Читать книгу Wem gehört das Huhn? - Alexander Laszlo - Страница 5
»Unsere Ankunft in den USA« Anfang Oktober 2020.
ОглавлениеAls ich mit Rosalie und den damals zweijährigen Mädchen im Oktober 2020 die USA erreichte, waren wir durch die Hölle gegangen. Wir waren einfach nur dankbar, mit dem Leben davongekommen zu sein. Doch was nun? Wir hatten unser gesamtes Leben von einem Moment auf den nächsten zurücklassen müssen. Unser gutes Leben. Und nun waren wir illegale Einwanderer! Doch für uns hatte es keine andere Möglichkeit gegeben, Mexiko zu verlassen, als durch einen illegalen Grenzübertritt.
Im Oktober 2020 waren wir keine wohlhabende mexikanische Familie mehr, die glücklich in ihrer Heimat lebte, sondern Asylbewerber in den USA, die das Land mit einem illegalen Grenzübertritt betreten hatten, was in den Augen von großen Teilen der Amerikaner so ziemlich das Schlimmste war, was man als Mexikaner Amerikanern antun konnte. Wir hatten genau das getan, wovor Trump seine Anhänger jeden Tag lautstark warnte. Damals wie heute. Wir waren zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt gekommen, aber wir hatten einfach keine Wahl gehabt. Wären wir in Mexiko geblieben, so wären Rosalie und ich jetzt tot und die Mädchen verschleppt.
Die ersten achtundvierzig Stunden in den USA verbrachten wir in einer Flüchtlingssammelstelle, wo wir als Familie zusammenbleiben durften, was nicht selbstverständlich war, wie ich im Nachhinein erfuhr. Hunderte Migrantenkinder waren bei der Einreise von ihren Eltern getrennt worden. Und viele blieben es sehr lang. Dutzende haben ihre Eltern gar nicht mehr wiedergesehen. In dieser Hinsicht hatten wir großes Glück. Direkt nach unserer Ankunft hatten wir den Beamten der Einwanderungsbehörde gegenüber zugegeben, dass wir ohne Visum in die USA eingereist waren. Nach den Gründen wurde in diesem Verhör nicht gefragt. Ein Haken in einem Formular war alles. Wir mussten Angaben zu unseren finanziellen und persönlichen Verhältnissen machen und schließlich unsere Pässe abgeben. Bis ein Beamter mit Entscheidungsgewalt Zeit für ein Interview mit uns hatte, waren wir zum tatenlosen Warten verurteilt.
In unseren ersten zwei Tagen in den USA waren wir, von kurzen Gängen zur Toilette abgesehen, die ganze Zeit über in einem großen fensterlosen Raum. Auch gegessen haben wir dort. Wir hatten Angst und wollten um jeden Preis zusammenbleiben. Der Raum war vielleicht dreißig Quadratmeter groß, und wir hatten ihn ganz für uns allein. Die Wände waren beige gestrichen, mit einem braunen Streifen auf Brusthöhe, der sich einmal um den ganzen Raum zog, nur unterbrochen von einer schweren grauen Metalltür mit Glaseinsatz, die aussah wie eine Gefängnistür. Und praktisch gesehen war sie das auch. Wir waren an diesem Ort gefangen, unfähig über unser eigenes Schicksal zu entscheiden. Auf dem Flur brannten vierundzwanzig Stunden am Tag grelle Neonlampen und warfen ihr kaltes Licht durch das Glas in der Tür auf den steinernen Fußboden in unserem Raum. Die Einrichtung bestand aus acht einfachen, schmalen Betten, einem Tisch, sechs Stühlen, zwei Schränken und einer Kommode mit etwas Spielzeug darin. Ich schaute mich um und fühlte nichts. Ich dachte an unser sonniges Haus und den großen Garten. Doch es war noch zu früh für Sehnsucht nach dem Verlorenen. Zu groß war in diesem Augenblick meine Angst vor unserer ungewissen Zukunft. Ich schüttelte den Kopf, um die Gedanken an die Heimat loszuwerden, und blickte zu Rosalie. Sie hatte Tränen in den Augen, aber sie bewahrte die Fassung vor den Mädchen. Für die waren die letzten Tage einfach ein großes Abenteuer gewesen, doch langsam schienen sie zu begreifen, dass dies nicht einfach nur ein Ausflug war.
Nach zwei quälend langen Tagen, in denen praktisch niemand mit uns gesprochen hatte, klopfte es am Morgen laut an der Tür. Eine kräftige afroamerikanische Frau in Zolluniform erschien. Sie war gekommen, um mich zu einem leitenden Beamten der Einwanderungsbehörde zu bringen. Aber nur mich. Rosalie und die Mädchen sollten zurückbleiben.
„Ohne meine Familie gehe ich nirgends hin. Wir werden uns nicht trennen“, protestierte ich, so energisch ich konnte, ohne dabei aggressiv zu sein.
„Beruhigen Sie sich und kommen Sie mit, Sie haben jetzt ein Interview, und wenn Sie zurückkommen, wird Ihre Familie genau hier sein. Ich verspreche es Ihnen. Doch auch wenn ich das nicht tun würde, haben Sie keine Wahl. Also gehen Sie den einfachen Weg und kommen Sie einfach mit. In zwei oder drei Stunden werden Sie wieder mit Ihrer Familie zusammen sein. Die wird in Ihrer Abwesenheit nirgends hingehen. Auch das verspreche ich Ihnen.“
Ich zweifelte nicht an ihren aufrichtigen Absichten, wohl aber an ihren Möglichkeiten, ihre Versprechen einzuhalten.
