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Die erste Prise

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Noch am Tag meiner Einschiffung stachen wir in See. Fasziniert sah ich zu, wie die Männer in schwindelnder Höhe über den Rahen17 hingen und die Reffschnüre18 lösten, bis die Segel knatternd herunterkamen. Eine Weile schlugen sie noch, bis sie vollgebrasst19 vom Wind gefüllt waren. Der gelichtete Anker war schon gekattet20. Und bald spürte ich unter meinen Füssen, ja mit meinem ganzen Körper, wie die Fortuna mit weichen Bewegungen die Dünung21 durchfurchte.

Ich fühlte mich frei und glücklich - mein Seeräuberleben hatte wirklich begonnen. Bald würde auch ich hoch oben auf den Rahen liegen, würde bis in die untersten Decks des Schiffes hinuntersteigen. Die Fortuna würde mir all ihre Geheimnisse enthüllen.

Drei Jahre habe ich dem Capitán gedient. Es war eine harte Lehrzeit, aber ich habe sie nicht bereut. Zur Mannschaft, einem bunten, wild zusammengewürfelten Haufen, hatte ich ein zurückhaltendes Verhältnis. Ich vertraute mich niemandem völlig an. Und sie fühlten sehr bald, dass ich immer mehr zum Kreis des Capitáns gehörte. Das machte die einen liebdienerisch und die anderen misstrauisch.

Dagegen habe ich mich mit Nikolaus sofort angefreundet. Er hatte mich vor der Schiffstaufe gewarnt, er hatte mich überall eingeführt. Wir wurden sehr schnell Blutsbrüder. Ich hätte mit ihm das Herz im Leib geteilt, und wir wären, der eine für den anderen, durchs Feuer gegangen. Ich war dankbar in ihm jemanden gefunden zu haben, der gewillt schien, mir mit viel guter Laune über diese erste schwere und einsame Zeit hinwegzuhelfen, die nun meine Kindheit abgelöst hatte. Nikolaus stammte aus Deutschland, hatte in der stolzen freien Reichsstadt Frankfurt am Main das Zimmermannshandwerk erlernt. Doch die kleinen, schmalen Gassen zwischen den hohen prunkvollen Fachwerkhäusern um den Kaiserdom und um den Römer herum und die Unbeugsamkeit der Zunftregeln waren ihm bald zu eng geworden. Vielleicht war er auch noch vor etwas anderem auf der Flucht. Jedenfalls suchte er die weite, unbegrenzte Welt. Auf einem Frachtkahn erreichte er main-und-rheinabwärts Rotterdam. Zwei Jahre arbeitete er für einen Schiffsbauer, bis er dem Capitán über den Weg lief und ihm folgte. Nikolaus hatte nichts von jener schweren Ernsthaftigkeit, die man üblicherweise den Deutschen zuschreibt. Im Gegenteil, er schien fröhlich bis zur Leichtfertigkeit. Wo immer er auch war, trug er stets seine kleine Holzflöte bei sich, auf der er bisweilen spielte und dabei mit leichten Schritten herumtanzte. Man wusste nie, was für närrische Grillen ihm im Kopf herumgingen.

Das wird dich noch mal ins Verderben stürzen!", hatte ich ihm einmal gesagt, aber er hatte nur gelacht und geantwortet: „Je toller der Schnaps gebrannt, desto besser schmeckte er mir“. Erst langsam lernte ich sein zweites Gesicht kennen. Wenn er sich unbeobachtet fühlte und die Possenreißer-Maske von ihm abgefallen war, blickte eine unermeßliche Trostlosigkeit aus seinen Augen. Was für eine seelische Erschütterung er mit sich herum trug und wer sie ihm zugefügt, habe ich nie erfahren. Auch El Indio, der so manche Beichte wie in einem Grab in sich aufbewahrte, wusste es nicht. Nikolaus war ein paar Jahre älter als ich, aber ich hatte sehr bald das Gefühl ihn beschützen zu müssen, vor allem gegen sich selbst. In der Art, wie er das Schicksal herausforderte und dennoch überlebte, muss er ständig eine ganze Schar von Schutzengeln um sich gehabt haben. So war Nikolaus Fortunas närrischer und verzweifelter Eulenspiegel.

