser Tag sogar einmal als einer der bedeutendsten Tage in der deutschen Geschichte gefeiert werden. Entsprechend angespannt sind die Protagonisten an diesem trüben, aber milden Wintertag: Die deutschen Fürsten, Politiker, Generäle und hochrangigen Soldaten haben sich nach den Kämpfen gegen die Franzosen in Schale geworfen, um diesen Tag mit besonderer Würde zu begehen. Hinter ihnen liegt ein Feldzug, der im Sommer 1870 begonnen und bereits im September mit dem Sieg über Napoleon III. bei Sedan die Entscheidung gebracht hatte.

Unter den hochrangigen Politikern und Soldaten sind auch der preußische König Wilhelm und der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck, der eigentliche »Macher« dieses Tages. Für ihn, den künftigen deutschen Reichskanzler, ist dieser Tag jedenfalls der größte in der deutschen Geschichte – und sein ganz persönlicher Erfolg. Daran hat er keinen Zweifel. Seit Jahren hatte er mit diplomatischer Raffinesse und konservativer Politik auf diesen Augenblick hingearbeitet. Seit seinem Amtsantritt im Jahr 1862 will Bismarck die Einigung Deutschlands herbeiführen – unter preußischer Führung! Was die Revolutionäre von 1848/49 nicht vermocht hatten, das sollte ihm gelingen.

Während im Versailler Schloss die Vorbereitungen laufen, bereitet sich Otto von Bismarck in Ruhe auf die Kaiserproklamation vor. Dabei schweifen seine Gedanken ab, und er sinniert über die vergangenen Jahre. Seit der napoleonischen Zeit haben die Deutschen um die Einheit ihrer Sprach- und Kulturnation gerungen. Das Haus Habsburg, das jahrhundertelang die Kaiserwürde innegehabt hatte, nahm die Vormachtstellung ein. Doch gelang es Preußen nicht zuletzt durch seine Politik, Österreich aus dem Deutschen Bund zu verdrängen. Noch einmal ruft er sich den Krieg gegen Österreich 1866 ins Gedächtnis: Der Sieg Preußens war ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Reichsgründung. Man stelle sich nur vor, welche militärische, wirtschaftliche und politische Kraft ein vereintes Deutsches Reich entwickeln würde. Endlich soll Deutschland unter Preußens Führung geeint und ein moderner Nationalstaat sein! Bismarck schmunzelt …

Während der »Eiserne Kanzler« seine Paradeuniform anlegt, wird sein Schmunzeln zu einem breiten Grinsen. Er kann den Moment kaum fassen und hält inne, denn er hat sein großes Ziel erreicht. Ein Moment der Freude überkommt den sonst so kühlen Politiker. Er hat für das große Ereignis einen besonderen Tag und Ort gewählt: den für Preußen so bedeutsamen 18. Januar, denn an diesem Tag wurde Friedrich I. im Jahr 1701 zum ersten preußischen König gekrönt – Ausgangspunkt für den Aufstieg Brandenburg-Preußens und des Hauses Hohenzollern zu einer europäischen Großmacht. Und das Schloss zu Versailles, das von jeher als Symbol des französischen Selbstverständnisses galt und wie kein anderer Ort Macht und Glanz der Grande Nation, des nunmehr von den vereinten deutschen Truppen geschlagenen Weltreiches, verkörperte. Für die Deutschen ist Versailles jedoch vor allem ein neutraler Ort, denn Bismarck will mit allen Mitteln verhindern, dass über den Ort der Kaiserproklamation ein Streit zwischen den deutschen Fürsten ausbricht. Weder Berlin noch die alte Hauptstadt des Deutschen Bundes, Frankfurt am Main, kommen dafür infrage.

Gegen zehn Uhr marschieren deutsche Soldaten in Galauniform rings um das Schloss auf. Sie stehen Spalier, als begleitet von feierlicher Musik die Fahnen, Flaggen und Standarten der vor Paris liegenden deutschen Truppen in das ehemalige Königsschloss gebracht und im prachtvollen Spiegelsaal aufgebaut werden. Nach den harten Kämpfen der letzten Monate genießen die Soldaten das prächtige Farbenspiel.

Aus Gründen der militärischen Sicherheit ist die Kaiserproklamation bis kurz vor Beginn der Zeremonie offiziell als »Begehung des Ordensfests des hohenzollerschen Hausordens vom Schwarzen Adler« maskiert. Nur die beteiligten Armeeeinheiten sind eingeweiht.

