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Flucht aus Deutschland

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Die Polizeistation war dem Bahnhofsgebäude angegliedert. Ein Beamter ging voran, Harry und Patrick bildeten die Mitte, und der andere Beamte folgte ihnen mit den Gepäckstücken hinterher.

Sie wurden in eines der Büros im ersten Stock geführt. Zuerst hieß es – Hände an die Wand und Beine auseinander – dann wurden sie nach Waffen abgetastet. Dann mussten sie alle Taschen leeren und nach außen drehen. Schließlich durften sie sich setzen. Ein Beamter beschäftigte sich nun mit dem Ausräumen ihrer Gepäckstücke, deren Inhalt er jeweils auf zwei nebeneinandergestellte Tische legte. Während der andere Beamte mit der Befragung anfing. »Habt ihr noch mehr Drogen?«, fragte er mit gereizter Stimme. »Gebt sie uns besser gleich, wir finden sie ja doch!«, schob er selbstsicher hinterher. Er wirkte wie jemand der mit seinem Job verheiratet war. »Wo habt ihr sie her? … Wart ihr in Amsterdam?«

Der andere Beamte hatte inzwischen den ganzen Inhalt von Harrys Rucksack auf den Tisch geräumt: zwei Hosen, eine Jacke, schmutzige Unterwäsche, Socken und Schuhe. Und dann hielt er den Waschbeutel in der Hand – daraus beförderte er nun: Eine Zahnbürste, eine Zahnpasta, eine Sonnencreme und die Plastikflasche mir der flüssigen Rasierseife.

»Los redet schon!«, drängte sein Kollege unnachgiebig. »Macht endlich den Mund auf!«

Sein Blick glitt immer wieder zu den Dingen aus Harrys Waschtasche und dann zurück zu Harrys Gesicht. Auf einmal lag ein Lächeln auf seinen Lippen und er nahm die flüssige Rasierseife aus den Sachen hervor.

»Gehört die dir?«, fragte er zu Harry gewandt.

Harry schluckte und nickte mit dem Kopf.

»Du brauchst dich wohl noch nicht zu rasieren?«, fragte er. Harry zuckte zusammen.

»Doch«, gab er erschrocken zur Antwort. Faktisch zeigte sich jedoch in Harrys Gesicht nur an den Koteletten feiner Flaum – ein paar Härchen, kaum der Rede wert – Kinn, Wangen und der Bereich über der Oberlippe waren so glatt wie ein Baby-Popo.

»Und wo ist dann dein Rasierer? Hast du überhaupt schon Bartwuchs?«, fragte der Beamte mit blitzenden Augen, während er die Plastikflasche, in Siegerlaune geraten, zwischen den Fingern langsam hin und her pendeln ließ. Harry wurde bleich. »H-h-h … hab ich im Hotel vergessen«, stotterte er.

Jetzt haben sie uns, ging es Harry durch den Kopf und ihm kam Anja in den Sinn – wenn er es nicht schaffen würde die Achttausend aufzutreiben, würde Marokkaner-Toni seine Geliebte in Beton gießen und in der Herengracht versenken. Er würde Anja nie wieder sehen.

Harry saß wie die Maus in der Falle und das Einzige, was ihn nun erwartete, waren mehrere Jahre Gefängnis. Die Situation schien ausweglos. Von Schrecken gepeitscht rasten ihm die Gedanken hin und her. Sein Blick ging zum Fenster, draußen schien die Sonne und ein strahlendblauer Himmel überspannte den Horizont.

Plötzlich sprang Harry aus seinem Stuhl, entriss dem völlig überraschten Beamten die Flasche mit der Rasierseife, war mit zwei Sätzen am Fenster, riss es auf und hechtete nach draußen. Er fiel zwei Meter tief und schlug sich Handkanten, Knie und Ellenbogen am Asphalt auf. Dann rannte er, ohne anzuhalten und ohne ein Ziel zu haben, blindlings drauflos. Hinter sich hörte er das laute Rufen der völlig überrumpelten Polizisten: »Halt! Halt! Stehenbleiben! … Halt! Halt! Stehenbleiben!« Er rannte die Straße hinunter, bog immer wieder ab, entdeckte eine verlassene Baustelle, rannte hinein und sah hinter einem weiteren Zaun ein Bahngelände. Mit einem Sprung hechtete er über den Zaun und verbarg sich in einem Gebüsch. Dreißig Meter entfernt, hinter mehreren Gleisen, stand eine Bahnarbeiterhütte. Er lief hinüber und kletterte über einen Mauervorsprung auf das Dach. Mit einem kräftigen Ruck riss er die Dachluke aus den Angeln und stieg ins Innere. Hier verbarg er sich zusammengekauert zwischen Rechen, Schaufeln, Spitzhacken und anderen Werkzeugen.