Ein weiterer Reisegefährte meiner jungen Jahre, wenn auch weniger vertraut, war der Steuermann, den sie El Indio nannten. Eine schwere, wuchtige Gestalt, ein langsamer, sicherer Gang, unter glattem schwarzen Haupthaar ein breites flaches Gesicht, aus dem eine Hakenase und eine lange Meerschaumpfeife herausragten. Niemand wusste sein Alter, er hätte so alt wie Methusalem sein können. Sein Gesicht war von unzähligen Runzeln durchzogen. Doch war er noch stark wie ein Bär. Vor allem aber war er voll all der Seefahrtserfahrung und all der Seemannsgeschichten, die ein langes Leben auf den verschiedensten Schiffen und auf allen Weltmeeren mit sich bringt. Rau, aber menschlich, war er immer bereit den anderen der Gemeinschaft zu helfen, jedoch ließ er niemanden zu nahe an sich herankommen. Durch leichte Ironie hielt er Abstand. El Indio war wie ein ruhender Pol, ein unerschütterlicher Felsen in der Brandung inmitten dieser wild wogenden Seeräubergemeinschaft. Keiner wagte sich seiner Autorität zu widersetzen. Selbst der Kapitän behandelte ihn mit Achtung -- und nicht nur seiner seemännischen Kenntnisse wegen. Keiner wusste um seine Geschichte, noch was ihn zu den Seeräubern getrieben hatte. Man sagte, dass er aus den Amerikas stamme und ein Inka sei. Was das genau bedeutete, wusste niemand. Ich hatte vom ersten Moment an, da ich ihm als schmächtiger Halbwüchsiger auf Deck der Fortuna über den Weg lief und er mich mit einem freundlich-ironischen „Na, du Schrecken der Meere!“ begrüßte, eine verhaltene Zuneigung zu ihm gefasst, die er in gleicher Weise erwiderte. Darüber hinaus kam er meiner unbegrenzten Wissbegier mit Geduld und Nachsicht entgegen, sodass ich durch ihn in den nächsten Jahren -- meist eingebettet in die abenteuerlichsten Seemannsgeschichten -- mehr gelernt habe über Navigation, Wetterkunde, und Schiffe, und was man ihnen in Kampf und im Sturm zutrauen kann, als mancher, der sein Leben lang auf See gewesen ist.

Mir wurde erst im Laufe der Zeit klar, dass El Indio nicht nur Steuermann, sondern auch Anführer der Mannschaft sei. So war denn auch das, was der Capitán mir über seine eigene Befehlsgewalt gesagt hatte, nicht ganz richtig. In Wirklichkeit war auf einem Seeräuberschiff der Kapitän zwar uneingeschränkter Befehlshaber im Kampf mit anderen Schiffen, die übrige Zeit jedoch war der Steuermann der eigentliche Herr an Bord. El Indio selbst erklärte mir, dass auf der Fortuna , wie auf den meisten Seeräuberschiffen, jeder Mann eine Stimme habe. Der Capitán sei von allen gewählt worden als der Fähigste, Prisen ausfindig zu machen, sie anzugreifen und Beute einzubringen. Wenn ein Kapitän aber dabei versagte oder sich als feige erwies, oder im Gegenteil, zu viel Risiko einging oder aus anderen triftigen Gründen, konnte er wieder abgesetzt oder sogar ausgesetzt werden. Wie ich später erfahren sollte, war El Indio dem Kapitän durchaus loyal, wenn auch nur bedingt untergeben. Und ich spürte sehr bald, dass er sich ständig gegen den Capitán zur Wehr setzen musste, um zu verhindern, dass letzterer allzu unumschränkt an Bord herrsche. Warum und wie diese zwei besonderen Männer sich auf diesem Seeräuberschiff zusammengefunden hatten und zu welchem Zweck, ist mir nie ganz klargeworden. El Indio hätte ohne Schwierigkeiten sein eigenes Schiff befehlen können. Aber das wollte er wohl nicht.

Die Mannschaft stammte aus aller Herren Länder, vor allem aber aus den verschiedenen Gegenden des südlichen Europas. Es waren meist junge, aber schon erfahrene Seeleute. Was sie in die Seeräuberei getrieben hatte, konnte ich nur vermuten -- eine strafbare Tat und die Flucht vor Kerker oder Galgen, Bankrott oder nicht bezahlte Schulden, verwickelte Weibergeschichten, oder, wie bei mir, der Hass auf eine ungerechte Gesellschaft und die Genugtuung, die Gerichtsbarkeit jetzt selbst in die Hand nehmen zu können. Oder ganz einfach die Lust auf Abenteuer, auf die wilde Freiheit der Meere und vor allem auf reiche Beute. Die meisten von ihnen waren entweder von Kauffahrern oder von Kriegsschiffen zu den Seeräubern übergelaufen. Unser Leben an Bord war hart und gefährlich, aber noch angenehm im Vergleich zu der unmenschlichen und willkürlichen Behandlung, die sie auf den Handelsschiffen und noch schlimmer auf den Schiffen der königlichen Marine zu ertragen hatten, wo sie überdies meist gewaltsam zum Seedienst gezwungen worden waren.

