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»Santa Roca« 2020–2024.

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Drei Stunden nach dem Gespräch mit William Brown saßen wir in einem Auto der Einwanderungsbehörde Richtung Santa Roca. Das Gespräch zwischen Mr. Brown und Rosalie war gut verlaufen, und noch in Browns Büro hatten wir offiziell einen Asylantrag gestellt. Bis über den entschieden wurde, würden wir in einem Haus der Kirchengemeinde von Santa Roca wohnen, und der Gemeindepfarrer würde sich um uns kümmern. Sein Name war Kevin Brown! Er hieß tatsächlich auch Brown. Er hatte denselben Nachnamen wie William Brown von der Einwanderungsbehörde, mit dem wir eine so gute Erfahrung gemacht hatten. Es war wahrscheinlich einfach Zufall, schließlich war dieser Name in den USA weit verbreitet, aber für mich war es ein Zeichen. Die Zukunft meinte es gut mit uns.

Pfarrer Brown war, wie ich William Brown nur zu gerne glaubte, ein herzensguter Mensch, der sich freuen würde, uns seine Nächstenliebe schenken zu können. Ein Mensch, der das Gute in sich nie aus den Augen verloren hatte.

Nach all dem Schlimmen, das uns widerfahren war, verhieß Santa Roca die Chance, zur Ruhe zu kommen, und die Möglichkeit, wenigstens damit zu beginnen zu verarbeiten, was uns widerfahren war. Wir hatten unser gesamtes Leben verloren, und es gab keine Chance, es zurückzubekommen. Denn was geschehen war, war geschehen. Das konnte niemand ändern. Ich hatte die Verantwortung für meine Familie, ich musste stark sein und schwor mir selbst, den Blick nur nach vorne zu richten. Ich musste Rosalie und den Mädchen der stärkste Rückhalt sein, der ich sein konnte. Am besten noch mehr als das. Wenn ich jetzt nicht die beste Version von mir sein würde, die ich sein konnte, dann würde ich es nie sein.

Obwohl es in ganz kleinen Schritten wieder bergauf ging, gab es ein grundlegendes Problem. Solange nicht über unseren Asylantrag entschieden war, durften wir nicht arbeiten. Wir würden von unseren Ersparnissen leben müssen, denn wir waren zu wohlhabend für staatliche Unterstützung.

Unser Fahrer sprach die ganze Fahrt über praktisch kein Wort mit uns. Auf der Rückbank des riesigen Kombis schliefen die Mädchen links und rechts an Rosalie gekuschelt, die sich ein Lächeln für mich abrang, als ich nach hinten blickte. Ich lächelte zurück, aber wir wussten beide, dass es sehr lange dauern würde, bis wir wieder richtig lachen konnten. Erschöpft lehnte ich meinen Kopf an das Fenster und ließ die Welt an mir vorbeiziehen. Eine Welt, von der ich im Moment so weit entfernt war, dass sie genauso gut auf einem weit entfernten Planeten hätte sein können.

Mir kamen die Worte ins Gedächtnis, die William Brown mir vor dem Gehen noch mitgegeben hatte.

Ein wichtiger Ratschlag noch“, hatte er gesagt, als wir sein Büro schon verlassen hatten und er mir auf den Flur gefolgt war, „halten Sie sich an die Regeln. Nach allem, was ich aus Santa Roca höre, sind die Menschen dort warmherzig und offen, mit einer Ausnahme: Bezirksrichterin Ruth Buttworth. Sie wissen, dass Sie sich alle drei Monate bei ihr melden müssen, denn sie entscheidet über ihren Asylantrag. Aber denken Sie immer daran, pünktlich zu sein. Geben Sie Richterin Buttworth keinen Anlass für Kritik. Am besten sind sie immer ein paar Minuten früher da. Sie wollen nicht, dass Ihr Antrag abgelehnt wird, nur weil Sie fünf Minuten zu spät kommen.“

Wir werden pünktlich und höflich sein.“ Das waren die letzten Worte, die ich zu Brown sagte. Aber warum hatte ich sie gesagt? Für mich war es selbstverständlich, pünktlich und höflich zu sein.