Dann warten die aufmarschierten Soldaten auf den preußischen König, unter dessen Führung sie in den Krieg gegen Frankreich gezogen sind. Hier im Spiegelsaal von Versailles wird er vor den deutschen Fürsten die Gründung des Deutschen Reiches verkünden und die Kaiserwürde annehmen.

Die Vorbereitungen im Schloss sind beinahe abgeschlossen. Es ist vorgesehen, dass Wilhelm am Ende des Saales auf einer Erhöhung steht und hinter ihm die Fahnen der deutschen Fürsten. In der Mitte des Saales errichten die Helfer einen provisorischen Altar. Dafür verwendet man einen Tisch aus dem Audienzzimmer Ludwigs XIV., des Sonnenkönigs. Der Tisch, der auf seiner Platte eine Mosaiklandschaft der Niederlande trägt, wird mit einer roten Felddecke der 1. Garde-Infanterie-Division bedeckt. Und um ihn herum versammeln sich nun alle Geistlichen, welche die deutschen Truppen auf ihrem Frankreichfeldzug begleiten. Bald darauf füllt sich der Spiegelsaal. Nun treten die Angehörigen der deutschen Armeen aller Waffengattungen und Ränge ein und nehmen Aufstellung.

Als im Versailler Schloss alles angerichtet ist, verlässt König Wilhelm von Preußen um 12 Uhr mittags sein Quartier und fährt in einer offenen Kutsche zum Versailler Schloss. Er ist sich bewusst, dass er als preußischer König aufbricht und als deutscher Kaiser zurückkehren wird. Auf der Fahrt zum Schloss drehen sich seine Gedanken um seinen engsten Vertrauten Bismarck. Für den Bruchteil einer Sekunde verflucht er Bismarck, der ihn in diese zwiespältige Situation gebracht hat. Die Gründung des Reiches ist Bismarcks Werk, seinetwegen soll der preußische König nun deutscher Kaiser werden – obwohl Wilhelm es gar nicht möchte.

Als Wilhelm in Versailles ankommt, wird er von der 1. Kompanie der preußischen Königsgrenadiere empfangen, die am Eingang des Schlosses auf ihn wartet. Er schreitet die Garde ab, passiert das Reiterstandbild Ludwigs XIV. und betritt den Spiegelsaal von Versailles. Ihm schließen sich alle in Paris anwesenden deutschen Fürsten an. Sobald Wilhelm den ersten Fuß in den Spiegelsaal setzt, beginnt ein Chor von Sängern aus drei preußischen Regimentern »Jauchzet dem Herrn alle Welt«, eine Vertonung von Psalm 60, zu singen.

Wie vorgesehen stellt sich Wilhelm gegenüber dem Altar auf. Um ihn versammeln sich die Fürsten des künftigen Deutschen Reiches und symbolisieren so ihre Einheit. Ihnen folgen die Prinzen, Generäle und Minister der einzelnen deutschen Staaten. An der Spitze der Politiker steht der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck. Er verzieht keine Miene. Zeitzeugen werden später berichten, dass er während der gesamten Kaiserproklamation grimmig und verstimmt dreinblickte.

Die Feierlichkeiten im Spiegelsaal von Versailles beginnen mit einem Gottesdienst, den der königliche Hofprediger Bernhard Rogge – umringt von acht protestantischen Feldgeistlichen – abhält. Rogge ist immerhin bereits seit zwei Tagen in die Planung der Feier eingeweiht. Die versammelten deutschen Fürsten und Politiker stimmen in den Choral »Sei Lob und Ehr’ dem höchsten Gut« ein. Rogge, der das ihm vom preußischen König am Morgen persönlich verliehene Eiserne Kreuz am Talar trägt, tritt nach vorn und gibt den obligatorischen Befehl: »Helm ab zum Gebet!« Anschließend beten alle zusammen den für diesen Tag so passenden Psalm 21: »Herr, der König freuet sich in deiner Kraft, und wie fröhlich ist er über deine Hilfe!« Rogge beginnt danach mit seiner Predigt, die »Demut« als zentrales Motiv hat. Er verwendet dabei die preußisch-hohenzollerische Geschichte als theologische Erzählung, deren Höhepunkt das aktuelle Geschehen in Versailles sei. Dies unterstreicht er mit Psalm 126,3: »Der Herr hat Großes an uns gethan, deß sind wir fröhlich.« Im weiteren Verlauf der Predigt kritisiert er Frankreich und stellt Ludwig XIV. als biblischen Nebukadnezar dar, der sich über alle erhoben hat. Dabei deutet er effektvoll auf das mittlere Deckengemälde, das Ludwig XIV. über den Nachbarreichen und nahe am olympischen Himmel zeigt. Dann fährt der königliche Hofprediger mit der feierlichen Liturgie fort, die schließlich mit einem donnernden »Nun danket alle Gott« beschlossen wird.