Es herrschte Solidarität unter den Seeräubern und strenge, meist ungeschriebene Regeln des Zusammenlebens. Alle waren gleich, wie in unserem Dorf und doch wieder ganz anders. Der Hauptanreiz des Seeräuberlebens war die Aussicht auf Beute. Jeder wusste, dass diese davon abhing, wie erfolgreich sie ihre Überfälle durchführten. Wenn auch nur einer nicht spurte, konnte alles schiefgehen und das konnte alle an den Galgen bringen. Denn wie vielen Seeräubern hatte man schon den hänfenen Kragen umgebunden.22

Sicherlich war es nicht einfach, eine so wilde Horde zusammenzuhalten, ja ihr eine militärische Disziplin aufzuzwingen. Doch die gemeinsame Autorität von Capitán und El Indio, der eine mit eiserner Faust, der andere kraft seiner inneren Stärke, hatte die Mannschaft bisher in Zaum gehalten.

Natürlich gab es in unserem bunten Haufen Nörgler und Besserwisser, denen es immer wieder gelang durch große Reden und Anspielungen einen Teil der Mannschaft aufzuwiegeln. Das waren hauptsächlich Caballo, der einbeinige Schiffskoch und Trompeter, ein Hansdampf in allen Gassen, ein verschlagener und doppelzüngiger Intrigant aus Neapel, sowie auch Pulver-Max, der allein auf Grund seiner Körperkraft einen Anhang unter der Mannschaft hatte. Je nach den Umständen und jeweiligen Interessen, arbeiteten die beiden zusammen oder gegeneinander. Caballo intrigierte gegen jedermann, wenn es seinen Absichten förderlich war, Pulver-Max hauptsächlich gegen El Indio, weil er meinte, ihm stünde der zweite Platz an Bord zu. Der Capitán und El Indio wussten das alles und hatten sie bisher in Schach halten können.

Von den vielen Seeraubüberfällen, die ich während meiner Zeit im Mittelmeer mitgemacht habe, sind mir zwei besonders in Erinnerung geblieben. Der eine war mein allererstes Seeräubererlebnis überhaupt.

Am Tage, nachdem wir die Anker gelichtet hatten, lag ich auf den Knien auf Deck und schrubbte die Planken. Ich hatte schlecht geschlafen und fühlte mich elend. Um mich herum waren alle Mann an der Arbeit – auf Deck, in den Masten und auf den Rahen, an den Kanonen. Jeder hatte seine Aufgabe. Das Meer war ruhig, der Wind mäßig.

Plötzlich beugte sich Nikolaus zu mir herab und sagte.

Hör‘ zu, Kolibri! Das wird dich aufheitern. Ich habe dir zuliebe ein neues Seeräuberlied erdacht und werde es dir singen.“

Du wirst jetzt singen? Hast du denn keine Arbeit zu verrichten?“ fragte ich erstaunt.

Das ist meine Arbeit, Kolibri. Auf vielen Schiffen, so auch auf der Fortuna, ist es üblich, daß ein Vorsänger bei der Arbeit Stimmung macht und ihr einen gewissen Rythmus gibt. Der Capitán hat diese Rolle mir übertragen und ich spiele sie gern. Sowohl das Singen, wie auch das Dichten und Komponieren von Liedern liegt mir. Also hör zu!“

Die Mannschaft hatte wohl schon darauf gewartet, denn die Gespräche waren verstummt. Mit einer hellen Tenorstimme begann Nikolaus zu singen.

Füllt mir heute noch den Becher,

Bis zum Rande gut bemessen!

Trinkt mir zu, ihr alten Zecher,

Rot ist der Wein, süß das Vergessen.

Auf Verderb, auf Gedeih!

Wir sind vogelfrei!

Es gibt kein Quartier!23

Bald verrecken auch wir!“

Und laut schallend wiederholte die Mannschaft den Refrain und Nikolaus begleitete sie dabei auf seiner Flöte:

Auf Verderb, auf Gedeih!