„Warum nur ich?“ Ich bemühte mich, ruhig zu bleiben. Doch die Narbe an meinem Kinn zeigte mir, dass ich es ganz und gar nicht war. Sie pochte. Ich habe mir diese Narbe als Kind beim Sturz aus dem Küchenfenster meiner Großeltern zugezogen, mit fünf Stichen musste sie genäht werden. An dieser Stelle ist mein Bart nie gewachsen, und immer wenn ich nervös bin, juckt sie.
„Das weiß ich nicht. Ich mache die Regeln hier nicht, ich führe sie aus. Aber glauben Sie mir, Einzelinterviews sind ganz normal. Davon abgesehen haben Sie auch keine Wahl. Das habe ich Ihnen doch gerade erklärt.“
Die Beamtin wurde ungeduldig.
„Sie kommen jetzt entweder mit, oder ich hole ein paar Kollegen, und wir bringen Sie zu Ihrem Interview.“
Dann machte sie einen Schritt auf mich zu, lächelte und legte ihre Hand aufmunternd auf meine Schulter.
„Denken Sie daran, Sie sind zu uns gekommen, Sie sind sozusagen freiwillig hier.“
Besorgt blickte ich zu Rosalie, die mit den Mädchen auf einem der Betten saß und ein Bilderbuch in ihrem Schoß hatte. Sie rang sich ein Lächeln ab und nickte mir aufmunternd zu. „Geh mit ihr, für die Mädchen ist das bestimmt besser so. Wir werden hier sein, wenn du zurückkommst.“ Eine Träne kullerte über ihre Wange und tropfte auf das Buch. Dann schloss sich die Tür hinter mir, und ich lief, die Beamtin dicht hinter mir, einen grauen Flur entlang. In einem Punkt hatte sie ganz und gar nicht recht. Ich war nicht freiwillig hier, wir waren nicht freiwillig hier. Sicher, wir waren aus eigenem Antrieb in die USA gekommen und hatten dabei die Grenze illegal überquert, aber wenn wir eine Wahl gehabt hätten, wären wir in unserer Heimat geblieben. Doch hätten wir das getan, dann wären wir jetzt wahrscheinlich nicht mehr am Leben. Ich hoffte, dass auch der Beamte der Einwanderungsbehörde, der mich zu dem Interview erwartete, dies einsehen würde.
Ich war nicht mit meiner Familie in die USA gekommen, weil wir hier ein besseres Leben suchten. Unser Leben in Mexiko war perfekt. Nein, wir waren hier, weil wir keine andere Wahl gehabt hatten. Leider hatte das zu diesem Zeitpunkt, nach achtundvierzig Stunden in den USA, noch niemanden interessiert. Im Umgang mit den amerikanischen Behörden hatten wir schnell gelernt, dass man als Flüchtling erst mal nur ein Flüchtling ist. Ein Fall, eine Nummer. Solange bis irgendjemand dir zuhört. Erst dann wirst du wieder von einer Nummer zu einem Menschen. Wenn du Glück hast.
„Wir sind da.“ Die Worte der Beamtin holten mich aus meinen Gedanken zurück in die Realität. Wir standen vor einer braunen Holztür, auf der in schwarzen Lettern ein Name prangte. William Brown. Ich weiß nicht mehr, warum, aber der Name gab mir Zuversicht. „Warten Sie hier, gehen Sie nicht weg.“ Die Beamtin klopfte kurz an der Tür und verschwand dann in Mr. Browns Büro. Nach wenigen Sekunden öffnete sie die Tür von innen. „Kommen Sie, Mr. Brown erwartet Sie jetzt.“ Mit diesen Worten verschwand sie, und ich betrat das Büro.
Mr. Brown saß hinter seinem breiten Schreibtisch und begrüßte mich höflich, während er auf einen Stuhl vor seinem Tisch deutete. „Mr. Olivares. Bitte setzen Sie sich. Willkommen in den USA.“ Ich setzte mich.
Browns Gesicht schmückten ein beachtlicher dunkler Schnauzer und eine dicke schwarze Hornbrille. Sein angegrautes Haar lockte sich über den Ohren. Er stand auf, ging um den Schreibtisch herum, gab mir die Hand und fixierte mich mit seinen funkelnden grünen Augen. Ich wollte aufstehen, aber da hatte Brown schon meine Hand ergriffen. Rückblickend kann ich nicht mehr sagen, warum, aber William Browns Händedruck machte mir Mut. Es fühlte sich an, als ströme positive Energie durch ihn hindurch direkt in mich hinein. Er lächelte, löste seinen Händedruck und setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch.
Vor dem Tisch waren zwei Holzstühle mit dünnen Kissen, an der Seite stand ein braunes Ledersofa, eingerahmt von zwei Pflanzen in goldenen Töpfen. An der Wand hing ein großes Bild, ein Foto, wie ich bei genauer Betrachtung feststellte. Darauf war eine Palme vor blauem Meer. Es fesselte mich. Das Bild gab nicht preis, wo diese Palme stand, denn es war nur der obere Teil sichtbar. Stand sie auf einer einsamen Insel oder an einer vielbefahrenen Strandpromenade? Man konnte es nicht sagen, aber beides war möglich. Hinter der Palme erstreckte sich scheinbar endlos dunkelblaues Wasser, das in der Sonne glitzerte. Dieses Bild strahlte eine große Ruhe aus und aus irgendeinem Grund auch Hoffnung.