Der Weg nach Santa Roca war ein verheißungsvoller, und für einen kurzen, glücklichen Augenblick gelang es mir, alles auszublenden, was uns hierhergebracht hatte, und einfach im Moment der Gegenwart aufzugehen. Im warmen Licht der Abendsonne rollten wir langsam über die breite Straße durch eine kleine Stadt. Ich kurbelte das Fenster ein Stück herunter. Die Luft war schwül und roch nach süßen Blüten. Eine ganze Weile starrte ich gedankenversunken aus dem Seitenfenster, bis ich mir dessen bewusst wurde und meinen Blick wieder fokussierte. Gerade fuhren wir an einem Basketballplatz vorbei, der von einem hohen Zaun umgeben war. Im grellen Licht der Scheinwerfer spielten Jugendliche hitzig gegeneinander. Vor den großen Flutlichtern, die den Platz hell erleuchteten, hatten sich Schwärme von Insekten zu einem riesigen Ball geformt, der sich scheinbar chaotisch und doch präzise durch die Luft bewegte und jedem Ball auswich, den die Jugendlichen nach ihm warfen.

Ich blickte auf die Rückbank. Rosalie lächelte mich an. Sie hatte mich die ganze Zeit über beobachtet. Neben ihr schliefen die Mädchen erschöpft. Sie waren noch so klein und verstanden nicht, was vor sich ging. Kein einziges Mal hatten sie gefragt, warum wir so weit weggefahren waren. Aber das würde nicht mehr lange so bleiben. Ich sah Rosalie tief in die Augen und spürte, dass sie dasselbe fühlte wie ich in diesem Moment – Hoffnung! Die Hoffnung, das Leben der Kinder zu einem guten zu machen, und irgendwann auch wieder unser eigenes. Wir würden es schaffen, diese Geschichte würde kein schlechtes Ende für uns nehmen. Wir würden eine glückliche Familie bleiben, auch wenn das hieß, dass wir in den USA ganz von vorne beginnen mussten. Das flüsterten wir uns in Gedanken zu, vorbei an der Angst vor einer ungewissen Zukunft.

Behäbig rollten wir weiter die Straße entlang, dann einen Hügel hinauf, als am Horizont langsam Santa Roca in Sicht kam. Ein pfirsichfarbener Wolkenschleier hatte sich an die Stelle geschoben, an der eben noch tief und groß die Sonne hing. Ich war fest entschlossen, nach vorne zu schauen. Nicht nur die Straße hinunter auf Santa Roca, sondern in unsere Zukunft. Wir mussten neu starten, nachdem wir fast alles verloren hatten, aber ich spürte, dass es uns gelingen würde, Ana und Teresa ein gutes Leben zu ermöglichen.

Wir passierten eben das Ortsschild, als das Wageninnere plötzlich von köstlichem Grillduft erfüllt wurde und mein Magen laut zu knurren begann. Im Hof eines Barbecue-Restaurants grillte ein großer Afroamerikaner auf einem riesigen Grill Steaks, die eine Kellnerin dann zu den Gästen nach drinnen trug. „Wir sind gleich da, noch fünf Minuten”, meldete sich plötzlich der Fahrer, der nicht gesprochen hatte, seit wir losgefahren waren. Wahrscheinlich hatte er uns einfach in Ruhe lassen wollen, er machte einen sanftmütigen Eindruck.

Kurz darauf stiegen wir aus dem Auto und wurden von Pfarrer Brown und seiner Frau herzlich begrüßt. Pfarrer Brown war ein groß gewachsener Mann mit scharfen Gesichtszügen, einer markanten Nase, die unweigerlich an Julius Cäsar erinnerte, und gutmütigen, blauen Augen. Wie wir schon bald feststellten, war er von ruhiger Natur und nur schwer aus der Reserve zu locken. Was nicht hieß, dass er nicht auch sehr deutliche Worte finden konnte, wenn sie seinen Zwecken dienten, wie wir nach wenigen Wochen feststellten. Und so waren seine Predigten in der Kirche manchmal ebenso scharf wie der Haken seiner Nase. Seine Ehefrau Dorothy muss einmal eine sehr schöne Frau gewesen sein, immer wieder blitzte das durch, auch wenn ihr Äußeres nicht mehr dasselbe war. Gesicht und Körper waren aufgeschwemmt. Eine Nebenwirkung der Medikamente, die sie wegen einer schweren Hormonstörung bis an ihr Lebensende einnehmen musste, wie wir später erfuhren. Auch wenn sie von außen keine Schönheit mehr war, so strahlte ihr Herz so viel Liebe aus, dass ausnahmslos jeder, der mit ihr in Kontakt kam, sofort von ihrer Aura eingenommen wurde. Kevin und Dorothy Brown waren ein glückliches Paar, das sich so sehr über die späte Geburt seiner Tochter gefreut hatte, dass sie das Mädchen Donata tauften – die Geschenkte. Donata war ein bildhübsches, pausbäckiges Mädchen von zehn Jahren. Schon bald war sie wie eine große Schwester für unsere Mädchen.