Wir sind vogelfrei!

Es gibt kein Quartier!

Bald verrecken auch wir!“

Nikolaus sang weiter:

Kommt Ihr Dirnen! Kommt Ihr Vetteln!

Heute huren bis zum Betteln!

Morgen wieder unter Segeln.

Kaufherrn Eisenkugeln kegeln.

Auf Verderb! Auf Gedeih!

Wir sind vogelfrei!

Es gibt kein Quartier!

Bald verrecken auch wir.

Gebt uns willig euer Gold!

Eine Kugel, wer nicht wollt.

Es „tanzt“ so mancher Pfeffersack,

Bis er in seinem Blute lag.

Auf Verderb! Auf Gedeih!

Wir sind vogelfrei!

Es gibt kein Quartier!

Bald verrecken auch wir.

Das Leben ist ein Kartenspiel.

Heute gar nichts, morgen viel!

Zum Teufel mit den Pfeffersäcken!

Mögen sie im Gold verrecken!

Auf Verderb, auf Gedeih!

Wir sind vogelfrei!

Es gibt kein Quartier!

Bald verrecken auch wir.

Nikolaus hatte kaum der Refrain beendet, als der Ausguck vom Mast herunterrief:

Schiff in Sicht! Voraus Steuerbord Schiff in Sicht!“

Der Gesang brach sofort ab. Doch dauerte es noch eine gute Weile, bis man das Schiff an Deck ausmachen konnte. Der Capitán stellte fest, dass es ein Kauffahrer24 sei. Mehr konnte er auf diese Entfernung noch nicht sagen. Auf jeden Fall beorderte er alle Mann auf ihre Posten. Das hieß, dass die Kanoniere die Kanonen vorbereiteten, und sich der Rest der Mannschaft vollbewaffnet mit Musketen, Pistolen, Entermessern und Säbeln hinter der Verschanzung versteckt hielt. So wirkte unser Schiff nach wie vor friedlich und harmlos. Wir hatten noch keine Flagge gehisst. Auf Überraschung kam es an. Der Gegner musste zuerst in Sicherheit gewiegt werden. So hielt auch das andere Schiff weiterhin Kurs und kam fast gerade auf uns zu.

Von dieser ersten Begegnung auf See habe ich nicht alles gesehen, denn als Anfänger musste ich den „Pulverjungen“ abgeben, was mir gar nicht gefiel. Ich tröstete mich damit, dass Nikolaus mein Los teilte. Er stand in der Pulverkammer, tief unten im Schiffsrumpf, unter der Wasserlinie, und händigte mir die dort gelagerten Kartuschen25 aus. Soviel ich davon schleppen konnte. Im ständigen Trab brachte ich sie über die engen Treppen drei Decks höher zu den Kanonieren hinauf. Um gleich wieder runterzulaufen, neue zu holen, damit sie fürs nächste Laden bereitlägen. Als ich das erste Mal aufs Oberdeck zurückkam, hatten die Mannschaften schon die Mündungskappen26 der vierzehn Steuerbordkanonen abgenommen und waren gerade dabei, die Kanonen von ihren Zurrings27 zu befreien. Die Pforten28 waren noch geschlossen, um die Überraschung zu wahren. An jeder Kanone arbeiteten vier Mann, alle hatten Tücher um den Kopf gewickelt. Was ich anbrachte, wurde mir sofort aus der Hand gerissen. Ich sah noch, wie sie meine Pulverladungen wie Pfropfen in die Kanonenmündungen stopften und mit dem Ladestock tief hineinschoben, darauf folgte eine jener schweren Eisenkugeln, wie sie neben jeder Kanone aufgestapelt lagen. Dann trieb mich Pulver-Max unerbittlich wieder nach unten. Ich verstand, warum sie mich dafür ausersehen hatten, denn ich kam leichter und schneller durch die engen, niedrigen Durchgänge und Treppen unter Deck als ein ausgewachsener Mann. Aber es gefiel mir nicht. Auch ich wollte gegen die Pfeffersäcke kämpfen.

Als ich wieder hochkam, war das Handelsschiff schon auf Schussnähe herangekommen.

Die Fortuna hatte Farbe bekannt. Die Seeräuberflagge war hochgestiegen. Mit dem Sprachrohr forderte der Capitán den Kauffahrer auf sich zu ergeben. Aber das fremde Schiff schlug die Aufforderung in den Wind. Sie steckte die Blutfahne auf, das Signal zum Kampf.