„Ich habe dieses Foto selbst gemacht.” Ich hörte Brown zu, aber ich sah ihn nicht an, mein Blick verweilte auf dem Bild. „Vor der mexikanischen Küste, ganz unten im Süden der Baja California. Früher habe ich oft Urlaub dort gemacht. Angeln, das ist meine Leidenschaft. Aber in den letzten Jahren war ich nicht mehr dort.“
„Meine Heimat“, murmelte ich leise. Brown hörte mich nicht.
„Wenn Sie ganz genau hinschauen, sehen Sie da ganz hinten, ganz klein, dunkle Schatten im Wasser. Das sind Wale, sie ziehen um diese Jahreszeit nach Süden, um in der Antarktis ihre Jungen zu gebären. Die Reise ihres Lebens.“ Brown drehte sich zu mir um. „Lassen Sie uns jetzt mit dem Interview beginnen. Der Verlauf dieses Gesprächs wird darüber entscheiden, wie es für Sie und Ihre Familie weitergeht.“
Mit einer geübten Handbewegung hob er eine Akte von seinem Schreibtisch. Er zog das rote Gummi zur Seite, mit dem die Akte verschlossen war, und holte eine einzelne Seite heraus. Darauf stand alles, was wir im ersten Verhör zu Protokoll gegeben hatten. Viel war das nicht.
„Viel steht hier nicht“, begann Brown das Interview mit ruhiger Stimme. „Aber hier ganz oben steht: Illegal in die USA eingereist. Sie haben die Grenze zu Fuß am helllichten Tag überquert, einfach so. Ist das soweit korrekt?“
Ich wusste nicht, was ich antworten sollte oder vielmehr, wie. Mr. Browns Worte waren klar und deutlich und obendrein wahr.
„Ja, das ist korrekt“, antwortete ich unsicher.
„In Ordnung. Ich lese hier außerdem, dass Sie über größere Geldmengen verfügen. Auch auf amerikanischen Konten, ist das korrekt?“
„Das ist korrekt.“
„Woher stammt dieses Geld?“ Mr. Brown sah mich über den Rand seiner schwarzen Hornbrille ernst an.
„Erspartes. Für die Kinder und für unseren Ruhestand. Wir haben dafür hart gearbeitet. In Mexiko besaß ich einen eigenen Betrieb und meine Frau auch. Dieses Geld haben wir legal erwirtschaftet.“
„Ich habe nichts anderes behauptet, und ich habe auch erst mal keinen Grund, Ihnen nicht zu glauben. Wissen Sie, die wenigsten Menschen, die mir hier gegenübersitzen, verfügen über solche Mittel. Aus wirtschaftlicher Not sind Sie also vermutlich nicht in die USA gekommen.“
„Nein.“
„Aber das bedeutet nicht automatisch, dass Sie nicht in schlechter Absicht in die USA gekommen sind.“
„Glauben Sie, ich habe freiwillig ein glückliches Leben in Mexiko zurückgelassen?“
„Es kommt nicht darauf an, was ich glaube, sondern was ich weiß. Über Sie. Das ist bisher nicht viel. Seien Sie versichert. Die Vereinigten Staaten sind ein starkes Land, und es wird Menschen, die etwas Böses im Schilde führen, daran hindern. Aber auf der anderen Seite hilft dieses Land Menschen, die Hilfe brauchen. Menschen, die wirklich Hilfe brauchen.“ Brown ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass er seine Arbeit ernst nahm. „Erzählen Sie mir Ihre Geschichte. Und denken Sie immer daran, die Wahrheit ist immer die Wahrheit, und sie bleibt es auch. Die Wahrheit kann niemand ändern. Auch wenn sie nicht immer sofort ans Licht kommt, so bleibt sie doch die Wahrheit. Erzählen Sie mir, warum Sie mit Ihrer Familie in die USA gekommen sind. Beginnen Sie einfach ganz von vorne.“
„Von ganz vorne?“, entgegnete ich verunsichert.
„Fangen Sie einfach an, wo Sie wollen. Ich habe Zeit. Alle Zeit der Welt. Na ja, vielleicht nicht alle.“ Brown lächelte und blickte auf die Uhr an der Wand „Aber genügend. Erzählen Sie einfach.“
Ich setzte mich aufrecht in meinem Stuhl und begann zu erzählen.
„Mein Name ist Luis Olivares. Ein ganz normaler Name für einen ganz normalen Menschen. Und auch der allergrößte Teil meines Lebens ist normal verlaufen, damit meine ich so, wie ich es mir vorgenommen hatte. Geboren wurde ich vor fünfunddreißig Jahren in einem kleinen Dorf im Süden der Baja California. Ich habe dort eine sehr glückliche Kindheit verbracht. Auch wenn ich keine Geschwister hatte, so habe ich mich nie allein gefühlt. Mit meinen Freunden habe ich viel Zeit in der Natur verbracht. Als ich sechs Jahre alt war, sind meine Eltern in die Nähe einer Stadt gezogen, die in den Jahren zuvor immer mehr Touristen angezogen hatte und wirtschaftliche Chancen versprach. Sie heißt Los Santos und war früher einmal ein verschlafener Küstenort mit einem wunderschönen Strand, einem kleinen Hafen und einer Handvoll Hotels.