Unser neues Zuhause war eine achtzig Quadratmeter große Wohnung, die im Obergeschoss eines zweistöckigen Hauses lag, das der Kirchengemeinde gehörte und von einer schönen Gartenanlage umgeben war. Im Haus nebenan, nur einen Steinwurf entfernt, lebte Familie Brown. Nachdem Pfarrer Brown und seine Frau uns in die Wohnung geführt und mit dem Wichtigsten vertraut gemacht hatten, ließen sie uns allein, damit wir erst mal in Ruhe ankommen konnten. Im Hinausgehen fragte Dorothy, ob wir noch etwas bräuchten. Rosalie beugte sich vor und flüsterte ihr etwas ins Ohr, das ich nicht verstehen konnte. Pfarrer Brown blickte mich an und lächelte. „Das bedeutet bestimmt etwas Gutes.“ Er klopfte mir aufmunternd auf die Schulter und verließ die Wohnung. Rosalie lächelte mich an. „Ich habe eine Überraschung für dich, aber die gibt es später. Umarme mich mal.“

Oh, wie sehr liebte ich Rosalie dafür, dass sie so liebevoll war! Wir hielten uns in den Armen, und Rosalie drückte mich so fest wie nie zuvor. Ich spürte, wie sehr sie mich jetzt brauchte. Mir ging es ganz genauso. Nie sollte etwas zwischen uns kommen. Rosalie löste sich und gab mir einen Kuss, dann ging sie in die Küche.

Ich blickte aus dem Fenster und sah Dorothy, die mit zwei großen Papiertüten bepackt zu uns herüberkam und kurz darauf mit Rosalie in der Küche verschwand. Pfarrer Brown hatte recht, das bedeutete bestimmt etwas Gutes. Ich ließ die beiden allein und öffnete die Tür zum Zimmer der Mädchen. Sie schliefen noch immer tief und fest, wir hatten sie aus dem Auto getragen und direkt in ihre Betten gelegt. Ihr Anblick erfüllte mich mit Wehmut, aber auch Zuversicht. Behutsam schloss ich die Tür, ging auf den Balkon und legte meine Hände auf die steinerne Brüstung. Es war schon beinahe ganz dunkel, aber noch immer angenehm warm. Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Nach allem, was wir durchgemacht hatten, waren wir in Sicherheit. Zumindest vorerst. Es war noch zu früh, das alles wirklich zu begreifen, vor ein paar Tagen noch lebten wir in Mexiko und jetzt fragten wir uns völlig ungewiss, ob wir jemals dorthin zurückkehren würden. Doch Hauptsache, wir waren zusammen.

Kurze Zeit später löste mich köstlicher Duft aus meinen Gedanken. Ich kannte diesen Geruch nur zu gut. Rinderhackfleisch, erst scharf angebraten, dann in Rosalies selbstgemachter Tomatensalsa mit Koriander geschmort. Mit frischem Salat, geriebenem Cheddar und garniert mit einem Klecks saurer Sahne landete diese köstliche Mischung in einer knusprigen Maisschale – gefüllte Tacos! Ich aß sie für mein Leben gerne! Schon als Kind waren sie mein absolutes Lieblingsgericht, und ich kann mich an keine einzige Woche in meinem Leben erinnern, in der meine Mutter nicht mindestens einmal selbstgemachte Tacos auf den Tisch gestellt hatte. Wenn es um köstlich gefüllte Tacos ging, war ich schon immer ein echter Mexikaner, auch wenn ich damit ein Klischee erfüllte. Mexikaner essen gerne Tacos, sagen die gutmütigen Menschen. Mexikaner sind Tacofresser, die bösen.