"Der glaubt doch wohl nicht etwa, er könnte sich uns an den Hut stecken?" höhnte einer der Kanoniere.

"Na, dem werden wir wohl ganz ordentlich auf die Haube klopfen müssen." antwortete der andere.

Die Pforten wurden geöffnet und die schweren geladenen Kanonen auf ihren Lafetten29 mit Hilfe von Seilen, Hebeln und Taljen ausgefahren, in die richtige Schussposition gebracht und gezündet. Auf Befehl von Pulver-Max feuerten alle Kanonen gleichzeitig. Der Lärm war Ohren betäubend. Ich glaubte schon, ich hätte das Gehör verloren. Nun verstand ich auch, warum sie alle mit umwickelten Köpfen herumliefen. Wir waren in Pulverdampf gehüllt. Als ich mich umblickte, sah ich nichts wie schwarze Gestalten. Mein rußiges Gesicht beim Feuermachen im Dorf meiner Kindheit hätte bleich gewirkt neben den kohlrabenschwarzen Gesichtern der Kanoniere.

Die Schüsse ließen die Kanonen polternd zurückstoßen, bis andere Seile, die an den Bordplanken befestigt waren, sie zum Halten brachten. Die Pforten wurden sofort wieder zugeschlagen, um uns Deckung gegen Geschoße des Gegners und herumfliegende Splitter zu geben. Die erste Breitseite hatte gedonnert. Jetzt hörte man auch schon die Kanonen des anderen Schiffes und es krachte über unseren Köpfen. Als ich gerade wieder hinuntereilen wollte, brach neben mir der Kanonier zusammen, den ich eben noch hatte sprechen hören. Ich konnte ihm nicht mehr helfen, er war tot. Eine Musketen Kugel hatte ihn in den Kopf getroffen. Gleich darauf wurde sein Nachbar verwundet. Er war wie sein Kamerad durch die Verschanzung gedeckt gewesen.

Achtung! Die schießen ja von oben aus den Masten herunter!“ brüllte ich. Und unsere Musketiere richteten ihr Feuer nach oben. Überall schien jetzt die Hölle los, die gesamte Mannschaft, soweit sie nicht bei den Kanonen beschäftigt war, feuerte aus Musketen und Pistolen, brüllte, johlte, um den Gegner einzuschüchtern, zwei Trommler droschen auf die Felle, was die Trommeln hergaben und Caballo blies Trompete. Er spielte so falsch, dass man Kröten im Krautgarten damit hätte töten können. Der Lärm war grauenhaft und ohrenbetäubend. Derweil reinigten die Kanoniere ungerührt wieder Rohr und Zündloch30, neue Kartuschen und Kugeln wurden geladen, die Pforten wieder geöffnet, die Kanonen auf ihr Ziel gerichtet. Und noch einmal donnerten sie los, alle vierzehn Kanonen gleichzeitig. Wir waren dem anderen Schiff jetzt so nahegekommen, dass man das Weiße in den Augen der Kauffahrer sah. Die Enterdreggen31 wurden hinübergeworfen. Der Rumpf des anderen Schiffes kam immer näher. Jetzt konnte es nicht mehr entkommen. Wir überschütteten das gegnerische Deck mit Musketen- und Pistolenfeuer, mit Granados32 und Stinkbomben, die mit lautem Knall barsten. Und sobald der Widerstand der Kauffahrer nachließ, hörte ich den Capitán vom Achterdeck „Eeeeentern!“ schreien. Wie eine Welle schwappten die Seeräuber hinüber auf das Handelsschiff. Nur die Kanoniere blieben auf ihren Posten. Noch mehr Musketen- und Pistolenfeuer, Säbel, die auf einander schlugen, und noch mehr Geheule und Gejohle. Und dann langsam Ruhe. Die Handelsleute hatten sich ergeben.

All das war mir wie ein wildes Durcheinander vorgekommen. Ob das nun wirklich so gewesen war und so sein sollte, konnte ich nicht beurteilen. Ich hütete mich, irgendetwas derartiges zu sagen. Aber ich nahm mir vor, sobald ich einmal selbst zu befehlen hätte, darüber ganz genau nachzudenken. Vielleicht könnte man auch anders vorzugehen. Der Tod des Kanoniers hatte mich nachdenklich gemacht. Er wäre vielleicht vermeidbar gewesen!

Die beiden Schiffe lagen jetzt längsseits. Keines von beiden hatte sehr gelitten. Einige Löcher in den Segeln, die Verschanzung an ein paar Stellen zersplittert.