Mein Vater hatte Geld von seinem Großvater geerbt und in Los Santos einen Fischereibetrieb gegründet. Sein ganzes Leben schon hatte er als Fischer auf unzähligen Kuttern gearbeitet, nun war er sein eigener Chef. Und er arbeitete hart für seine Familie. Er hat zwei Kutter gekauft und zehn Männer beschäftigt. Mit siebzehn habe ich eine Lehre bei ihm begonnen. So bin auch ich Fischer geworden. Mit neunzehn habe ich meine Jugendliebe Rosalie geheiratet, die bei ihrer Großtante lebte, ihre Eltern waren früh gestorben.“
Ich wollte Brown ein Foto von Rosalie auf meinem Handy zeigen, doch der schaute nur kurz hin und forderte mich mit einer Handbewegung auf weiterzuerzählen.
„Mein Vater besaß also zwei Kutter und beschäftigte zehn Angestellte. Im Hafen hatte er eine große Halle gebaut, in der seine Leute den Fang verarbeiteten. Der Betrieb lief gut, die Netze waren immer voll. Er hätte noch ein oder zwei weitere Kutter anschaffen können, die Nachfrage nach Fisch wurde immer größer, als mit den Jahren die Stadt und die ganze Region immer touristischer wurde. Ein Großhändler wollte sogar seinen ganzen Fang abnehmen, aber mein Vater zog es vor, auch weiterhin direkt an Restaurants und Hotels zu liefern. Er hatte sich einen Namen gemacht, und viele Restaurantbetreiber waren über die Jahre so etwas wie Freunde für ihn geworden. Das war ihm wichtiger als noch mehr Profit. Er war zufrieden mit den Dingen, wie sie waren. Die Zeit mit seiner Familie war für ihn kostbarer als Geld. Es fehlte uns an nichts, wozu brauchten wir also mehr, hat er gesagt. Ich habe das schon damals anders gesehen, aber im Betrieb meines alten Herrn hatte ich nicht viel zu melden. In der Lehre hat er mich hart rangenommen, die anderen Männer, raue, aber herzliche Kerle, hatten manchmal richtig Mitleid mit mir. Geschenkt habe ich nichts bekommen. Aber es war eine gute Zeit mit guten Menschen, in der ich gelernt habe, hart und ehrlich zu arbeiten.
Mit meinen Eltern lebte ich auf einer kleinen Ranch oberhalb von Los Santos. Meine Mutter hatte hinter dem Haus kleine Felder, auf denen sie Obst und Gemüse anbaute. Ringsherum war nichts als Sand, Steine und Kakteen und vor uns der mächtige Pazifische Ozean, den man von unserer Terrasse aus sehen konnte. Von der Hauptstraße schlängelte sich eine schmale Schotterpiste zu unserem Grundstück, jede Autofahrt verursachte eine riesige Staubwolke, die man schon von Weitem sah. Die Zeit verging, rückblickend eine glückliche, wundervolle Zeit.“
Ich geriet ins Träumen und schüttelte mich kurz, bevor ich mich versicherte, dass Brown noch zuhörte. Er tat es.
„Wir hatten wirklich Glück mit dem Leben, das uns zuteil geworden war. Aber dann ist das Glück von einem Tag auf den nächsten verschwunden. Meine Eltern sind bei einem Autounfall gestorben. Ein Wagen hat sie überholt, dabei von der Straße gedrängt. Der Fahrer ist einfach weitergefahren. Man hat ihn nie erwischt.
Da war ich zweiundzwanzig und musste plötzlich das gesamte Leben meiner Eltern übernehmen. Ich war von einem Tag auf den nächsten ein Unternehmer geworden und trug die Verantwortung für die zehn Angestellten meines Vaters und deren Familien. Rosalie ist zu mir auf die Ranch gezogen und wir beschlossen, die eigentlich schon fest geplante Familiengründung erst mal zu verschieben.
Drei Jahre warteten wir, dann wurde Rosalie mit Ana und Teresa schwanger. Die Mädchen wurden geboren, und Rosalie arbeitete auf der Ranch und kümmerte sich dort um die Kinder. So konnte sie arbeiten und gleichzeitig für Ana und Teresa da sein. Sie hat den Gemüseanbau meiner Mutter um eine Zucht für Orchideen und seltene Kakteen erweitert. Beides haben wir zur Dekoration an die Hotels verkauft, von denen es immer mehr gab. Die Nachfrage wuchs ständig und damit unser Geschäft. Wir haben ein großes Gewächshaus hinter dem Haus gebaut, dann ein zweites, in denen Rosalie ganz besonders empfindliche und wertvolle Orchideen züchtete. Das Geld wuchs bei uns praktisch aus der Erde. Wir mussten es nur ernten. Auch die Fischerei lief gut. Sehr gut sogar. Die Nachfrage stieg mit der Zahl an Touristen, die jetzt hier Urlaub machten. Als ich ein Kind war, gab es gerade mal eine Handvoll Hotels, und die Gäste waren vor allem amerikanische Rentner, die hier den Winter verbrachten.
