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5. Das erste Opfer
ОглавлениеDonnerstag, 01. Mai 2014, 07.00 Uhr
Dieses Jahr fällt der 1. Mai, ein gesetzlicher Feiertag in ganz Deutschland, auf einen Donnerstag und nahezu alle Mitbürger freuen sich, heute länger ausschlafen oder ihren Hobbys nachgehen zu können, wenn sie nicht zu den Unglücklichen gehören, die auch an diesem Tag zum Wohle der Allgemeinheit arbeiten dürfen.
Der 35-jährige Kriminalhauptkommissar Volker Weidlich wird an diesem Morgen schon gegen 7 Uhr von freundlichen Sonnenstrahlen geweckt, die durch die nur halb geschlossenen Jalousien in das eheliche Schlafzimmer eindringen. Staubkörnchen tanzen lustig in den goldenen Lichtbahnen und Volker hält es nicht mehr länger im Bett. Leise steht er auf, bemüht seine Frau nicht aufzuwecken, schleicht sich vorsichtig die Treppe hinunter, denn auch seine beiden Kinder sind scheinbar noch im hoffentlich friedlichen Land der Träume, und erledigt munter seine Morgentoilette. Schnell sind die Zähne geputzt, die Bartstoppel rasiert und der sportliche Körper geduscht. Da Volker nie weiß, ob er mitten in der Nacht zu einem Einsatz gerufen wird, hat er entsprechende Kleidung für den Notfall im Wohnzimmer deponiert. So kann er sich nun in Ruhe anziehen, ohne seine noch schlafende Familie zu stören.
Nahezu geräuschlos verlässt er das Haus, öffnet die Garage und rollt sein stets gepflegtes Rennrad der Firma Bianchi hinaus. Fast professionell schwingt er sich auf den Sattel und radelt beinahe mühelos die etwa drei Kilometer von Stammheim zum benachbarten Ort Limbach und dort zur Bäckerei Bläse. Sein Heimatort liegt im romantischen Maintal zwischen Schweinfurt und Volkach und verfügt leider nicht über ein solches Fachgeschäft. Die etwa 700 Einwohner zählende Gemeinde Limbach befindet sich dagegen am nördlichen Steilabfall des Steigerwaldes und daher muss er einen anstrengenden Weg bergauf bewältigen. Doch Volker betrachtet die Fahrt lediglich als morgendliches Training, um sich fit zu halten. Der Himmel entspricht dem Klischee der bayerischen Landesfahne, blau-weiß. Viele kleine weiße Wolken, die fast aneinander stoßen, mit blauen Streifen dazwischen, erinnern an Eisschollen auf einem See im Frühjahr, wenn sie sich langsam in der wärmenden Sonne auflösen. Ein Feiertagsvormittag wie aus einem Katalog für traumhafte Familienausflüge.
Vor 16 Jahren, nach bestandenem Abitur auf dem Walther-Rathenau-Gymnasium in Schweinfurt, bewarb Volker sich bei der bayerischen Polizei. Leider lag die Messlatte der vorgeschriebenen Mindestgröße der Kandidaten mit 1,65 Meter um etwa 2 Zentimeter über Volkers Höchstgröße (wenn er sich richtig streckte). Doch Volker konnte dieses Manko durch überragende sportliche Leistungen leicht ausgleichen. Er war im Ausdauerbereich und in den Kampfsportarten den Konkurrenten um Längen voraus. Er erwarb sich, zum Beispiel, im Laufe der Jahre den schwarzen Gürtel und den 8. Dan im Taekwondo. Mancher verschätzte sich hinsichtlich Reaktion und Kampfkraft dieses Polizisten und wunderte sich, wenn er dessen Aufforderungen nicht nachkam und plötzlich bewegungslos am Boden lag. Volker bekam eine Ausnahmegenehmigung und arbeitete sich dank seines Fleißes schnell zum Kriminalkommissar und später zum Kriminalhauptkommissar hoch. Auf Grund seiner hervorragenden Aufklärungsquote hat er sich schnell das Vertrauen und die Anerkennung der Kollegen erworben.