Es geht uns ja nicht darum, die Schiffe, die wir kapern wollen, zu zerstören. Ihre Ladung wollen wir übernehmen. Vielleicht auch das Schiff selbst.“ erklärte mir Nikolaus später.

Die einen nannten ihn „Teufelskapitän“ und er war stolz auf diesen Beinamen. Er pflegte ihn, wo immer er konnte, schon um die Kauffahrer im vornhinein zu erschrecken. Seine schwarze Flagge mit dem weißen gehörnten Totenkopf33 war überall berüchtigt. Andere dagegen nannten ihn den „Kavalierpiraten.“ Denn so erbarmungslos er im Kampf war, dem unterlegenen Gegner gegenüber zeigte er sich fast immer edelmütig und großzügig. Doch es war auch Berechnung in seinem Verhalten. Die Kauffahrer wussten, dass sie sich im Kampf mit den meisten Seeräubern bis in den Tod verteidigen müssten, wenn sie nicht als Sklaven verkauft werden wollten. Wenn sie dagegen die schwarze Teufelsflagge des Capitán aufsteigen sahen, wussten sie, dass seine Devise lautete:

Ihr seid frei, nur Euer Schiff samt Ladung gehört uns!“ Das führte dann auch oft dazu, dass er Handelsschiffe kampflos in seinen Besitz brachte.

Kaufleute ergeben sich eher, wenn sie wissen, sie kommen zumindest mit dem nackten Leben davon. Das erspart auch uns unnötiges Blutvergießen und Schaden am Schiff!“ erklärte mir Nikolaus. El Indio hatte volles Verständnis für diese Strategie, er verabscheute unnötiges Blutvergießen. Aber Pulver-Max wetterte dagegen, wann immer er konnte. Er wollte jedes Mal einen guten Kampf, sonst hätte es ja mit Seeräuberei nichts mehr zu tun. Kanonenschiessen, Dreinschlagen und Ausrauben mit Brutalität, das war seine Devise und viele in der Mannschaft dachten so wie er.

Als ich an Bord der Mermaid gelangte, -- es war ein englisches Handelsschiff -- drehte sich mir der Magen um. Überall auf Deck zwischen Holzsplittern, Segelfetzen und abgerissenen Tauen lagen Menschen blutüberströmt, oft arg verstümmelt, manche regungslos, andere sich vor Schmerzen windend, stöhnend, wimmernd oder haltlos schreiend. So hatte ich mir meinen Rachefeldzug nicht vorgestellt. Hatte ich mir überhaupt etwas vorgestellt? Es wurde mir plötzlich der Unterschied klar, zwischen dem seelischen Leid, das man uns Fischern im Dorf zugefügt hatte, und dem körperlichen, das diesen Menschen hier zu ertragen hatten. Doch gab es eine Rangordnung des Leids? Auch darüber hatte ich nicht nachgedacht. Hatte ich mich überhaupt auf den richtigen Weg begeben? Nikolaus, der hinter mir stand und wohl meine Gewissensbisse erriet, legte mir seinen Arm um die Schulter und sagte, wie immer fröhlich: „Das erste Mal ist immer arg, aber du wirst sehen, man gewöhnt sich an das unvermeidliche Blutbad. Vor allem, vergiss nicht: Um Eierspeis’ zu machen, musst du Eier zerschlagen!!“ Dann eilte er weiter und ließ mich mit meinen Skrupeln allein. Ich stürzte an die Verschanzung und kotzte mich leer.

Kapitän und Mannschaft des gekaperten Schiffes standen, in ihr Schicksal ergeben, auf Deck und leisteten keinen Widerstand mehr, die Unsrigen, bis an die Zähne bewaffnet, umstanden sie mit Drohgebärden. Die Kaufleute wurden entwaffnet und ausgeraubt. Schmuck, Geld, Wertsachen, alles mussten sie aushändigen. Wenn sie schöne Kleider anhatten, wurden ihnen auch diese weggenommen. Sie machten in Unterkleidern keine sehr gute Figur. Wer mit seinen Wertsachen nicht herausrücken wollte, wurde dazu sehr wirksam „überredet“. Caballo war darin ein findiger Meister. Meist genügte es, den widerspenstigen Gefangenen einen Strick immer enger um den Kopf zu drehen, bis sie willig ihre Geheimnisse preisgaben. Die Ladung ihres Schiffes, sie führten wertvolles Tuch, war für Marseille bestimmt gewesen, und wurde nun auf El Indios Befehl zu uns herüber verfrachtet. Nur er bestimmte, welche Ladung zu übernehmen sei. Aber die Mermaid war nicht mehr voll beladen, sie musste also einen Teil ihrer Ladung schon woanders verkauft haben. Es bedurfte wieder einer für den englischen Kapitän nicht sehr angenehmen, aber wirksamen „Überredungskunst“ bis er mit einer beträchtlichen Summe Bargelds herausrückte. Sie war für den Einkauf von Wein und Öl bestimmt gewesen, welche er nach England hatte zurückschiffen wollen.