Doch dann hatten einige Reiseveranstalter das Potenzial von Los Santos entdeckt und begonnen, es in den USA massiv zu bewerben. Immer mehr Besucher kamen, und die Urlaubssaison wurde immer länger, bis die Menschen hier praktisch das ganze Jahr über Urlaub machten. Irgendwann sah man immer seltener entspannte Rentner, dann gar nicht mehr. Die Gäste kamen noch immer aus den Vereinigten Staaten, aber sie wurden immer jünger und waren nicht an einem ruhigen und entspannten Urlaub interessiert. Es wurden immer mehr Hotels gebaut, größere Hotels, mehr Restaurants, was zunächst gut für mein Geschäft war, mehr Bars, Supermärkte und mehr Verkehr. Die Stadt wuchs ständig und wurde innerhalb weniger Jahre voll, laut und rücksichtslos.
Auch unser Leben änderte sich, und ehrlich gesagt empfand ich das anfangs als etwas Positives, denn unsere Geschäfte liefen besser denn je. Alles war bezahlt, und auch die Ranch gehörte uns, wir konnten das meiste Geld also zurücklegen. Aber anders als mein Vater habe ich auch weiter in den Betrieb investiert. Ich charterte einen weiteren Kutter und drei Mann Besatzung. So oft es ging, fuhren alle Kutter raus aufs Meer und kamen jedes Mal mit vollen Netzen zurück. Die Hälfte des Fangs verkaufte ich nun an den Großhändler, die andere Hälfte, mit den besonders schönen Fischen, lieferte ich noch immer persönlich an verschiedene Restaurants. Während ich im Lieferwagen in der Stadt unterwegs war, den frischen Fisch auslieferte und die Kontakte pflegte, waren die Kutter draußen. Fast Tag und Nacht ging das so. Das Geschäft brummte. Ich hatte mich anstecken lassen vom Goldrausch in der Stadt. Vier Jahre lang habe ich praktisch nur gearbeitet. Auch die Gärtnerei machte gute Gewinne. In wenigen Jahren sind wir sehr wohlhabend geworden, nicht nur für mexikanische Verhältnisse. Einen großen Teil haben wir für die Ausbildungen unsere Töchter und unsere Altersvorsorge auf amerikanischen Konten fest angelegt.“
Ich deutete auf die Akte auf dem Tisch. Brown nickte.
„Los Santos war also nicht mehr der Ort meiner Kindheit und Jugend. Statt amerikanischer Pensionäre kamen nun Zahnärzte, Anwälte, Bänker. Doch das brave und angepasste Leben, das sie in den USA lebten, das brachten sie nicht mit. Bei uns entledigten sie sich all ihrer Hemmungen, ihrer Moral und vor allem ihres Geldes. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis davon die organisierte Kriminalität angezogen wurde. Prostitution und Drogen waren das Geschäft. Vor allem Kokain. Sehr gutes und sehr teures Kokain. Und immer mehr Touristen bedeutete immer mehr Kokain.
Die kleine Kommunalverwaltung war mit dem rasanten Tempo, in dem Los Santos gewachsen war, völlig überfordert. Neue Leute zogen ins Rathaus, und die brachten wiederum ihre Leute mit. Schnell war der alte, verschlafene Verwaltungsapparat ausgetauscht gegen junge und hungrige Beamte. Vor allem aber korrupte Beamte. Die Drogenbanden machten ihre Geschäfte, und die Beamten kassierten mit. Baugenehmigungen und Restaurantkonzessionen wurden im Rekordtempo erteilt, immer begleitet von üppigen Schmiergeldern. Sogar ein großes Kasino eröffnete mit einer Sondergenehmigung. Die ehemals so friedliche Stadt wusch das schwarze Drogengeld blendend weiß. Die Korruption war offensichtlich. Jeder wusste es, doch jeder schien zu profitieren. Auch wir, obwohl wir uns so gut es ging aus dem Treiben in der Stadt raushielten. Unsere Ranch war eine Oase des Friedens und der Ruhe, hoch oben über der Stadt. Hier fühlten wir uns sicher und unerreichbar vor dem schmutzigen Griff der Stadt. Doch diese Ruhe war trügerisch und nicht von Dauer. Mit etwas Abstand frage ich mich nun, warum ich uns für unantastbar hielt.“
Ich blickte auf die Uhr an der Wand. Es war bereits eine volle Stunde vergangen, seit ich Browns Büro betreten hatte. Ich holte tief Luft und drückte den Rücken durch.
„Ok“, sagte ich energisch und atmete kräftig aus, „ich versuche es nun wirklich kurz zu machen.“
Brown hob die Augenbrauen und räumte mit seinen Händen einen imaginären Weg frei, damit ich meine Geschichte in Ruhe weitererzählen konnte.
„Wir haben also profitiert, ohne dass sich für uns persönlich zunächst viel geändert hatte. Doch das änderte sich von einem auf den nächsten Tag. Zuerst sind zwei Mitarbeiter vom Gewerbeamt bei mir im Hafen aufgetaucht. Junge Typen in Anzügen. Ich hatte eben die letzte Kiste mit Fisch in den Transporter geladen, Schwertfisch, ich erinnere mich genau, und wollte gerade los.
Sie wollten sich mal mein Geschäft anschauen, sagten die beiden in einem Tonfall, der mir sofort klarmachte, dass es hier um etwas ganz anderes ging. Ich war inzwischen einer der größten Fischlieferanten der ganzen Region, und das hatte offenbar Begehrlichkeiten geweckt, ohne dass ich dies bemerkt hatte. Offiziell wollten die Männer die Einhaltung der Hygienevorschriften kontrollieren. Offiziell. Zunächst gaben sie sich Mühe, nicht direkt den wahren Grund ihres Besuches anzusprechen, aber dann dauerte ihnen ihr eigenes Spielchen selbst zu lang, und sie redeten Klartext. Schmiergeld. Darum ging es. Oder vielmehr, denn es gab ja keine Gegenleistung, blanke Erpressung. Entweder sie verdienen mit an meinem Geschäft, oder die Verwaltung würde mir Probleme bereiten.