Rosalie wusste, wie sehr sie mit diesem Essen für unseren Zusammenhalt sorgte. Sie zauberte uns damit ein Stück Heimat nach Santa Roca. An diesem Abend konnten wir die Sorgen beiseiteschieben, wenigstens für ein paar glückliche Momente. Nach dem Essen setzten wir uns mit einer Flasche Rotwein auf den Balkon und blickten Hand in Hand in den prächtigen Sternenhimmel. Es war der erste Abend in unserer neuen Heimat und einer der letzten, an dem die Dinge zwischen Rosalie und mir so harmonisch waren. Denn unser Asylverfahren sollte schon bald zu einer schweren Belastungsprobe für unsere Beziehung werden. Doch davon war an diesem ersten Abend in Santa Roca nichts zu erahnen. In dieser wunderbaren Nacht war alles gut, und wir schliefen eng umschlungen ein.

Am nächsten Morgen weckte mich die frühe Sonne, während Rosalie noch tief und fest weiterschlief, und auch die Mädchen lagen noch in ihren Betten. Leise schlich ich mich in die Küche, kochte mir einen Kaffee und ging damit raus auf den Balkon. Die Sonne lachte mich an, ich lächelte ihr zu und ließ meinen Blick über den wunderschönen Garten hinter dem Haus schweifen. Er sollte schon bald zu dem Ort werden, an dem Rosalie viel Zeit verbrachte. Mit jedem Tag blühte sie wieder ein Stück mehr auf.

Die Gartenarbeit half ihr dabei, mit dem Verlust unseres Lebens in Mexiko umzugehen. Ein mexikanisches Sprichwort sagt: Heilen heißt, das Herz glücklich zu machen. Und genau das tat dieser Garten. Er heilte Rosalies Herz, in kleinen Schritten, aber er tat es. Ich war glücklich, dass sie eine Beschäftigung gefunden hatte, die ihr Freude bereitete. Was mich anging, so machte ich mir in der Gemeinde schnell einen Namen als Handwerker. Natürlich ohne Bezahlung, denn solange wir keinen positiven Asylbescheid bekamen, durften wir keine bezahlte Arbeit annehmen. Und wenn unser Antrag abgelehnt würde, dann hätten wir ohnehin andere Sorgen.

In Santa Roca lebten etwa 5000 Menschen, und von einer kanadischen Großfamilie abgesehen waren wir die einzigen Ausländer und damit etwas Besonderes. Natürlich kann ich nicht sagen, dass wir alle Menschen im Ort persönlich kannten, doch schon nach ein paar Monaten fühlte es sich so an. Jeder, der regelmäßig Pfarrer Browns Gottesdienst besuchte, kannte uns. Dort hatte er den Menschen von den Neuankömmlingen in der Gemeinde berichtet, und alle schienen sich darüber zu freuen. Santa Roca war ein Ort von guten Menschen. Und war es ein Zufall, dass es kein republikanischer Ort war? Die Menschen hier wählten schon seit Jahrzehnten fast geschlossen demokratisch.

Rosalie hatte wieder begonnen, Blumen zu züchten, die schon bald zahlreiche Wohnzimmer und Küchen in Santa Roca schmückten. Dorothy Brown, selbst eine leidenschaftliche Gärtnerin, hatte Rosalie geholfen, seltene Orchideensamen zu besorgen. Als Handwerker hatte ich irgendwann praktisch für jeden schon mal irgendetwas repariert. Regelmäßig wurden wir zu Grillfesten oder zum Kaffeetrinken eingeladen. Niemand mit Ausnahme der Browns kannte unsere ganze Geschichte, aber Pfarrer Brown hatte jedem von Anfang an versichert, dass wir gute Menschen waren. Und sein Wort hatte Gewicht in der Gemeinde.