Gefangene wurden nicht gemacht. Der Capitán betrieb keinen Sklavenhandel. Und doch kam es diesmal zu einer Ausnahme. Während nämlich sonst keiner auf dem gekaperten Schiff mehr aufzumucken wagte, gab es einen, der wie ein Rohrspatz schimpfte. Er ließ uns lautstark wissen, was er von uns hielt und was wir zu erwarten hätten, wenn er erst wieder zu Hause sei. Seine Kameraden wollten ihn zum Schweigen bringen, aber vergebens. An seinen Federn sahen wir, was für einen Vogel wir da gefangen hatten. Einige unserer Seeleute rissen ihm die Perücke vom Kopf und zogen ihm seinen prunkvollen Rock aus.

Einen Narren muss man mit dem Kolben lausen!“ riefen sie und klopften ihm lachend das Wams aus, stießen ihn in seinen hervorquellenden Bauch, drehten ihm eine Nase, rissen Possen und machten ihn so sehr zum Narren, bis er fuchsteufelswild war.

Gevierteilt sollt Ihr werden! Wartet nur bis ich den Zeck verständige! Der wird euch die Sohlen versengen!“ geiferte er. Unsere Männer bogen sich vor Lachen. Ich jedoch wurde hellhörig. Hatte er nicht Zeck gesagt? Ich erfuhr schließlich, dass er ein Kaufmann aus Marseille und ein Handelspartner des Zeck sei.

Ja, der Zeck! Der wird dir die Hölle heiß machen, du Rotznase! Am höchsten Galgen wirst du baumeln!“ Er hatte einen ganz roten Kopf und prustete vor Wut, als ich ihn ausfragte.

Ich glaube, dieser aufgeblasene Ochsenfrosch verdient einen guten Rüffel.“, erklärte ich El Indio, „Ich kenne seinen Kumpan in Marseille, ein richtiger Blutsauger, den ich liebend gerne schröpfen würde.“

Und was schlägst du vor?“

Dass wir ihn als Gefangenen mitnehmen und von dem Vampir Zeck Lösegeld für ihn fordern!“ Dieses Eckel sollte mir dafür büßen, dass der Zeck es gewagt hatte, meinen Vater zu Boden zu stoßen. Dies Bild aus meiner Kindheit kam immer wieder mit großer Deutlichkeit in meiner Erinnerung hoch. Es war dort wie eingemeißelt.

El Indio und der Capitán waren zuerst nicht angetan von dem Gedanken, sich mit einem Gefangenen zu belasten, aber sie ließen sich schließlich überreden. Wir sperrten den immer noch Geifernden in ein Verlies, tief unter Deck, wo man sein Randalieren nicht mehr hören konnte.

Der Capitán legte jedes Mal großen Wert darauf, die Verwundeten eines gekaperten Schiffes zu versorgen. Da hatte dann unser „Tabib“, der arabische Schiffsmedicus, in den nächsten Stunden viel Arbeit. Er musste all seine Künste aufwenden, um Leben zu retten und zerrissene Körper wieder zusammenzuflicken. Nicht in allen Fällen ist es ihm gelungen, zumal seine Mittel begrenzt waren. Bei uns waren es nur leichtere Verletzungen. Allein dem zweiten getroffenen Kanonier, einem Mann, den sie den „fetten Georg“ nannten, schnitt er eine Bleikugel aus der Schulter, wobei der Fette wie am Spieß schrie. Schlimmer sah es bei den Engländern aus, denen einige Arme, Beine, Hände oder Füße amputiert werden mussten, um die Verletzten vor dem Tode zu retten. Den Verstümmelten wurde viel Schnaps oder Theriak34 eingeflößt, nicht nur um sie zu betäuben, sondern auch um Krampf und Blutvergiftung vorzubeugen35. Dann sägte und schnitt unser Tabib mit großer Geschicklichkeit und Geschwindigkeit all das ab, was gefährdet war. Schließlich stoppte er die Blutungen mit dem Kauter36, bevor er die Wunden verband. Erbarmungslos, aber in den meisten Fällen lebensrettend. Ich konnte dem nicht lange zusehen, und bewunderte den alten, schmächtigen Mann, der diese blutigen Operationen, dem Anschein nach so völlig unberührt, eine nach der anderen, durchführte.

