Читать книгу Der Rote Kolibri - Alexander Jordis-Lohausen - Страница 7
Die „Schiffstaufe“
ОглавлениеDie Fortuna , die von nun an für einige Jahre meine neue Heimat werden sollte, lag vor der Küste unweit des Dorfes vor Anker. Ihr langgezogener, schlanker Rumpf, mit leicht überhöhtem Achterdeck2, mit ihren drei hohen Masten, hob sich als malerische Silhouette gegen den klaren Morgenhimmel ab. Sie war etwa hundertsechzig Fuß3 lang und vierzig Fuß breit. Mit ihrer eindrucksvollen Segelfläche und einem Tiefgang von nur fünfzehn Fuß entkamen ihr auch die schnellsten Schiffe nicht, wenn sie es darauf anlegte. Der Anblick ihrer achtundzwanzig 24-Pfünder4 auf dem Kanonendeck, verstärkt durch zwölf 6-Pfünder auf dem Vorder- und dem Achterdeck hatten schon manchen Kauffahrer überredet, sich kampflos zu ergeben.
Sie war früher ein spanisches Orlogschiff 5 gewesen, bevor der „Capitán“, wie der Höllenwirt und alle anderen ihn nannten, sie einige Jahre zuvor in einer einsamen Bucht südlich von Alicante überrascht und in einem schnellen Enterangriff überrumpelt hatte. Diese unverhoffte Beute war für den Capitán und seine Seeräubergemeinschaft eine wichtige Prise6 gewesen, zumal sie in gutem Zustand und durch den kurzen Kampf nur wenig beschädigt war. Denn ihr altes Seeräuberschiff war langsam schwerfällig, sein Rumpf morsch geworden, und sie hatten es bald darauf verbrennen müssen. Das neue Schiff wurde auf den Namen „Fortuna“ umgetauft.
Diese Fortuna hatte, als ich ankam, etwa 200 Mann an Bord unter dem Kommando des Capitán, des Steuermanns El Indio und eines Kanoniers, den sie Pulver-Max nannten.
Als wir nach einer kurzen Fahrt im Ruderboot von einem Sandstrand am Fallreep7 der Fortuna ankamen, wurde ich von einem schlanken, kräftigen Kerl mit rötlichen Haaren und lachendem Gesicht empfangen.
„Ich heiße Nikolaus und bin der Schiffszimmermann. Ich soll dich in alles Nötige einweisen, und dich dann zum Capitán bringen!“ Und er sagte und tat es mit einer Herzlichkeit, die mir wohltat. Denn ich war mir plötzlich nicht mehr ganz so gewiss wie in der Sicherheit meines Dorfes, ob ich da wirklich die richtige Entscheidung getroffen hatte.
„Der Capitán“, erklärte mir Nikolaus, „stammt aus den spanischen Niederlanden und ist dort in der Tradition des Kampfes gegen die Spanier aufgewachsen. Sein Großvater war Wassergeuse8 gewesen. Er selbst ist schon jung als Seeräuber zur See gefahren, erst im Ärmelkanal und jetzt im Mittelmeer. Er hat es auch hier hauptsächlich auf die Spanier abgesehen. 'Die werden wir rupfen, solange Federn vorhanden sind', hat er mir mal gesagt. Wie viele spanische Handelsschiffe haben das zu spüren bekommen! Doch hat er es im Laufe der Jahre mit dem Unterschied zwischen spanischen und anderen christlichen Handelsschiffen nicht so genau genommen. Daher verfolgen sie uns nun fast alle, die Spanier, die Venezianer, die Neapolitaner, die Genuesen, … Sie haben uns aber bisher nicht erwischt. Die Spanier nennen ihn Capitán Diablo9, und unter dem Namen ist er im ganzen Mittelmeer bekannt.“
Damit ließ er mich vor der Kajüte des Capitán auf dem Achterschiff allein. Ich klopfte an und trat ein. Ein prunkvoll geschmückter Raum. Alle Möbel waren aus wertvollem Holz und hätten eher in ein Schloss gepasst als auf ein Seeräuberschiff. Der Capitán saß kerzengrade hinter einem einfachen, aber eleganten Schreibtisch und musterte mich. Er hatte ein langes Gesicht mit einer großen Hackennase, sauber gestutztem Schnurrbart, Spitzbart und Allongeperücke. Er war in Samt und Seide gekleidet mit weißem Spitzenkragen. Man wäre versucht gewesen, ihn für einen Edelmann zu halten, wenn nicht eine schwarze Augenklappe sein fehlendes linkes Auge bedeckt und eine breite rote Narbe sich vom rechten Ohr über den Mund bis zum Kinn hinabgezogen hätte. So glich er letztlich doch eher einem jener unheimlichen Unholde aus den Märchen.