Drei Jahre vergingen, und es waren für uns als Familie und besonders die Mädchen drei gute Jahre, doch kamen wir mit unserem Asylantrag keinen Schritt voran. Rosalie und ich stritten uns deswegen jetzt immer öfter und leider auch immer heftiger. Nur für Ana und Teresa rauften wir uns immer wieder zusammen. Die Zwillinge blühten in ihrer neuen Heimat richtig auf, sie durften in den Gemeindekindergarten und hatten schnell Freunde gefunden, was auch uns half, uns noch mehr zu integrieren. Aber eine Entscheidung über unseren Asylantrag wurde alle drei Monate auf den nächsten Termin vertagt, nur um an diesem dann erneut um drei Monate verschoben zu werden. Das hatte System. Und dieses System hieß Ruth Buttworth.

Sie war eine unangenehme, geradezu bösartige Person. Klein, hager und verhärmt, um ihren Mund lagen böse Züge. Ihre grünen Augen waren winzig und von durchdringendem Blick hinter einer großen schwarzen Hornbrille. Die grauen Haare hatte sie zu einem strengen Dutt gebunden, der in einem Netz am Hinterkopf steckte. Bezirksrichterin Buttworth mochte keine Mexikaner und gab sich nur wenig Mühe, dies zu verhehlen. Aber es gab etwas, das sie mochte, sehr sogar, ja geradezu verehrte. Den amerikanischen Präsidenten und seine Art, das höchste Amt im Staate auszuführen. Seit Trump wieder unverhohlen gegen Mexikaner hetzte, gegen die man sich nur mit absoluter Härte zur Wehr setzen konnte, fühlte sich Ruth Buttworth bestätigt.

Bei unseren Anhörungen genoss sie es, uns ihre Macht zu demonstrieren. Wenn wir sprachen, schnitt sie uns das Wort ab, setzten wir erneut an, hob sie drohend ihren knochigen Zeigefinger, an dem sie einen riesigen Siegelring trug. Sie verachtete uns einzig, weil wir Mexikaner waren. Seit Trump vor acht Jahren das Präsidentenamt übernommen und vor vier Jahren schmutzig und blutig verteidigt hatte, war es für viele Amerikaner immer normaler geworden, Menschen nur aufgrund ihrer Herkunft öffentlich zu schlechten Menschen zu erklären, zu unerwünschten Menschen. Der Präsident selbst machte es ihnen vor und forderte sogar in den USA geborene Menschen, deren Wurzeln außerhalb der Vereinigten Staaten lagen, auf, in die Scheißlochländer zurückzukehren, aus denen ihre Eltern einst in die USA emigriert waren.

Donald Trump hatte die Amerikaner endgültig gegeneinander aufgehetzt. Und je näher die schicksalhafte Wahl rückte, mit der Trump eine dritte Amtszeit erreichen wollte, desto drastischer wurden seine Worte, und er wandte sich nun wieder dem Thema zu, das schon in seinem ersten Wahlkampf vor acht Jahren so gut funktioniert hatte: kriminelle Mexikaner. Und damit meinte er alle Mexikaner. Die demokratische Partei hatte er längst zu Komplizen Mexikos erklärt, zu Kommunisten, Sozialisten, Linksradikalen, kurzum zu Feinden Amerikas. Wer die Demokraten wählt, greift damit all das Großartige an, für das Amerika steht. Das war seine simple Botschaft. Und er hatte Erfolg damit. Trump saß fester im Oval Office als je zuvor. Mindestens die Hälfte der Amerikaner unterstützte ihn, die andere Hälfte nicht. Fünfzig-fünfzig ist eine denkbar schlechte Ausgangslage für eine Versöhnung.

Für Bezirksrichterin Ruth Buttworth waren die Obama-Jahre acht verlorene Jahre gewesen. Die beiden Amtszeiten, in denen Trump jetzt schon das Sagen hatte, schien Amerika für sie wieder zu dem Ort gemacht zu haben, der er sein sollte. Ein Ort, an dem amerikanische Interessen immer an erster Stelle kamen. Wie schmutzig und skrupellos sich Trump seine zweite Amtszeit ergaunert hatte, spielte für sie überhaupt keine Rolle, im Gegenteil. Wie so viele Amerikaner war auch sie fest davon überzeugt, dass die Demokraten bei der letzten Wahl betrogen hatten und Trump in Wahrheit gewonnen hatte. Und war er nicht im Recht? Wie sonst hätte er sich im Amt halten können? Das war die krude Logik von Menschen wie Bezirksrichterin Ruth Buttworth.