Nach dem Erwerb von Brötchen und Croissants befindet sich Volker bereits gutgelaunt auf dem Rückweg, lässt sein Fahrrad antriebslos aus dem höher gelegenen Limbach zum Maintal hinunter rollen, und wird doch schlagartig durch den Signalton seines Handys gestört. Nach Erwerb des neuen Handys gab es in der Familie lange und lustige Diskussionen bezüglich des Alarmtones, doch Volker hat sich schnell durchgesetzt und den Song 'Honky Tonk Woman' der Stones gewählt. Seit frühester Jugend ist er glühender Verehrer dieser Rockband. Doch auch die Freude über die ersten Klänge des Musikstückes kann seinen Ärger nicht mindern, denn er erkennt auf dem Display, dass sein Kollege Kilian Bleibtreu ihn erreichen möchte. Das bedeutet mit tödlicher Sicherheit, wobei dieses Wortspiel die zu erwartende Nachricht bereits vorweg nimmt, dass sein schöner Feiertag zum Teufel geht:
"Kilian, was gibt's?"
"Bei den Rosenheim-Cops würde man jetzt sagen: Wir habn ne Leich."
"Scheiße, ich habe mich auf ein gemeinsames Frühstück mit meiner Bande gefreut und vielleicht wären mir heute auch ausnahmsweise einmal die Eier geglückt. Brauchst du mich wirklich sofort?"
"Tut mir leid, Volker, ehrlich, aber diese Schweinerei musst du dir persönlich ansehen."
"Ich vermute, du hast recht, aber können diese verdammten Mörder ihre Taten nicht auf unsere Dienstzeiten verlegen. Okay, ich mache mich dann sofort auf den Weg, wenn du mir noch mitteilst, wo sich der Tatort befindet."
Am Seufzen des Kriminalkommissars Kilian Bleibtreu erkennt Volker die Erleichterung des Kollegen:
"Es ist wirklich nötig, dass du sofort kommst. Fahr die Straße von Stammheim nach Volkach. Am Kreisverkehr geht es rechts über die neue Mainbrücke und danach sofort wieder rechts hinunter zum Main und dort benutzt du den Wirtschaftsweg durch die Felder und Gärten, bis er zu Ende ist. Da wartet dann ein Polizist auf dich und bringt dich zum Tatort."
"Schon fast auf dem Weg"
"Halt, fast hätte ich etwas vergessen. Am Kreisverkehr wartet unsere neue Kollegin, Kriminalkommissarin Daniela Hübner-Steglitz. Du möchtest sie bitte mitnehmen."
Äußerst unzufrieden setzt Kriminalhauptkommissar Weidlich seine Fahrt fort. An seiner Garage eingetroffen, verstaut er das Rad in selbiger und begibt sich trübsinnig ins Haus. Dort begrüßt ihn bereits der Lärm seiner erwachten Kinder und seine Frau nimmt ihm strahlend die Brötchentüte aus der Hand:
"Du hast es wieder einmal richtig abgepasst. Der Kaffee ist fertig, die Rasselbande angezogen und das Frühstück kann beginnen. Wir haben wegen des schönen Wetters im Garten gedeckt."
Volker sieht sie einen kurzen Augenblick traurig an und dann auf den Boden.
"Nein, sag', dass das nicht wahr ist. Du musst nicht zum Einsatz - nicht heute und nicht jetzt!"
"Es tut mir leid, aber es gab einen Mord in der Nähe von Volkach. Ich muss sofort hin."
"Verdammt, warum hast du nicht einen anständigen Beruf ergriffen, zum Beispiel Lehrer, mit festen Arbeitszeiten und Freizeit für die Familie."
Volker nimmt seine Frau liebevoll in den Arm. Er weiß genau, dass ihr Zorn nicht ihm gilt, sondern der Enttäuschung über das verpasste Frühstück:
"Auch wenn es jetzt ärgerlich ist, ich bin aber gern Polizist."
"Sei mir nicht böse, Volker, aber es wäre wirklich schön gewesen, einen freien Tag bei so gutem Wetter gemeinsam verbringen zu können. Auch die Kinder werden enttäuscht sein."
