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Bruder Salomon

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Bald nach diesen Ereignissen kam mir unverhofft jemand zu Hilfe, der mir viele neue Tore öffnen sollte: Bruder Salomon.

Es war schon Nacht, als wir einige Wochen später im Schutze einer kleinen Felsenbucht nördlich von Neapel vor Anker gingen. Als der Capitán mit einer Laterne eine Reihe von Signalen gab, kam ihm augenblicklich vom Land her eine Lichtantwort zurück. Man hatte mir schon erzählt, dass er überall an den Küsten des Mittelmeers seine Handlanger und Stützpunkte habe. Das war einer davon!

Hier erwarteten uns die ortsansässigen Schmuggler, um uns die erbeutete Ladung abzunehmen -- der Erlös wurde später verteilt -- und um uns alles zu liefern, was wir an Bord brauchten. Hier trat dann auch Caballo in Aktion, denn er war nicht nur für die tägliche Küche, sondern auch für die gesamte Lebensmittel- und Wasserversorgung der Fortuna zuständig. Da fast alle Vorräte in größeren oder kleineren Tonnen oder Fässern gespeichert wurden, hieß er denn auch der „Tonnenmeister“. Er stand die ganze Nacht auf seinen Krückstock gestützt an Bord und brüllte Anweisungen.

Auch wir arbeiten die ganze Nacht hindurch, die Boote zu beladen und zu entladen. Noch im frühen Morgengrauen fuhren sie zwischen der Küste und der Fortuna hin und her. Als es langsam hell wurde, schickte mich El Indio an Land, Wache zu halten, damit wir nicht zu guter Letzt noch von Zöllnern überrascht würden. Ich war froh, mal wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren.

Die kleine Bucht war auf drei Seiten von Felsen umgeben. Ein steiler Pfad führte vom Sandstrand nach oben, wo sich einige große Schirmkiefern dunkel gegen den klaren Morgenhimmel abhoben. Dort hinauf kletterte ich und begegnete auf dem engen Steig den bunten Gestalten, die mit ihren vollgepackten Maultieren nach unten strebten. Diesmal waren es Materialien, die wir für Reparaturen an Bord brauchten. Ich war voller Bewunderung mit welcher Pünktlichkeit dieser Handel nach nur ein paar kurzen nächtlichen Lichtsignalen von statten ging.

Oben angekommen breitete sich eine liebliche Hügellandschaft vor mir aus. In der Ferne ein langgestrecktes Gebäude mit einer Kirche, davor vereinzelte Bauernhöfe. Sonst nur Felder, hier und dort ein paar Kiefern oder schlanke Zypressen. Die Sonne ging gerade auf.

Stell dich dorthin, wo du sowohl das Schiff als auch den Weg ins Hinterland überschauen kannst und ruf herunter, sobald jemand kommt, besonders, wenn es Zöllner oder Soldaten sind. Aber geh nicht zu weit weg!“ hatte Nikolaus mir eingeschärft. „Und vor allem sei unauffällig!“

Ich strebte den Kiefern zu. Dort glaubte ich alles überblicken zu können.

Als ich bequem gegen einen Stamm gelehnt auf den trockenen Kiefernnadeln saß, überkam mich langsam die Übernächtigkeit. Und bald schwebte ich wohlig zwischen Schlaf und Wachen. Doch plötzlich knackte es hinter mir und noch ehe ich aufspringen konnte, stand ein großer, schlanker Mönch vor mir. Er war vielleicht doppelt so alt wie ich, hatte ein hageres Gesicht mit spitzer Nase und ein verschmitztes Lächeln auf dem breiten schmalen Mund.

Wer kein Aufsehen erregen will, muss sehen ohne gesehen zu werden, piccolo capitano!“ sagte er spöttisch.

Ich schwieg unwillig. Es ärgerte mich, dass ich mich hatte überrumpeln lassen, was zu verhindern ja gerade mein Auftrag gewesen war. Als er meine offensichtliche Bedrängnis sah, fuhr er fort:

Nimm es nicht so ernst! Ich werde euch niemandem verraten! Mach dir auch keine Sorgen, ich bin ganz allein. Ich gehe oft hier spazieren und habe euch nicht aufgelauert. Aber Geräusche steigen hoch, deswegen hört man oben alles, was unten am Strand gesprochen wird.“

Dann weißt du auch, wer wir sind?“

Du siehst zwar gar nicht danach aus, aber ich nehme an, dass ihr Schmuggler und Seeräuber seid.“

Warum sehe ich nicht danach aus?“

Nur so ein Eindruck. Es scheint mir, dass Mord, Totschlag und Reichtümer nicht deine Lebensziele sind.“

Ich schwieg.