Weit entfernt waren Polizeisirenen zu hören. Etwa eine Stunde später vernahm er den Lärm eines Hubschraubers, der langsam das Gebiet über ihm abflog, bis er die Rotoren direkt über sich hören konnte – doch dann entfernte sich das Geräusch am Himmel wieder. Nach Stunden war Ruhe eingekehrt. Jetzt hörte er nur noch ab und zu das Poltern und Getöse eines vorbeifahrenden Zuges.

Mittlerweile machten sich Durst und Hunger bemerkbar. Harry hatte außer einem Kaffee und einem Stück Gebäck in Amsterdam nichts zu sich genommen und der Mund war ihm bereits trocken.

Er spähte durch kleine Spalten in der von der Witterung rissigen Holzwand nach draußen. Die Dämmerung hatte eingesetzt. Alles schien ruhig und unbewegt in ein graues Licht getaucht. Nahe der Bahnarbeiterhütte stand nun ein langer Güterzug, dessen Anfang und Ende bereits in der Dunkelheit entschwanden. Harry steckte sich die Rasierseife in den Hosenbund, stieg vorsichtig aus der Dachluke und kletterte dann wieder das Dach herunter. Unten angekommen duckte er sich in ein Gebüsch und beschloss, nachdem er sich überzeugt hatte, dass sich niemand in der Nähe befand, den Güterzug genauer in Augenschein zu nehmen. Es waren rostrote Güterwaggons, einer an den anderen gereiht, eine endlos scheinende Kette. Ein Geruch ging ihm in die Nase. Es roch nach Orangen. Überall lag Orangenduft in der Luft. Harry krampfte es den Magen zusammen. Er ging wieder zur Hütte zurück und beförderte eine Spitzhacke und einen riesigen Bolzenschneider durch die Dachluke nach draußen. Dann machte er sich an der Schiebetüre eines Waggons zu schaffen. Der Bolzenschneider schnitt so leicht durch den Sicherheitsbolzen wie ein Messer durch Butter. Nachdem er den Bolzen entfernt hatte, ließ sich die Türe knarzend zur Seite schieben. Harry kletterte in den Zug und stand inmitten unzähliger Kisten mit Orangen. Von Hunger getrieben nahm er eine heraus, riss die Schale auf und biss hinein. Vorzüglich, dachte er. Plötzlich ging ein Rucken durch die Waggons. Darauf folgte ein zweites Rucken, aber nun in die entgegengesetzte Richtung. Der Zug setzte sich langsam in Bewegung und wurde immer schneller und schneller. Bald war nur noch das gleichbleibende Geräusch der rotierenden Räder, die über die Schwellen der Gleise dahinpolterten, zu hören. Der Güterzug rollte durch die sternenklare seidige Nacht. Harry stellte die Flasche mit der Rasierseife neben sich auf den Boden, überprüfte noch einmal den Inhalt seiner Hosentaschen, wo er zum Glück etwas Geld fand und überlegte, wie es weitergehen sollte. Er dachte an Anja und es überkam ihn wieder das kalte Entsetzen, als ihm Marokkaner-Toni einfiel. Sobald er die Möglichkeit hatte, musste er schnellstens versuchen, das Heroin zu verkaufen.

Dann musste er an Patrick denken, wenn er sich beim Verhör geschickt anstellte, konnten sie ihm nicht viel anhaben und mussten ihn bald laufen lassen. Trotzdem würden sie ihm wahrscheinlich wegen des Rauchpieces aus seiner Geldbörse den Prozess machen.

Harry baute sich inmitten der Orangenkisten ein kleines Lager, damit er nicht gleich entdeckt wurde, falls jemand einen Blick in den Waggon warf. Dann wurden ihm die Augen schwer und er schlief ein.

Stunden später wurde er von Stimmen wach – der Zug stand still, er musste eine ganze Zeit durchgeschlafen haben.

»Deux wagons, puis je m'arrête«, hörte er eine Männerstimme. Darauf ertönte ein zweite: »Oh, nous irons directement.«

Es waren Schritte im Kies zu vernehmen, die sich entfernten. Erneut setzte sich der Zug mit einem Ruck in Bewegung. Bald hatte der stetig wiederkehrende Rhythmus der rotierenden Räder eingesetzt, die über das Gleisbett dahinhasteten. Harry schlummerte wieder ein.

Das nächste Mal wurde er wach, als der Zug seine Fahrt verringerte und im Schritttempo dahinrollte. Das ging eine Zeit so, bis er wieder an Geschwindigkeit zulegte. Nun änderten sich die Geräusche, alles hörte sich dumpf an, begleitet von dem fortwährenden Rauschen vorbeiströmender Luft, die sich in den Ecken und Kanten des Waggons verfing und zu einem gleichmäßigen Pfeifen anhob. Zudem war es stockdunkel geworden. Der Zug raste durch einen nicht mehr endenden Tunnel.

Der Drogenkoch

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