Er sieht ein paar Tränen ihr geliebtes Gesicht herunter laufen und fühlt einen mächtigen Kloß im Bauch. Dann geht er in den Garten zu seinen spielenden Kindern und muss auch ihnen die traurige Nachricht überbringen. Als er anschließend mit dem Wagen aus der Garage fährt, hinterlässt er tiefes Schweigen und eine sehr unglückliche Familie. Er kommt sich ziemlich mies vor, seinen Lieben den Tag so verdorben zu haben, ist sich aber auch bewusst, dass ihn eigentlich keine Schuld trifft, wenn man einmal von seiner Berufswahl vor 16 Jahren absieht. Zu dieser Morgenstunde am erwähnten Feiertag findet Volker nur wenige andere Fahrzeuge auf der Straße. Lediglich sportlich orientierte Radfahrer nutzen den bekannten Mainradweg, um dem zu erwartenden Gedränge am Nachmittag auf dieser Strecke zu entkommen. So benötigt er nur knapp 8 Minuten für die etwa 9 Kilometer von Stammheim bis Volkach. Auf der linken Seite der Straße zeigen die vielen Weinreben erstes Grün und rechts fließt ruhig und lässig der von vielen Staustufen gebändigte Main. Volker sieht das Winken seiner Kollegin bereits weit vor dem Kreisverkehr.
Daniela Hübner-Steglitz bewarb sich nach bestandenem Fachabitur an einer Fachschule für Datenverarbeitung in München bei der Polizei und absolvierte die 29-monatige Ausbildung zur Polizeioberwachtmeisterin. Nach knapp zweijähriger Berufserfahrung sorgte ihr Ehrgeiz für die Einschreibung zum Studium an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung und Recht in Fürstenfeldbruck. Nach erfolgreichen Prüfungen wurde sie zur Polizeikommissarin ernannt und zum 1. April der Kriminalpolizeiinspektion Würzburg zugewiesen. Daniela ist außerordentlich gut aussehend und sieht mit ihren 27 Lenzen noch immer ein wenig wie ein hilfloses Schulmädchen aus. Modische, oft sehr körperbetonte Kleidung unterstreicht ihre erotische Ausstrahlung zusätzlich. Viele männliche Kollegen fühlen deshalb einen durchaus ehrenwerten Beschützerinstinkt in ihrer Nähe, aber Daniela kann sich zweifellos ihrer Haut selbst erwehren. Dennoch hat der noch unverheiratete Kriminaloberkommissar Bleibtreu mehr als nur einen liebevollen Blick der neuen Kollegin hinterher geworfen.
Volker freut sich heute Morgen ebenfalls, als sie zu ihm ins Auto steigt. Aber nicht in der Hoffnung auf einen kleinen Flirt, denn Volker ist ein treuer Ehemann, obwohl ihr jungendliches und attraktives Äußeres auch sein Gefallen findet. Er hat inzwischen den Fleiß und die rasche Auffassungsgabe der neuen Kollegin zu schätzen gelernt. Sie biegen, wie beschrieben, nach der Brücke auf den Feldweg ein und fahren die knapp 2 Kilometer durch Gärten, Wiesen und Felder bis zu seinem Ende. Jetzt im Frühling blühen unzählige Obstbäume im Maintal, da auf Grund des warmen Klimas viele Obstsorten hier besonders gut gedeihen. Das Leuchten des weißen bis rosaroten Blütenmeeres im Sonnenlicht wird durch das Summen der fleißigen Bienenvölker deutlich hörbar abgerundet. Am Wegesende wartet wirklich ein Kollege der Schutzpolizei auf sie. Auf der Wiese neben dem Feldweg parken bereits mehrere Fahrzeuge der Polizei, der Feuerwehr, dem Rettungsdienst und noch zwei Privatwagen. Der aufgemotzte Golf gehört seinem Kollegen Kilian und der Mercedes-Geländewagen wahrscheinlich dem Patholgen Dr. Martin Faust, dem sein Nachname in Verbindung mit seinem Beruf schon so manchen lustigen Spott einbrachte. Doch Volker fällt sofort die blasse Gesichtsfarbe des wartenden Beamten auf:
"Sieht es schlimm aus?"
"Guten Morgen, Herr Kommissar, kommen sie doch bitte mit und sehen sie sich den Tatort selbst an."