Ist es nicht so?“

Er sah mich jetzt mit einem so freundlichen Lächeln an, dass ich mich entschloss, ihm zu erzählen, warum ich unter die Seeräuber geraten war. Ich hatte ja nicht viel zu verlieren. Diesen jungen Mönch, dachte ich, würde ich nie wiedersehen. Seine Frage kam mir sogar gelegen, denn ich wollte mir jetzt, nach ein paar Monaten auf See, mal wieder darüber klarwerden, ob ich wirklich auf dem Pfad war, den ich hatte einschlagen wollen. So schilderte ich ihm in allen Einzelheiten, wie es dazu gekommen war.

Als ich geendet hatte, hockte er sich vor mir nieder und fasste mich freundschaftlich bei den Schultern.

Kleiner Bruder, wie gut ich dich verstehe. Ist es mir nicht ähnlich ergangen? Aber sag mir, befriedigt dich, was du nun erlebst?“

Kleiner Bruder“ hatte er gesagt. Wie oft hatte ich mir insgeheim einen großen Bruder gewünscht. Und nun stand da jemand vor mir, der mir sofort vertraut war, der mich sofort zu verstehen schien.

Ich weiß es nicht!“ antwortete ich ihm, „Es freut mich, meinen Freunden im Dorf und meinen Eltern das geben zu können, was sie schon lange hätten bekommen sollen. Aber stellt das wirklich Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit her?“

Er lachte, setzte sich neben mich und legte seinen Arm um meine Schultern.

Poverino! Du hast offensichtlich vom Leben noch herzlich wenig mitbekommen, sonst hättest du schon begriffen, dass es eine wahre Gerechtigkeit und eine wahre Freiheit in dieser Welt nicht gibt. Und Gleichheit ist sowieso eine Täuschung. Soll ich dich aus deinem Traum erwecken?“

Ich wollte ihm widersprechen. Aber er fuhr ohne meine Antwort abzuwarten fort. Ich merkte, wieviel auch er auf dem Herzen hatte und jemandem anvertrauen wollte.

Schau mal, niemand ist dem anderen gleich und wird es nie sein, weder bei seiner Geburt noch später. Die einen werden reich geboren, die anderen arm, die einen klug, die anderen töricht, die einen böse und verschlagen, die anderen gut und ehrlich, die einen wollen führen, die anderen geführt werden et cetera. Wo kann da Gleichheit herrschen? Dagegen, hast du recht, alle Menschen sollten gleich behandelt zu werden, sollten die gleichen Rechte haben, aber auch das wird es in unserer Welt nie geben. Und selbst, wenn es das gäbe, würden die Menschen damit nicht alle gleich.“

Ich wollte einwenden, dass doch in unserem Dorf alle Fischer gleich seien, aber er war schon beim nächsten Thema.

Und was Gerechtigkeit und Freiheit anbelangt, kleiner Bruder, kann ich dir aus meiner eigenen Erfahrung im Kloster sagen, dass unsere Freiheit beschränkt ist durch die Regeln, die jede Gemeinschaft für ihr Zusammenleben festlegt. Denn würde ein jeder in völliger Freiheit tun und lassen können, was er will, herrschte überall heilloses Chaos. Bedauerlicherweise sind diese Regeln nur zu oft durch die Belange der Mächtigen verzerrt. Das ist eine der Ungerechtigkeiten unserer Welt. Nimm meine Klostergemeinschaft als Beispiel. Sie steht auf der Seite der Reichen und Mächtigen, weil sie selbst reich und mächtig ist. Und ihre Freiheit und Gerechtigkeit kommt selten den Armen zugute. Schau dir doch die Bauern hier an“, -- und er machte eine Handbewegung in Richtung der Bauernhöfe vor uns, -- „die sind ebenso schlecht dran, wie die Fischer in eurem Dorf. Alles Land in dieser Gegend gehört dem Kloster. Die Bauern dürfen es bearbeiten, aber müssen dafür einen großen Teil ihrer jährlichen Ernte abliefern. Und das Kloster wird wenig unternehmen, um diese Ungerechtigkeit auszugleichen. Dafür verspricht man ihnen das ewige Leben, aber davon werden sie nicht satt. Ich stamme aus einer dieser Bauernfamilien. Auch ich hatte gehofft, ich würde etwas für das Los der Bauern tun können, als ich in die Klostergemeinschaft eintrat. So wie du dir etwas Ähnliches erhoffst, seit du Seeräuber geworden bist. Durch Jahre habe ich studiert und viel gelernt. Dafür bin ich dankbar. Ich habe gebetet und gefastet und auch das hat mir gutgetan. Aber den Glauben an die Gerechtigkeit auf dieser Welt, den habe ich schon lange verloren. Deswegen gehe ich bisweilen hier oben auf den Klippen spazieren und träume von den Heldentaten, die ich nicht vollbracht habe. Und wenn ich könnte, gäbe ich noch heute das Klosterleben auf.“