„Du bist Sebastian, der neue Schiffsjunge! Ich frag dich nicht, warum du unter die Seeräuber gehen willst. Hier hat jeder das Recht auf seine Vorgeschichte. Die geht mich nichts an.“ sagte er derb, aber nicht unfreundlich. Ich war enttäuscht, denn ich hätte ihm gerne von meinem Rachegrimm auf die Pfeffersäcke erzählt. Aber er war offensichtlich nicht interessiert. Dagegen fuhr er fort:
„Ich will dir auch keine goldenen Berge versprechen. Dagegen will ich dir gleich eins sagen, und schreib es dir hinter die Ohren: erstens, dieses Schiff ist kein Fischerboot, die Fische, die wir fangen, können gefährlich sein und wir werden nicht zimperlich mit ihnen umgehen. Wenn du dazu nicht den Mut hast, ist es besser, du schiffst dich gleich wieder aus!“ Ich nickte.
„Zweitens, hier sind alle gleich, aber dennoch kann nur einer befehlen, und auf diesem Schiff befehle ich! Ich erwarte unbedingten Gehorsam von dir! Verstanden?“
Ich nickte.
„Du siehst mir intelligent aus. Wenn du dich an diese Regeln hältst, wirst du es nicht bereuen. Bis auf weiteres wird dich Nikolaus einweisen.“ Ich schwieg.
„Und noch etwas! Du scheinst nicht unnötig redselig zu sein. Das ist gut! Denn was immer ich dir zu sagen habe, geht nur dich und mich an! Verstanden?“ Ich nickte wieder.
„Und was bekomm ich von dir, Kapitän?“ wagte ich zu fragen
Dem Capitán blieb erst mal der Mund offen, so sehr schien ihn meine Frage zu verblüffen.
„Du hast wohl einen Sparren zu viel oder zu wenig, du Grünschnabel! Glaubst du vielleicht, wir sind in einem Krämerladen? Du kannst von Glück sagen, dass ich dich überhaupt aufgenommen habe. Protektion kriegst du von mir, hörst du? Meine Protektion! Und wenn dir das nicht genügt, kannst du noch heute wieder von Bord gehen!“ schnaubte er wütend.
„Ich gebe dir sechs Monate Probezeit, wenn du die nicht bestehst, wirst du bei nächster Gelegenheit wieder ausgesetzt. Und jetzt verschwinde!“
Nikolaus nahm mich vor der Kajüte des Capitán wieder in Empfang. Er stellte keine Fragen.
„Ich werde dir jetzt deine fürstlichen Gemächer zeigen.“ meinte er lachend und stieg mit mir hinunter ins erste Zwischendeck10.“ Hier wirst du deine süßen Träume träumen!“
Aber ich sah nichts als eine niedere Balkendecke, unter der sich ein weiter offener Raum ausdehnte. Die Luft war stickig.
„Hier schlafen wir nachts in Kotzen oder Mäntel gehüllt. Einer neben dem anderen. Das hält warm. Einige haben auch Hängematten.“ Er lachte. „Du wirst dich schon dran gewöhnen! In der Früh wird alles weggeräumt, denn hier darf nichts im Weg sein, wenn wir „ran“ müssen! Manchmal haben wir hier auch Schafe oder Ziegen oder Federvieh „zu Gast“. Es stinkt dann noch ein wenig mehr, aber was tut man nicht alles für einen frischen Braten. Wir sind hier gerade unter den schweren Kanonen, die du oben auf dem Hauptdeck festgezurrt gesehen hast.“ Dann zog er eine kleine Flöte aus der Tasche, spielte eine Soldatenmusik und marschierte mit mir wieder die Treppen hinauf. Ich folgte etwas nachdenklich. Nikolaus, der wohl meine Gedanken erriet, fügte hinzu: „Hier an Bord haben nur der Capitán und der Steuermann eine eigene Kajüte.“ Ich sagte nichts, aber ich nahm mir vor, bald selbst Kapitän oder Steuermann zu werden.
„Man wird dir ein paar Daunen rupfen, mein lieber Sebastian.“ hatte mir Nikolaus gleich bei meiner Ankunft mitgeteilt. „Aber mach dir nichts draus, es gehört nun mal zu den Sitten dieses Schiffes, dass sich jeder Neuankömmling „taufen“ lassen muss.“
„Und was steht mir da bevor?“ fragte ich beunruhigt.