Die Kommissare folgen dem Schutzbeamten noch über einen Kilometer auf einem Wanderweg entlang des Mains bis zu dem Hangwald unterhalb der Vogelsburg. Die Umgebung erscheint unpassend friedlich. Auf dem Main tuckert langsam ein altes Kiestransportschiff vorbei und im Wald singen die Vögel unschuldig ihr Liebeslied. Menschliches Leid bedeutet ihnen wenig oder auch gar nichts. Der Polizist wendet sich nun hangaufwärts. Der Wald ist sich hier selbst überlassen und abgerissene Zweige, umgestürzte Bäume, niedrige Büsche und Farnkraut erschweren das Vorwärtskommen. Dennoch erkennt Volker schon bald die rotweißen Absperrbänder zwischen den Bäumen und weiß, dass sie sich endlich dem Tatort nähern.
"Seien sie mir bitte nicht böse, wenn ich nicht weiter mitkomme. Hinter der Absperrung finden sie die Leiche, ihren Kollegen, den Pathologen und andere Einsatzkräfte, aber ich habe für heute genug gesehen."
Der Schutzpolizist verabschiedet sich. Volker hebt, ganz Gentleman, das Absperrband hoch, damit seine Kollegin nicht auf allen Vieren über den Waldboden kriechen muss, und folgt ihr. Nachdem sie den Hang noch gut 50 Meter höher erklommen haben, erkennen sie bereits die ganz in Weiß gekleideten Mitarbeiter der Kriminaltechnik. Dort steht auch ein gut gekleideter, älterer Mann an einem Baum und scheint sich mit seinen Händen an diesem festzuhalten. Da sie die Gestalt nur von der Seite und durch den dichten Urwald sehen, bemerken sie erst aus der Nähe, dass er in dieser aufrechten Position an dem Baum festgebunden ist. Doch dann stoppt Volker abrupt seinen Aufwärtsdrang und unbewusst bremst er auch seine Kollegin mit dem ausgestreckten, rechten Arm. Durch die Stirn des Mannes wurde ein starker Nagel getrieben und sein Kopf so an den Baum geheftet. Ein breiter Streifen Blut ist über das Gesicht und anschließend über Hemd und Hose geflossen. Der Mund ist durch einen Knebel geschlossen, wie er in entsprechenden Erotikshops erworben werden kann, obwohl die Verkäufer sicher eine andere Verwendung erwartet haben. Die weit aufgerissenen, jetzt blinden, Augen zeugen von dem Entsetzen und der Qual, die das Opfer erlebt haben muss. Hautabschürfungen im Gesicht und die jetzt erkennbaren Schädigungen an der Kleidung lassen auf einen Kampf schließen. Daniela atmet hörbar aus und flüstert:
"Wer macht denn so etwas?"
"Ein Männlein steht im Walde ganz still und stumm, es hat von lauter Purpur ein Mäntlein um. Sagt, wer mag das Männlein sein, das da steht im Wald allein, mit dem purpurroten Mäntelein."
Daniela betrachtet erschrocken ihren Vorgesetzten:
"Chef, alles ok?"
"Tut mir leid, Daniela, aber jeder hat so sein Rezept, mit dem Grauen fertig zu werden. Es gehört nun einmal zu unserem Beruf, aus dem Anblick, der Haltung, den Verletzungen und der Umgebung den möglichen Tathergang zu eruieren. Wo andere weglaufen, müssen wir besonders gründlich nachsehen. Manchmal überfallen mich unvermittelt Fragen, was das Opfer vor dem fürchterlichen Ende erlebt, gespürt oder erlitten haben muss. Für mich ist es dann wichtig, dass ich den Toten nicht mehr als Person, sondern als Sache betrachte und dazu fiel mir eben diese Kinderlied ein."
"Verstehe - irgendwie passt es sogar gut zu diesem Szenario."
"Morgen, ihr beiden. Na, ist das ein Anblick?"