Bei uns an Bord nahm Nikolaus jetzt seine Haupttätigkeit auf. Man hätte ihn als Schiffsnarr und Vorsänger, für eine Randfigur an Bord halten können. Nun merkte ich wie unabkömmlich er für den Capitán und die Fortuna war. Sogleich hatte er die kleine Schar zusammen gepfiffen, die gewohnt war mit ihm zu arbeiten. Mit ihnen stellte er die Schäden fest. Löcher im Rumpf mußten geschlossen und gedichtet werden, die Steuerung überprüft, Aufbauten repariert, Spieren37ersetzt. Kurz, von der Mastspitze bis zum Kiel war alles, was aus Holz war, -- und das war fast das ganze Schiff -- seine Verantwortung. Er gab Anweisungen, erklärte, legte selbst mit Hand an, überprüfte bis das Schiff wieder einsatzfähig war. Kein Wunder, dass der Capitán Nikolaus so manches durchgehen ließ, denn gute Schiffsbauer waren nicht leicht zu finden.

Als die Beuteladung auf die Fortuna geschafft und die Verwundeten versorgt waren, trat der Capitán auf den Kapitän der Mermaid zu.

All das wäre unblutig abgelaufen, hättet Ihr Euch gleich ergeben. Immerhin, Ihr habt Mut gezeigt, so will ich Euch Schiff und Leben lassen. Das gilt für Euch alle, außer für den einen, den behalten wir bis auf weiteres als "Gast" an Bord. Teilt seinem Handelspartner Zeck in Marseille mit, dass er mir 6000 Piaster38 nach Algier überbringen lassen soll, wenn er seinen Kumpan wiedersehen will." Dann lüftete er seinen Dreispitz, verbeugte er sich mit ausgesuchter Höflichkeit und ging von Bord.

Die Mermaid sei ein sicheres, aber schweres und langsames Schiff, erklärte mir El Indio später, mit dem wir nicht viel hätten anfangen können. Außerdem waren der Capitán und auch El Indio anders als andere Seeräuber nicht daran interessiert, mit einer ganzen Flotte auf Kaper zu fahren. Sie gehörten zu den kleinen Seefüchsen des Mittelmeers, die als Einzelkämpfer auszogen. Das war manchmal gefährlicher, aber bisher für ihn und seine Leute umso einträglicher, als der Gewinn unter weniger Seeräubern aufzuteilen war. So wurden auch diesmal alle Gold- und Silbermünzen, Schmuck und sonstige Wertgegenstände in der üblichen Weise verteilt. Jeder bekam einen Anteil, nur der Capitán und El Indio je zwei, Pulver-Max und Nikolaus je eineinhalb. Auch ich bekam einen halben Anteil und nahm mir vor, ihn mit all dem, was ich vielleicht noch bekommen würde, bei passender Gelegenheit meinen Eltern und den Fischern im Dorf zukommen zu lassen.

Trotz des anfänglichen Schocks über das Blutbad war ich schließlich äussert zufrieden mit diesem ersten Raub. Nicht nur hatten wir einen Kauffahrer geschröpft, es war uns durch Zufall auch noch ein großer Fisch aus dem Teich des Zecks ins Netz gegangen. Letzterer würde dafür tief in seinen Goldbeutel greifen müssen. All das war für mich Genugtuung und Bestätigung, dass ich doch den rechten Weg eingeschlagen hatte.

Es gab mir Selbstvertrauen, aber es ließ auch einen neuen Ehrgeiz in mir wach werden. Ich wollte Macht, eigene Befehlsgewalt, um meine Rachepläne in die Tat umzusetzen. Doch ließ ich es mir nicht anmerken. Ich wusste, dass dazu sehr viel Geduld notwendig war. Erstmals, war ich daher zufrieden, nun für diesen einen, ungewöhnlichen Gefangenen verantwortlich zu sein. Ich hatte ihn gewollt. Ein Pfeffersack war zum ersten Mal in meiner Macht.

Der Rote Kolibri

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