Und so fand sie alle drei Monate einen weiteren Grund, warum nicht jetzt über unseren Asylantrag entschieden werden konnte. Und alle drei Monate mussten wir damit rechnen, noch in Buttworths Büro festgesetzt und abgeschoben zu werden. Es führte kein Weg an der knochigen Richterin vorbei zu einer höheren Instanz. In diesem Bezirk hatte sie das Sagen. Und woanders leben durften wir nicht. Wir waren an Santa Roca gebunden und Ruth Buttworth ausgeliefert. Hätte sie unseren Antrag abgelehnt, so hätten wir dagegen Einspruch einlegen können, und über den würden dann andere Richter entscheiden. Aber Buttworth ließ uns nicht von ihrem Haken.

Nach jeder Anhörung waren wir am Boden zerstört, und Pfarrer Brown hatte seine rechte Mühe, uns wieder aufzurichten. Er begleitete uns fast zu jedem Termin und wartete geduldig vor der Tür. Auch ihm entging nicht, dass Buttworth im Begriff war, Rosalie und mich zu entzweien. Doch er war klug genug, nicht alleinige Partei für einen von uns beiden zu ergreifen. Aber selbst dem stets zuversichtlichen Pfarrer Brown fiel es von Anhörung zu Anhörung schwerer, nicht die Hoffnung zu verlieren. Sosehr er sich auch bemühte, uns das nicht spüren zu lassen, so gelang es ihm von Mal zu Mal weniger.

Doch was Rosalie und mich anging, so war es nicht die Art, wie Richterin Buttworth uns behandelte, sondern vielmehr die Art, wie ich mich ihr gegenüber verhielt. Was Rosalie jeden Tag ein Stück weiter von mir entfernte, war mein Glaube, dass in jedem Menschen, selbst in Bezirksrichterin Ruth Buttworth, irgendwo tief drinnen ein guter Kern steckte. So hatte ich es von meinem Pfarrer aus Kindheitstagen gelernt. Jeder Mensch kommt gut und rein auf die Welt, niemand kommt böse auf die Welt. Und diesen guten Kern trägt ein Mensch sein Leben lang in sich, auch wenn er nicht immer sichtbar ist. Wenn ein Mensch Böses tut, dann nur, weil ihm selbst Böses widerfahren ist. Und umso mehr braucht er die Nachsicht der guten Menschen. So schwer das fallen mag. „In Richterin Buttworth existiert nichts Gutes mehr. Wenn es das jemals gab, dann ist es schon lange verschwunden.“ Rosalies Meinung war klar, und Richterin Buttworth zeigte uns bei jedem Besuch deutlich, dass es naiv von mir war, daran zu zweifeln.

Rosalie hatte das früh erkannt, ich aber nicht. Jetzt weiß ich, ich wollte es nicht erkennen. Vielmehr wollte ich weiterhin daran glauben, dass selbst Ruth Buttworth in ihrem tiefsten Inneren noch etwas von dem Guten hatte, mit dem sie, wie alle Menschen, auf die Welt gekommen war. Und daran, dass wir irgendwann von diesem guten Kern profitieren würden und einen positiven Asylbescheid erhielten, wenn es uns gelang, ihn durch unsere beharrliche Freundlichkeit freizulegen. Doch in Wahrheit trieb Bezirksrichterin Buttworth Rosalie und mich immer weiter auseinander.

Nach drei Jahren zwischen Stillstand und der ständigen Angst, beim nächsten Gerichtstermin festgesetzt und abgeschoben zu werden, waren wir irgendwann sogar an den Punkt gelangt, an dem wir ernsthaft darüber nachdachten, unter welchen Umständen wir nach Mexiko zurückkehren könnten. Doch was würde dann aus Ana und Teresa? Die USA waren ihre Heimat geworden, und sie hatten inzwischen mehr Zeit ihres Lebens hier verbracht als in Mexiko. Die Situation zermürbte mich so sehr, dass ich begann, nachts mit den Zähnen zu knirschen. So heftig, dass immer wieder kleine Stücke abbrachen. Wenn ich am Morgen aufwachte, schmerzte mir der Kiefer. Doch wenn wir an Richterin Buttworths Bösartigkeit nicht zugrunde gehen wollten, durften wir nicht aufhören, an eine Zukunft zu glauben, in der alles gut werden würde. Auch wenn wir unterschiedliche Vorstellungen von dem Weg in diese Zukunft hatten. Der Blick zurück, der Streit zum Umgang mit Buttworth, all das richtete sich letztlich nur gegen uns selbst.