Der Kollege Kilian Bleibtreu tritt auf sie zu. Kilian, 34 Jahre, Kriminaloberkommissar, ist seit mehreren Jahren die rechte Hand von Volker Weidlich. Da er noch ungebunden ist, wird er oft von der Einsatzzentrale zuerst zu den gemeldeten Tatorten geschickt. Kilian stellt, im Vergleich zu dem kleinen, aber kräftigen Kriminalhauptkommissar, körperlich glatt das Gegenteil dar. Lang aufgeschossen, 2,02 Meter groß, wirkt er eher schlaksig und unbeholfen. In seiner Freizeit widmet er sich der kunstvollen Beherrschung eines Skateboards und vermittelt in der weit zu tragenden Skaterkleidung den Anschein einer Vogelscheuche. Aber sein jugendliches Aussehen, die oft lachenden, himmelblauen Augen und seine nie versagende Fröhlichkeit haben ihn zum Schwarm der weiblichen Mitarbeiter gemacht. Ungebunden heißt also nicht, dass Kilian allein lebt. Aber er genießt das freizügige Junggesellenleben und hat sich noch nicht für eine bestimmte Person entschieden. Beruflich ist auf ihn hundertprozentig Verlass und so sind Kilian und Volker ein hervorragendes und erfolgreiches Ermittlerteam. Nur manchmal redet er schneller, als er denkt und trifft dann doch hier und da das berühmte Fettnäpfchen. Volker schüttelt hinsichtlich der vorgetragenen Kaltschnäuzigkeit den Kopf und befragt ihn:
"Kilian, kennst du schon den Namen des Toten? Wer hat ihn gefunden? Seit wann ist er tot? Gibt es Spuren?"
"Klar, und wer ist der Mörder. Sonst noch was?"
"Du hast uns an diesem wunderschönen Feiertag aus den lieben Armen der Familie gerissen. Also, was hast du anzubieten?"
Die Kommissare haben im Laufe der Jahre gelernt, gerade bei besonders abstoßenden Mordfällen, durch eine gewisse Art von Zynismus ihre eigene Psyche zu schützen.
"Gefunden haben den Toten zwei ältere Einwohner von Astheim, die hier frischen Bärlauch suchen und schneiden wollten. Ihr habt sicher auf dem Weg hierhin die grünen Flächen dieses beliebten Gewürzes unten in der Nähe des Ufers gesehen. Sie haben zunächst gedacht, der Mann sein betrunken oder verwirrt und sind deshalb zu ihm hochgestiegen. Der Anblick hat sie mächtig geschockt und sie befinden sich jetzt in psychologischer Betreuung durch den Notarzt der Feuerwehr. Ein Raubmord liegt sicher nicht vor, denn das Opfer trägt noch Brieftasche, Portemonnaie, Ring und Goldkette bei sich. Daher kennen wir auch seinen Namen: Günter Semmerteich, wohnhaft in Würzburg am Maasweg."
"Während ihr beiden Totenwache haltet, werde ich mich mit meinem mitgebrachten Netbook ins Internet begeben und schauen, was ich in der Eile über ihn herausfinden kann."
Daniela versucht durch die vorgeschlagene Aktivität wieder in so etwas wie 'normale' Polizeitätigkeit zu gelangen, sucht sich einen passenden Baumstumpf, fügt einen Surfstick in den USB-Anschluss ihres Netbooks ein und startet das Internet mit einer weltweit bekannten Suchmaschine. Währenddessen umrunden Volker und Kilian den Tatort.
"Hände und Füße wurden mit einem handelsüblichen Kletterseil an den Baumstamm gefesselt. Diese Seile kannst du in jedem Baumarkt oder Sportgeschäft kaufen. Ich glaube nicht, dass es eine besondere Marke ist, die uns Rückschlüsse über den Kaufort gestatten. Den Knebel bekommst du in jedem Sexshop, sicher auch keine brauchbare Spur. Wahrscheinlich haben die Täter das Zeug ohnehin über das Internet bestellt. Der Nagel ist da schon interessanter. Um ihn durch den Kopf bis in den Baum zu treiben muss er schon mindestens 30 Zentimeter lang sein. So ein Monstrum wird man wohl nur in Spezialgeschäften erwerben können. Außerdem ist er verkupfert. Vielleicht hilft uns das weiter."
Volker unterbricht Kilians Redefluss kurz:
"Du glaubst, es handelt sich um mehr als einen Täter?"