Nun kehrt Ruhe ein. Wilhelm I. steht erhobenen Hauptes im Spiegelsaal von Versailles, um die Erneuerung der Kaiserwürde zu verkünden. Dabei steht er genau an der Stelle, an der früher der Thron der französischen Könige stand. Für die Repräsentanten der deutschen Mittel- und Kleinstaaten hält Wilhelm eine kurze Ansprache. Mehr soll es nicht sein. Bismarck will nicht, dass das neue Kaisertum sich in die Tradition der römisch-deutschen Kaiser stellt. Wilhelm ist ebenfalls dagegen. Denn er versteht sich zuallererst als preußischer König. Der Kaisertitel ist ihm im Grunde seines Herzens zuwider. Für das Volk und die Nachwelt hält Wilhelm daher keine Krönung, sondern eine Proklamation, die als Kaiserproklamation in die Geschichte eingehen wird.

Nun tritt Bismarck aus der Mitte der Fürsten an die Treppenstufen der Erhöhung und vollzieht tonlos und ohne jede Emotion die Kaiserproklamation und damit die Einheit Deutschlands sowie die Gründung des neuen Deutschen Reiches. Anschließend tritt Großherzog Friedrich von Baden nach vorn und bittet Wilhelm, seinen Schwiegervater, ein Hoch auf ihn aussprechen zu dürfen. Wilhelm gewährt ihm den Wunsch, woraufhin der Großherzog der gespannt wartenden Versammlung im Spiegelsaal die Worte entgegenschmettert: »Seine Kaiserliche und Königliche Majestät, Kaiser Wilhelm, lebe hoch!« Dieser Ausruf ist von größter Bedeutung, denn der Großherzog umgeht damit die Problematik des Kaisertitels – war Wilhelm I. nun »Kaiser von Deutschland«, »Kaiser der Deutschen« oder »Deutscher Kaiser«?

Wilhelm bevorzugt – wenn überhaupt – den Titel »Kaiser von Deutschland«. Dies könnte ihm aber als Anspruch auf die deutschsprachigen Gebiete Österreichs ausgelegt werden – und dies will Bismarck mit dem Titel »Deutscher Kaiser« vermeiden.

Nach diesem Ausruf erschallt sechsmal ein donnerndes Hoch der Anwesenden. Gleich danach – die Fahnen und Standarten der deutschen Fürstentümer wehen über dem Haupt des neuen Kaisers – stimmen die Anwesenden das »Heil Dir im Siegerkranz« an, das die Funktion einer Nationalhymne im Kaiserreich übernehmen wird. Kronprinz Friedrich Wilhelm von Preußen schreibt darüber in sein Tagebuch: »Dieser Augenblick war mächtig ergreifend, ja überwältigend und nahm sich wunderbar schön aus. Ich beugte ein Knie vor dem Kaiser und küsste ihm die Hand, worauf er mich aufhob und mit tiefer Bewegung umarmte.«

Danach schreitet Kaiser Wilhelm I. von der Erhöhung zu den Fürsten und Politikern hinab und schüttelt ihre Hände, wobei er Bismarck vollständig übergeht. Noch am Tag zuvor hatte er dem Ministerpräsidenten mitteilen lassen, dass er den Tag der Kaiserproklamation als den traurigsten Tag seines Leben empfinden werde. Bismarck sei dafür verantwortlich.

Ein Telegramm trägt die Kunde von der Kaiserproklamation in die Welt hinaus. Es sorgt für einen Tag des Jubels und Dankes. Doch nicht alle Deutschen stimmen in diesen Jubel ein. Der katholische Prinz Otto von Bayern beispielsweise empfindet den symbolischen Gründungsakt als fremdartig. Im Nachhinein schreibt er seinem Bruder, König Ludwig II. von Bayern: »Ach Ludwig, ich kann Dir gar nicht beschreiben, wie unendlich weh und schmerzlich es mir während jener Zeremonie zumute war [...]. Alles so kalt, so stolz, so glänzend, so prunkend und großtuerisch und herzlos und leer [...]. Mir war’s so eng und schal in diesem Saale.«

Bismarcks Triumph – Deutsches Reich ausgerufen!

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