Mit ein paar besonders schönen Fischen konnte ich den ersten Versuch noch abwiegeln und die Männer loswerden. Aber nach ein paar Tagen kamen sie zurück. Und sie kamen nicht allein. Zwei finstere, muskelbepackte Typen folgten ihnen, einer hielt einen Pitbull nur mit Mühe an seiner Leine. Mein Herz blieb fast stehen. Das würde nicht gut ausgehen, und so war es. Diese beiden Typen gehörten der größten Drogenbande an, die in der Stadt mittlerweile das Sagen hatte. Und dass sie von Offiziellen der Stadt begleitet wurden, war eine klare Botschaft. Das Gesetz hatte die Seiten gewechselt. Und ich hatte ein riesiges Problem, denn es ging ihnen gar nicht um Schutzgeld. Zumindest nicht um Schutzgeld allein.
Ab sofort sollte ich nicht mehr nur Fisch transportieren, sondern auch Kokain, das auf diese Weise unauffällig über die ganze Stadt verteilt werden sollte. Ich verstand überhaupt nicht, warum solch eine Tarnung überhaupt notwendig war, schließlich hatte es den Anschein, als stünden die gesamte Polizei und alle Mitarbeiter der Stadtverwaltung auf der Lohnliste der Kriminellen. Doch anscheinend gab es doch noch ein paar letzte aufrichtige Beamte, an denen vorbei es zumindest einer gewissen Tarnung der Drogengeschäfte bedurfte. Und das Risiko, erwischt zu werden, lag bei mir. Doch diese bösen Menschen wollten noch mehr. In den Gewächshäusern auf unserem Grundstück sollte von nun an Marihuana angepflanzt werden. Schon in ein paar Tagen würden die ersten Pflanzen geliefert. Ich war geschockt und hilflos.
Eine Woche verging, doch nichts geschah. Dann noch eine Woche, in der wir weder von den korrupten Behördenmitarbeitern noch von den Kriminellen etwas hörten. Aber wir wussten, dass sich das jeden Tag ändern konnte. Und so hatten wir längst einen Entschluss gefasst, auch wenn der unser Leben auf den Kopf stellen würde. Wir wollten alles verkaufen! Die Fischerei, die Gärtnerei und nicht zuletzt auch mein Elternhaus, so schwer mir das auch fiel. Aber an solch einem Ort konnten wir nicht mehr leben, und auf gar keinen Fall sollten unsere Mädchen hier aufwachsen.
So rasch es möglich war, leiteten wir alles in die Wege. Die Fischerei mit dem gesamten Kundenstamm übernahm ein Konkurrent, und meine Mitarbeiter behielten ihre Arbeit. Die Ranch verkauften wir mitsamt der Gärtnerei an unsere Bank. In der boomenden Stadt war unser Grundstück begehrt und für beide Seiten ein gutes Geschäft. Innerhalb weniger Tage hatten wir unser gesamtes bisheriges Leben aufgelöst. Aber wir hatten zu wenig Zeit und zu viel Angst, ihm nachzutrauern. Wo sollten wir jetzt hin? Innerhalb einer Woche mussten wir die Ranch verlassen haben. Wir entschlossen uns, in der Baja California zu bleiben, und hatten die Hoffnung, dass es einhundert Kilometer weiter nördlich möglich war, ein neues Leben aufzubauen, ohne in der Reichweite des alten zu sein.“
„Was ist dann geschehen?“ Mr. Brown nahm einen Schluck Wasser aus einer Kaffeetasse.
„Was dann passiert ist, fragen Sie …“, ich stockte. Was ich nun erzählen musste, brachte mein Herz schon beim Gedanken daran fast zum Stehen, und ich wusste nicht so recht, wo ich beginnen sollte, also begann ich mittendrin.
„In der Küche sind sie über sie hergefallen.“ Ich bemühte mich, stark zu bleiben und nicht in Tränen auszubrechen.
„Hergefallen?“ Brown zog sich mit einer raschen Handbewegung die Brille von der Nase.
„Rosalie war mit Ana und Teresa allein auf der Ranch, als plötzlich vier Männer aufgetaucht sind, einer von ihnen war sogar Polizist, zumindest trug er eine Polizeiuniform. Sie sind mit einem kleinen Lastwagen gekommen und hatten die ersten Marihuanapflanzen dabei, die wir für sie anbauen sollten. Ohne Vorwarnung standen sie plötzlich vor dem Haus. Zwei haben angefangen, die Pflanzen abzuladen, die anderen beiden aber haben bemerkt, dass Rosalie allein war und sie sofort ins Haus gedrängt. Einer von ihnen war der Polizist. Der andere ein dicker, widerlicher Kerl.“
Ich holte tief Luft.