"Ganz sicher, oder wir suchen einen Supermann. Wir haben bereits unten auf dem Wanderweg Schleifspuren gesichert. Wenn wir die mit seinen Schuhen vergleichen, werden wir sicher eine Übereinstimmung feststellen. Er wurde also wahrscheinlich nicht hier überwältigt. Die Täter haben ihn vermutlich bereits auf dem Feldweg oder früher getroffen, nieder geschlagen und mit Gewalt hierher geschliffen. An seiner Kleidung und den jetzt schon erkennbaren Spuren im Gesicht und am Hals kannst du feststellen, dass er sich sehr wohl heftig gewehrt hat und bereits vor dem endgültigen Mord schlimm misshandelt wurde. Um ihm dann den Nagel durch die Stirn bis in den Baum zu schlagen muss ihm eine zweite Person den Kopf fixiert haben. Schau ihn dir doch an! Er ist schätzungsweise 1,80 Meter groß, wiegt etwa 85 kg und ist recht sportlich. Den musst du erst einmal überwältigen und gegen seine Willen den Hügel hochschleifen. Das hat keiner allein getan."
"Klingt überzeugend. Hoffentlich hat er wirklich heftigen Widerstand geleistet. Vielleicht finden wir verwertbare Spuren der Täter an seiner Kleidung. Aber das ist doch kein normaler Mord. Bei einer Affekthandlung erschlägt, erschießt oder ersticht man das Opfer und versucht hinterher die Leiche irgendwo zu verstecken, meinetwegen mit einem Betonklotz im Main zu versenken. Aber hier wird der Tote praktisch der Öffentlichkeit präsentiert und eine Hinrichtung mittels Nagel durch das Gehirn durchgeführt. Das muss doch irgendeinen Grund haben."
"Ich glaube auch, dass es ein Ritualmord war."
Unbemerkt ist der Gerichtsmediziner Dr. Martin Faust zu den beiden Beamten getreten.
"Guten Morgen, Freund des Mephisto. Kannst du uns noch mehr verraten?", fragt Volker.
"Viel ist es zu diesem Zeitpunkt nicht. Er ist höchstwahrscheinlich im Laufe der Nacht gestorben."
"Wie bitte", unterbricht ihn Kilian, "er ist nicht sofort an dem Durchbohren seines Kopfes und Gehirns durch den Nagel verreckt?"
"Kilian, bitte!"
"Mensch, Volker, das arme Schwein wurde bestialisch hingerichtet. Das hat doch nichts mehr mit Sterben zu tun."
"Darf ich mich kurz einblenden, bevor der verständliche Zorn ihr gefragtes Urteilsvermögen völlig ausblendet, und ihre Frage beantworten. Es gibt den bemerkenswerten Fall des Bauarbeiters Isidro Mejia. Er stürzte am 19. April 2004 von einem Gerüst in Los Angeles, USA, und betätigte im Fallen unbeabsichtigt sein Bolzenschussgerät. 6 Nägel durchbohrten seinen Kopf, wovon drei ins Gehirn eindrangen. Der Mann wurde im Providence Holy Cross Medical Center operiert. Anfangs verspürte er noch leichte Gleichgewichtsstörungen und hatte Schwierigkeiten sich verständlich auszudrücken, gilt aber inzwischen als vollständig geheilt. Was will ich ihnen damit sagen? Dieses bedauernswerte Opfer kann noch längere Zeit, vielleicht Stunden, mit diesem Nagel im Gehirn gelebt haben. Ich kann nur hoffen, dass eine gnädige Ohnmacht ihn von den fürchterlichen Qualen erlöst hat. Er steht auch nur noch deshalb in dieser Position, da wir Spezialwerkzeug und einen Schreiner zum schonenden Herauslösen des Nagels aus dem Stamm angefordert haben. Und bevor sich der junge Kollege jetzt wieder über den makabren Gebrauch des Wortes 'schonend' in diesem Zusammenhang beschwert, ich möchte die Schäden am Kopf und im Gehirn analysieren und festhalten, die durch die Tat hervor gerufen wurden. Eine unsachgemäße Bergung könnte weitere Verstümmelungen hervorrufen und eine exakte Bestimmung der Todesursache und -zeit unmöglich machen. Übrigens, der hier verstreute Mageninhalt stammt weder von der Leiche, noch von den Tätern. Diese Schweinerei hat ein Kollege der Schutzpolizei verursacht."