„Mit dem Pulver-Max musst du dich messen, ein Zweikampf, bei dem fast jeder ein paar Federn lässt, denn Pulver-Max ist der Stärkste der Mannschaft. Für die Mannschaft ist das jedes Mal ein lang erwartetes Heidengaudium. Und glaub’ mir, sie werden sehr genau beobachten, wie du dich hältst. Aber mach’ dir nicht zu viele Sorgen, mit dir wird der Pulver-Max nicht kämpfen wollen, bei Schiffsjungen ist eine Tracht Prügel üblich. Du kannst dich natürlich wehren, aber......“ Ich wusste wohl, was sein Achselzucken bedeutete. Ich begriff vor allem, dass dabei um meinen künftigen Ruf auf diesem Schiff gespielt würde. Und ich war nicht bereit, mich so leicht unterkriegen zu lassen.
Die „Schiffstaufe“, wie sie es nannten, ereilte mich schneller als ich dachte. Denn als wir vom Zwischendeck wieder aufs Oberdeck hinaufkamen, wartete schon die ganze Mannschaft auf mich. Um bei dem Schauspiel nicht im Wege zu stehen und um einen guten Überblick zu haben, hingen sie alle, wie ausgeschwärmte Bienen in den Wanten11 des Groß-12 und des Fockmasts13 und harrten gespannt, wie das Schauspiel diesmal ausgehen würde. Mich störte es, dass sie da alle hingen, denn dieser Weg nach oben hätte mir helfen können. Ich musste mir etwas anderes einfallen lassen.
Pulver-Max stammte, wie der Capitán, aus Flandern und war ihm mit Leib und Seele ergeben. Er war ein brutaler Draufgänger. Sein schwerer Körper wirkte trotz seiner Größe gedrungen, und seine Muskeln waren beeindruckend. Sein großer, runder Glatzkopf, seine dicken sinnlichen Lippen, zu einem siegesgewissen Grinsen gespalten, und seine Glupschaugen gaben ihm einen dummdreisten Ausdruck, der große Eisenhacken, der seinen linken Arm abschloss, einen unheimlichen.
Ich hatte Angst. Ihm widerstehen zu wollen, wäre heller Wahnsinn gewesen. Ich konnte nur hoffen, schneller und wendiger zu sein als er. Wie, wusste ich noch nicht. Ich hatte seinerzeit bei einem Faustkampf auf dem Markt in Marseille einmal beobachtet, wie kalt man bleiben muss, um Aussicht auf Erfolg zu haben, wie nützlich es ist, den Gegner in Wut zu versetzen, damit er Fehler macht. Ließ sich dieser Koloss in Wut versetzen? Vielleicht! Auf ersten Blick hielt ich ihn für eitel und misstrauisch und unbeherrscht-jähzornig, sobald ihm irgendetwas widerstand. Irrte ich mich? Ich würde es bald sehen!
Er stand schon breitbeinig mitten auf dem Oberdeck, die Arme ausgebreitet und lockte mich mit winkenden Armbewegungen.
„Komm, kleiner Kolibri14! Komm doch, du roter Kolibri! Komm her zum Pulver-Max, damit er dir die Flügel stutzt!“
Ich war eher schmächtig und hatte mir ein rotes Tuch um den Kopf geknüpft, um verwegener auszusehen. Mag sein, dass ich tatsächlich einem jener winzigen Vögel ähnelte, die man mühelos mit zwei Fingern erdrosseln konnte. Wenn man sie erwischt! Darauf kam es an! Wenn man sie erwischt! Erstmal aber war mir übel vor Angst. Meine Knie schlotterten in den viel zu großen Segeltuchhosen. Ich versuchte, es mir so wenig wie möglich anmerken zu lassen. Noch stand ich geschützt hinter dem Großmast und lugte mal rechts, mal links dahinter hervor, bemüht mit verschiedenen Grimassen meine Beklommenheit zu verbergen, ja sogar herausfordernd zu wirken. Die Mannschaft begann sich zu amüsieren:
„Na, Pulver-Max, erwischt du ihn nicht, deinen Kolibri?“ rief einer von oben herunter, das löste Gelächter aus. Es gab mir etwas Mut. Zumal sich das stiernackige Ungetüm darüber zu ärgern schien. Er kam langsam näher. Bald stand er breitbeinig hinter dem Mast, beide Arme rechts und links vorgestreckt. Doch ich war inzwischen einige Fuß zurückgewichen und stand jetzt ebenfalls breitbeinig, beide Arme ausgestreckt, und äffte seine Handbewegungen nach:
„Komm doch ran, du Vogelscheuche! Ja, komm doch näher, alte Vogelscheuche!!“
Die Mannschaft brüllte vor Vergnügen. Sein Gesicht lief vor Wut rot an. Ich fühlte mich etwas besser und überlegte fieberhaft. In wenigen Sekunden war mein Plan fertig. Alles hing jetzt von meiner Geistesgegenwart und Schnelligkeit ab.