Er war ein guter Redner, der junge Mönch. Und es glühte ein Feuer in seinen Augen, das mir verriet, wie tief ihn berührte, was er mir eben anvertraut hatte.

Wir schwiegen beide, wie erschöpft von einer großen körperlichen Anstrengung.

Ich dachte nach. Ich wollte diesen klugen, großen Bruder nicht wieder verlieren. Gerade erst hatte ich ihn kennengelernt, aber schon war er mir fast unentbehrlich geworden. Natürlich liebte ich Nikolaus über alles. Doch das war anders, mit ihm konnte ich nicht so über meine Gedanken, Probleme und Pläne sprechen.

Schließlich sagte ich und legte dabei schüchtern meine Hand auf die seine:

Hör zu, großer Bruder, ich habe Vertrauen zu dir. Wenn wir uns zusammentäten, könnten wir gemeinsam große Werke tun. Denn du kannst klar ausdrücken, was ich fühle. Warum kommst du nicht mit uns?“

Er schwieg eine Weile.

Du bist ein erstaunlicher piccolo capitano und ich bin sicher, du wirst es zu etwas bringen!“ sagte er schließlich, „Vielleicht hast du recht, denn hier kann ich nichts mehr ausrichten. In einem Jahr soll ich die Weihen empfangen, aber ich fühle mich schon lange nicht mehr dazu berufen. Aber was wird dein „gran capitano“ dazu sagen? Wird er mich aufnehmen wollen?“

Weißt du, bei den Seeräubern gibt es viele Muskeln und wenig Hirn. Wenn sich da einmal ein Hirn anbietet, das Klugheit und Überlegung mitbringt, dann wäre der Capitán dumm, es abzulehnen. Nur was wir eben an höheren Zielen besprochen haben, lass vorerst unser Geheimnis bleiben. Ich kenn unseren Capitán noch nicht gut genug, um zu wissen, wie er dazu steht.“

Es sei, kleiner Bruder!“ Ich jauchzte innerlich vor Freude. „Gebt mir ein anderes Gewand und ich trete bei Euch ein, solange ihr mich nicht zum Töten zwingt.“

Gerade, als er das sagte, wurde unten am Strand ungeduldiges Geschrei laut: “ Kolibri! Kolibri!“

Wir eilten beide den Felsenpfad hinunter, denn ich hatte wenig Lust hier zurückgelassen zu werden. Das Erstaunen war groß, als ich unten plötzlich mit einem jungen Mönch auftauchte, der noch dazu fragte, ob er bei uns eintreten könne. Ich hatte ein Risiko auf mich genommen. Würde das gut ausgehen? Doch ich hatte mich nicht geirrt, der Capitán besprach sich mit El Indio und sie kamen überein, meinen neuen Freund aufzunehmen.

Für euer Ave Maria und Laudate Dominum haben wir hier an Bord keine Verwendung und für ein Halleluja auch nur, wenn der Handelsmann die Flagge streicht. Aber wenn du Seekarten lesen kannst, wenn du von Berechnungen was verstehst, wenn du einen Sinn für Strategie und Verhandlungen hast, und vor allem, wenn du bereit bist, dich meinen Befehlen zu unterwerfen, dann kann ich dich gebrauchen!“ sagte der Capitán. Damit waren sie einig geworden. Und zum Töten wolle man ihn auch nicht zwingen.

Mein großer Bruder wurde wegen seines Wissens und seiner Klugheit bald von allen Bruder Salomon genannt. Und man sah ihn immer häufiger im Gespräch mit dem Capitán oder in dessen Kajüte über Seekarten oder Schriftstücke gebeugt.