Inzwischen waren es nur noch wenige Wochen bis zur schicksalhaften Wahl, bei der Donald Trump sein schmutzig erkämpftes Amt verteidigen wollte. In den vergangenen acht Jahren hatte er das Land an den Rand des Abgrundes geführt oder sogar schon ein Stück darüber hinaus, was Hunderttausende Amerikaner so sahen, die durch Trumps miserables Management der Covid-Krise Angehörige verloren hatten. Aber Trump erklärte sich weiterhin zum perfekten Krisenmanager, der durch sein konsequentes Handeln im Kampf gegen das China-Virus, wie er es hartnäckig nannte, Millionen amerikanische Leben gerettet habe. Dann war der erste Impfstoff auf den Markt gekommen, weitere folgten und beendeten die Pandemie innerhalb eines Dreivierteljahres. Für Trump war das die Bestätigung, dass sein Handeln zu jedem Zeitpunkt richtig gewesen war. Er hatte den Menschen einen schnellen Impfstoff versprochen, und tatsächlich war der noch im Jahr 2020 gefunden. Dass dies ausgerechnet ein paar Tage nach der Wahl bekannt gegeben wurde, war für Trump ein weiterer Beweis dafür, dass eine große Verschwörung gegen ihn im Gange war. Und seine Anhänger glaubten ihm. Wahrscheinlich war es sogar besser für Trump gewesen, dass der Impfstoff nicht ein paar Wochen früher entwickelt worden war. Trump erklärte den Menschen, dass die Verschwörung gegen ihn, hinter der selbstverständlich die Demokraten steckten, eine halbe Millionen Amerikaner das Leben gekostet hatte.

Aber Trump sprach jetzt nicht mehr über das Virus, sondern nur noch über Mexiko. Wie versprochen habe er die Mauer fertiggestellt und Mexiko dafür bezahlen lassen. Alle wussten, dass dies nicht stimmte, aber Trump ignorierte es stumpf. Er hetzte gegen die Mexikaner im Land, die nicht nur jede Menge Straftaten begingen, sondern vor allem den Amerikanern die Jobs streitig machten. Jobs, die er geschaffen habe – für Amerikaner! Die Demokraten wollten seinen Erfolg zerstören, denn sie ertrügen es nicht, dass kein Präsident der Geschichte, nicht mal Abraham Lincoln, mehr für das Land getan habe als er, Donald John Trump. Für ihn war die Sache klar: Er hatte in den Geschichtsbüchern die Führung übernommen!

America first! Wer dieser Losung nicht uneingeschränkt folgte, wurde vom Präsidenten pauschal zum Feind Amerikas erklärt. Mit seinen Worten säte er Wind, und im ganzen Land folgte der Sturm. Die Amerikaner standen sich unversöhnlicher gegenüber als jemals zuvor. Auf den Straßen, an der Arbeit, in den Familien. Doch die Demokraten konnten davon nicht profitieren, ihr schwacher Präsidentschaftskandidat kam gegen Trumps Gebrüll nicht an. Der Präsident lag in den Umfragen vorn.

Das Land war tief gespalten und voller Hass. Aber das Leben in Santa Roca hingegen war eine friedliche Oase, die selbst Richterin Buttworth nicht vollends zerstören konnte. Und zum Glück lebte sie nicht in der Gemeinde, sondern in der Bezirkshauptstadt einige Meilen entfernt. Unsere Situation war einigermaßen schizophren. Während im ganzen Land gegen Mexikaner gehetzt wurde, erfuhren wir in Santa Roca Liebe. Bei den Gerichtsanhörungen dann wieder Hass. Und wenn wir zurück nach Hause kamen, das Lächeln in den Gesichtern der Menschen. Wir waren in diesem Widerspruch gefangen und konnten weder vor noch zurück. Aber wir waren fest entschlossen, niemals aufzugeben.

Wem gehört das Huhn?

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