„Das waren Tiere. Nach Schweiß stinkende, wilde Tiere. In der Küche sind sie über sie hergefallen, sie haben Rosalie vergewaltigt, ich meine, sie haben es versucht, sie haben ihre Kleider zerrissen, Rosalie hat sie angefleht. Und die ganze Zeit über hatte sie Angst, dass die Mädchen plötzlich im Zimmer stehen würden. Doch die Männer ließen sich nicht von ihrem Plan abbringen. Sie haben Rosalie mit einem Messer bedroht. Der Polizist war ein brutaler Sadist. Der Dicke hat Rosalie dann auf die Knie gezwungen, sie musste ...“
„Ist gut, ist gut!“ Brown stützte sich mit beiden Händen auf dem Tisch auf und nahm einen weiteren Schluck aus seiner Tasse. „Sie müssen nicht jedes Detail erzählen. Versuchen Sie, ganz nüchtern zu erzählen, was passiert ist. Wie gesagt, Sie müssen nicht jedes Detail erzählen.“
„Doch, ich muss. Es geht nicht anders. Denn wenn in unserer Akte später steht, meine Frau sei eine Mörderin, dann müssen Sie wissen, dass sie es nicht ist. Stellen Sie sich die Situation genau vor, denn genau so war es.“
Ich blickte Brown eindringlich an.
„Rosalie kniet auf dem Küchenboden, zitternd, flehend, doch der sadistische Polizist lacht nur. Mit seinen gelben Zähnen lacht er immer lauter, dann holt er seinen verschwitzten Schwanz aus der Hose und hält ihn drohend in der Hand wie eine Waffe. Der Dicke hat das Messer in der Hand, er leckt es ab, fuchtelt damit vor Rosalies Gesicht rum.
Dann macht er einen Schritt vorwärts, doch er rutscht auf dem Teppich aus. Er stolpert, taumelt und fällt schließlich vornüber. Mit der vollen Wucht seines schweren Körpers knallt sein Kopf auf die Glasplatte vom Wohnzimmertisch. Blut spritzt, er bleibt sofort regungslos liegen. Das Messer liegt auf dem Boden. Rosalie erkennt ihre Chance, sie will fliehen, aber der Polizist lässt sie nicht. Er packt sie am Bein, sie fällt hin, er zieht sie zu sich heran. Wieder lacht er, immer lauter, immer lauter. Rosalie reißt sich los, will wegrennen, aber er tritt ihr die Beine weg und sie fällt erneut zu Boden, direkt auf den Dicken, er bremst ihren Sturz. Von Adrenalin gepeitscht greift sie das Messer. Der Polizist stürmt auf sie zu. Sie hebt das Messer und rammt es ihm in die Brust. Er schreit auf, ist jetzt völlig außer sich und greift Rosalie weiter an. Aber sie ist im Überlebensmodus. Immer und immer wieder rammt sie das Messer in seine Brust und seine Arme, bis sie es der Bestie schließlich mit der allerletzten Kraft in den Hals rammt und er zu Boden sinkt. Blut schießt im Takt des Pulses aus seinem Hals. Dann hört sein Herz auf zu schlagen, das Blut spritzt nun nicht mehr, sondern quillt dick und dunkel aus seinen Wunden und verteilt sich auf dem Teppich.“
„Wo waren Ihre Kinder?“
„Sie haben geschlafen, im ersten Stock. Gott sei Dank haben sie von all dem nichts mitbekommen. Auch die beiden Männer im Gewächshaus haben nichts gehört. Rosalie ist nach oben gerannt, hat die Mädchen geschnappt, sich mit ihnen aus dem Hinterausgang geschlichen, ist zum Auto gerannt und losgefahren. Panisch hat sie immer wieder in den Rückspiegel geblickt. Aber sie hat dort nur ihre eigene Staubwolke gesehen. Folgten die Typen ihr? Es war unmöglich zu erkennen. Aber niemand ist ihr gefolgt. Sie ist direkt zu mir in den Hafen gekommen. Können Sie sich vorstellen, was ich gefühlt habe, als ich sie so gesehen habe? Die Mädchen in ihren blutverschmierten Armen?
Ich mache mir solche Vorwürfe. Wie hatte ich sie allein auf der Ranch lassen können? Wir wussten doch, dass diese Leute hinter uns her waren! Rosalie hat am ganzen Körper heftig gezittert, sie war nicht in der Lage, auch nur ein einziges Wort zu sprechen. Ich wusste, ihr war das Schlimmste passiert, an das ich denken konnte, und habe sie einfach nur festgehalten. Können Sie sich das vorstellen?“ Jetzt konnte ich meine Tränen nicht zurückhalten. „Meine Frau hat einen Mann getötet! Aber sie ist keine Mörderin!“
„Notwehr! Das war Notwehr!“, rief Brown lautstark. Dann versuchte er, sich wieder zu beruhigen und professionell zu bleiben. Aber unsere Geschichte ließ ihn nicht kalt, obwohl er sicher schon eine Menge schlimmer Geschichten gehört hatte. Es schien für ihn etwas Persönliches zu sein.
„Wir konnten nicht klar denken. Ein Polizistenmord, wir waren uns sicher, niemand würde uns glauben, nicht unter diesen Umständen, nicht im korrupten Los Santos. Wir hatten nichts als die Kleider am Leib, unser Auto und unsere Papiere im Safe. Auf die Ranch konnten wir nicht zurück, in der Stadt bleiben auch nicht. Und zur Polizei? Nein, nein, nein. Wir waren uns sicher, dass wir das nicht überleben würden. In unserer Panik gab es nur einen Ausweg. Wir mussten weg, ganz weit weg und in Ruhe überlegen, was zu tun ist. Wo sollten wir hin? In Mexiko konnten wir nicht bleiben. Wir mussten das Land verlassen. Aber wie? Bis wir an der Grenze wären, würden die Behörden sicher schon nach uns suchen. Wegen Polizistenmord! Man würde uns sofort verhaften! Auf legalem Wege würden wir das Land also nicht verlassen können. Wir hatten ja nicht mal richtige Ausweise, nur die Kopien, die ich in meinem Büro hatte. Das war alles so schlimm! Würde ich noch mal so reagieren? Ich weiß es nicht! Aber ich bete, dass ich nie wieder solch eine Entscheidung treffen muss.