Wir waren immer noch durch den Mast getrennt. Die Mannschaft johlte. Plötzlich schoss Pulver-Max backbords15 am Mast vorbei etwas schwerfällig auf mich zu. Aber ich war schon an die Steuerbordverschanzung16 entwischt. Er machte eine Wendung, lief mir nach und entwickelte dabei eine erstaunliche Geschwindigkeit. Als er ankam, duckte ich mich blitzschnell. Er prallte mit dem Arm gegen die Verschanzung. Die Mannschaft grölte lauthals. Ich hatte inzwischen die Backbordverschanzung erreicht. So standen wir einander gegenüber, durch die Breite des Decks getrennt. Pulver-Max rieb sich seinen Arm. Ich stieg indessen auf die Verschanzung, machte mit den Armen Flügelbewegungen und äffte wieder:
„Komm doch ran, alter Krachwadel! Der rote Kolibri fliegt gleich weg!!“ Fast hätte ich dabei das Gleichgewicht verloren und musste mich an den Wanten festhalten. Mein Spott und das immer lauter werdende Gejohle der Mannschaft verfehlten ihre Wirkung nicht.
„Roten Saft sollst du pissen, du Galgenvogel!“, schnaubte Pulver-Max, jetzt richtig wütend. Er löste sich von der Verschanzung und raste wie ein wilder Stier auf mich zu.
Jetzt kam es auf die Sekunde an! Ich blieb ruhig stehen und flatterte weiter wie ein Vogel. Erst als er in vollem Lauf, Kopf und Arme vorgestreckt, auf wenige Zoll heran war, stieß ich mich mit den Füssen kräftig ab und sprang rücklings hinunter ins Meer.
Damit hatte Pulver-Max, in seiner blinden Wut, nicht gerechnet. Er stürmte mit voller Wucht ins Leere, verlor das Gleichgewicht und machte einen nicht sehr vollendeten Kopfsprung ins Wasser. Die Mannschaft brüllte vor Begeisterung. So gut hatten sie sich schon lange nicht mehr unterhalten. Ich tauchte seitwärts ab. Der Koloss schlug wie eine Bombe neben mir ein, dass es hoch aufspritzte. Als ich am Fallreep auftauchte, drängten sie sich schon über mir an der Verschanzung und überschütteten Pulver-Max mit Spott und guten Ratschlägen. Ich kletterte hoch. Nikolaus nahm mich in Empfang und klopfte mir anerkennend auf den Rücken.
Wie ich vermutet hatte, konnte Pulver-Max, wie die meisten Seeleute, nicht schwimmen. Um nicht unterzugehen, schlug er wild im Wasser um sich, prustete, und schnappte nach Luft. Die Mannschaft antwortete mit schallendem Gelächter. Er wäre vielleicht ertrunken, wenn sie ihm nicht unter Gejohle Taue hinuntergeworfen und Enterhacken entgegengestreckt hätten, bis auch er das Fallreep erreichte. Der Capitán soll Tränen gelacht haben, -- was selten vorkam -- als er von der Geschichte erfuhr. Pulver-Max, dagegen, hat sie mir nie verziehen. Schon wenige Tage später wollte er Rache nehmen, als ich ihm unter Deck unerwartet in die Arme lief. Er schleppte mich gewaltsam nach oben. Die Mannschaft, die ihn eben noch verspottet hatte, feuerte ihn jetzt mit demselben Vergnügen an, als er sich anschickte mich ordentlich zu verprügeln. Mit einem Arm hielt er mich umschlungen, daß mir fast der Atem ausging, mit dem anderen holte er eben aus, als ich ihm wild in den Oberarm biss. Fluchend schleuderte er mich, Kopf voraus, gegen den Hauptmast, wo ich benommen liegen blieb. Doch als er sein Werk vollenden wollte, fuhr ihm ein sengender Peitschenhieb von hinten über den nackten Rücken. Er zuckte zusammen und fuhr herum, bereit zurückzuschlagen. Doch der Capitán stand ihm gegenüber. Er hatte sich einen Weg durch die eng zusammengedrängte Menge gebahnt und brüllte nun:
„Du hast deine Chance gehabt nach alter Tradition, Pulver-Max! Wenn du dich noch weiter an Schwächeren vergreifen musst, so tu es an Kauffahrern, aber nicht an meinem Schiffsjungen!“
Pulver-Max stand regungslos mit geballten Fäusten. Vor dem Capitán hatte er Angst und Respekt.
So bin ich mit einem brummenden Kopf davongekommen. In der Folge hat er immer wieder mal versucht, mich zu unterdrücken, aber bis dahin hatte ich gelernt mich halbwegs zu schützen. Bei der Mannschaft hingegen war mein Ruf sichergestellt. Und der Name „der rote Kolibri“ ist mir erhalten geblieben.
Ich wurde noch einer ganzen Reihe von Proben unterworfen und bin nach sechs Monaten in die Gemeinschaft der Seeräuber aufgenommen worden.