Dennoch hat Bruder Salomon immer Zeit gefunden, mich mit echter Zuneigung, unter seinen Talar zu nehmen, wie er es nannte, um mich zu hobeln und zu rülpen, mir gute Manieren beibringen und aus mir einen „Studierten“ zu machen. Ich war wissbegierig und bin daher gerne darauf eingegangen. Denn nicht lesen und schreiben zu können, kam mir in dem Kampf gegen die reiche, ungerechte Welt als ein großer Nachteil vor.

So saß ich denn in den nächsten Monaten in den Stunden, in denen ich nicht auf Deck die Planken schrubbte oder oben in den Rahen hing oder mit dem Perspektiv39 im Hosenbund hinauf in den Ausguck kletterte, oder sonstige Dienste verrichtete, mit Bruder Salomon zusammen, um Buchstabe für Buchstabe und Wort für Wort in jene hohe Kunst des Lesens und Schreibens einzudringen. Es tat sich mir damit eine ganz neue Tür auf, hinter der eine unendlich weite Welt zu liegen schien. Meist allerdings kam ich erst nach der anstrengenden Arbeit an Bord dazu. Mehr als einmal war ich drauf und dran, aus Erschöpfung und Ärger alles hinzuwerfen. Doch Bruder Salomons freundlich-herausfordernde Art hielt mich immer wieder bei der Stange, weil ich ihm zeigen wollte, dass ich trotz seiner vorgeblichen Zweifel triumphieren und ihn Lügen strafen würde.

Er wusste, was er tat und ich habe Bruder Salomon zu verdanken, dass ich nicht nur Schreiben und Lesen gelernt, sondern in den darauffolgenden Jahren in unzähligen Gesprächen viel Kenntnis gesammelt habe über Literatur, Geschichte, Kunst und Philosophie, vor allem aber auch über die Menschen und ihr Zusammenleben. Kurz, ihm verdanke ich fast all meine Bildung und damit auch die Fähigkeit, später in einer Welt gelassen aufzutreten, die mir sonst fremd geblieben wäre.

Bruder Salomon besaß die herrliche Gabe sich auch für die unscheinbarsten Dinge zu interessieren und zu begeistern, ihnen nachzuforschen und sie lebendig werden zu lassen. Ich habe in der Folge versucht, mir diese Gabe zu eigen zu machen, als ich merkte, wie sehr sie das Leben bereichert.

In all der Zeit hat mein Streben nach Gerechtigkeit und nach Rache an Zeck und all den Pfeffersäcken nicht nachgelassen. Das gab mir Kraft. Bruder Salomon, dagegen, der einmal stark an etwas geglaubt und diesen Glauben verloren hatte, war ein unverbesserlicher Skeptiker. Wir waren daher auch nicht immer einer Meinung, aber das hat unsere Freundschaft nie getrübt. Im Gegenteil, es hat mir geholfen, meine eigenen Vorstellungen neu zu überdenken, sie klarer auszudrücken und meine Sicht der Welt im Einzelnen deutlicher werden zu lassen. Doch irgendwann genügte es mir dann nicht mehr, mich nur mit Gedanken auseinanderzusetzen. Ich drängte darauf, sie auch in die Tat umzusetzen, um zu prüfen, ob sie der harten Wirklichkeit standhalten würden. Bruder Salomon begleitete mich auch dabei mit seinem Rat. Kurz, unser brüderliches Verhältnis hat sich mit der Zeit zu einer echten Freundschaft entwickelt. Gemeinsam besprachen wir unser Streben und lebten es später aus, wobei er meist die denkend-vorbereitende Rolle übernahm, ich die handelnd-organisatorische. Wir ergänzten einander trefflich.

Nikolaus hat sich sehr schnell an Bruder Salomon gewöhnt und ihn als einen wertvollen Ratgeber anerkannt, aber richtige Freunde sind sie nie geworden. Auch an meinem Unterricht und unseren Gesprächen wollte er nicht teilnehmen. „Ich dank dir, Kolibri! Aber weißt du, Lesen und Schreiben habe ich gelernt. Und mit hohen Gedanken konnte ich nie viel anfangen. Da bleib ich doch lieber bei meiner Flöte, die hilft mir über die Runden!“ hat er mir geantwortet.

Der Rote Kolibri

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