Wir sind fast ohne Pause bis zur Grenze gefahren. Nur einmal haben wir angehalten, um den Mädchen etwas zu trinken zu kaufen. Und die ganze Zeit über haben wir gedacht, gleich werden wir verhaftet. Wir hatten das Gefühl, jeder Polizist sah uns an, was wir getan hatten. Was wir hatten tun müssen. Den halben Tag und die ganze Nacht waren wir unterwegs. Im Morgengrauen haben wir schließlich die Grenze erreicht. Es war wahnsinnig viel los. Hunderte Menschen überquerten den Grenzübergang in beide Richtungen. Wir haben das Auto geparkt, die Mädchen auf den Arm genommen und sind einfach im Gewusel der Menschenmassen zu Fuß über die Grenze marschiert. Wir mussten uns so sehr zusammenreißen, nicht zu rennen! Wir haben uns nicht umgedreht und zu Gott gebetet, er möge uns beschützen! Und tatsächlich hat uns niemand aufgehalten. Auf der amerikanischen Seite sind wir in den nächsten Bus gestiegen und einfach nach Norden gefahren. Nach einer halben Stunde, weit genug entfernt von der Grenze, sind wir ausgestiegen und haben uns der Polizei gestellt. Und jetzt sind wir hier. Vielleicht war es die falsche Entscheidung, illegal in Ihr Land zu kommen, aber für uns war es die einzige, die wir hatten.
Und jetzt sind wir hier. Wir haben unser gutes Leben verloren, doch wir sind gute Menschen geblieben, wir haben nichts Unrechtes getan. Aber in Mexiko können wir keine Gerechtigkeit erwarten.“
Mr. Brown stoppte mich, indem er energisch die Hand hob. „Geben Sie mir einen Moment, Mr. Olivares. Ich muss verdauen, was Sie mir da gerade erzählt haben. Menschen können bestialisch sein. Aber Menschen können auch gut sein. Ich muss entscheiden, wie es für Sie und Ihre Familie weitergeht. Und ich muss entscheiden, ob ich Ihnen glaube, dass Sie mir die Wahrheit erzählt haben. Ich werde auch mit Ihrer Frau sprechen, gleich im Anschluss. Sie werden vorher nicht mit ihr sprechen können.“
Er atmete tief durch, klopfte die Akte auf den Schreibtisch und legte sie wieder hin.
„Wissen Sie, wenn Familien mir ihre Geschichte erzählen und mich anlügen, dann merke ich das. Wissen Sie, woran?“
Panik stieg in mir auf. Hatte ich mir Browns gutmütige und gerechte Art nur eingebildet?
„Nein, ich weiß es nicht.“
„Sie erzählen dieselbe Geschichte. Und zwar nicht irgendwie, sondern wörtlich. Und beim nächsten Interview genauso. Immer und immer wieder dieselben Worte. Sie haben ihre Geschichte auswendig gelernt. So unterscheide ich eine Lüge von der Wahrheit. Mr. Olivares, ich glaube Ihnen, aber ich werde mit Ihrer Frau sprechen, und dann entscheide ich, ob das auch so bleibt. Erzählt mir Ihre Frau dieselbe Geschichte wie Sie, nur aus ihrer Perspektive, ist alles gut. Erzählt Sie mir Ihre Geschichte mit denselben Worten wie Sie, ist nicht alles gut. Dann muss ich davon ausgehen, dass Sie sich abgesprochen haben.“
Mein Herz setzte einen Schlag aus. „Wenn Sie uns nach Mexiko zurückschicken, schicken Sie uns in unseren Untergang. Bitte …“
„Beruhigen Sie sich, Mr. Olivares. Ich habe es Ihnen gesagt, wer wirklich Hilfe braucht, der bekommt sie auch.”
„Und wie geht es jetzt für uns weiter?“
„Vorausgesetzt, das Gespräch mit Ihrer Frau verläuft positiv, werden Sie diese Unterkunft noch heute verlassen. Und dann beantragen Sie offiziell Asyl in den Vereinigten Staaten. Es gibt besondere Orte für Flüchtlinge wie Sie. Immer vorausgesetzt, Sie haben die Wahrheit erzählt.“
„Flüchtlinge wie wir? Was bedeutet das?“
„Das bedeutet, dass sie keine Wirtschaftsflüchtlinge sind und ich Ihnen eine gute Sozialprognose ausstelle. Vorausgesetzt, das Gespräch mit Ihrer Frau verläuft gut. Wenn das so ist, werden Sie mit Ihrer Familie hier in Kalifornien bleiben, in einem kleinen Ort namens Santa Roca. Und, Mr. Olivares, eines noch …“
Verunsichert blickte ich Brown an. „Ja?“
„Herzlich willkommen in Amerika! Es wird sicher alles gut werden. Glauben Sie an das Gute!“
„Das tue ich. Noch immer.“