Kriminalhauptkommissar Weidlich nutzt die kurze Pause im Vortrag des Gerichtsmediziners für eine weitere Frage:
"Martin, wie einfach oder schwer ist es, einem Menschen so einen großen Nagel durch den Kopf zu treiben?"
"Die Dicke des Schädelknochens beträgt nur 3 bis 5 Millimeter, aber durch die eiförmige Gestalt werden viele Stöße abgeleitet und glücklicherweise aufgefangen. Doch so ein spitzer Nagel sabotiert natürlich diesen, von der Natur vorgesehenen, Schutzmechanismus. Ich vermute, aber Volker bedenke, so ein Mord ist auch für mich Neuland, dass wenige, kräftige Schläge mit einem handelsüblichen Hammer mit einem bis zwei Kilogramm Gewicht ausreichen würden. Aber, was mich hier verwirrt, ist die unglaubliche Brutalität des Tötungsvorganges. Da muss unvorstellbarer Hass oder krankhafte Perversität im Spiel sein. Einen Menschen aus der räumlichen oder zeitlichen Distanz zu töten, ist manchmal verständlich, oder zu mindestens nachvollziehbar, aber dem Opfer ins Gesicht zu sehen und dann immer wieder mit dem Hammer den Nagel tiefer in den Kopf zu treiben, vielleicht noch dem qualvollen Sterben zuzusehen, dass übersteigt auch meine Vorstellungen."
"Danke Martin, wenn du die Verletzungen genau analysiert hast, schickst du uns den Bericht. Über die Tatzeit kannst du also noch keine eindeutigen Angaben machen?"
"Tut mir leid, Volker, dass ich zu diesem Zeitpunkt nicht konkreter sein kann. Aber wir können schon jetzt den Zeitpunkt des Todes ein wenig eingrenzen. Wenn er gestern schon hier gestanden hätte, wäre er auch früher entdeckt worden. Verschiedene Wanderwege führen unter- und oberhalb des Tatortes vorbei und wenn kein Mensch aufmerksam geworden wäre, die vielen Hunde unserer promenierenden Mitbürger hätten sicher angeschlagen. Weiterhin hört ein Herz nach dem Tod natürlich auf zu schlagen und der Druck auf den Blutfluss lässt nach. Der immense Blutverlust des Opfers deutet aber daraufhin, dass er nach der Tat noch eine Zeit lang gelebt hat. Die Blutung ist im Laufe der Nacht zum Stillstand gekommen und das Blut ist bereits verkrustet. Wundflüssigkeit tritt auch nicht mehr aus und die Geschichte mit den Fliegeneiern will ich jetzt nicht erläutern. Maden können sich in der kurzen Zeit nicht bilden. Die Leichenstarre setzt bereits ein, nur die Körpertemperatur kann ich in dieser Position nicht messen. Ohne mich jetzt genau festlegen zu wollen, vermute ich, die Tat geschah gestern Abend zwischen 22 und 24 Uhr und der Tod trat etwa gegen 4 Uhr ein. Mehr geht nun wirklich nicht. Schönen Tag noch."
Volker nickt dem Gerichtsmediziner dankend zu und betrachtet noch einmal den Tatort und die Umgebung.
"Kilian, sprich bitte mit der Schutzpolizei. Ich will, dass kein Wort über den Tathergang an die Öffentlichkeit gelangt. Es werden lediglich der Name und der Tod bekannt gegeben. Sonst können wir morgen die unglaublichsten Horrorgeschichten lesen und tausend Spinner melden sich, um eine Aussage vorzutragen. Auch das Zeugenpaar wird um Stillschweigen gebeten."
Daniela ist inzwischen wieder zurück gekommen, räuspert sich, um die Aufmerksamkeit der Kollegen zu wecken und berichtet:
"Also, mit dem Namen und der Adresse war viel über diese Person im Internet zu finden. In Kürze: Es handelt sich um einen durchaus prominenten Politiker, denn er ist seit 2009 Abgeordneter im bayerischen Landtag und erst 2013 mit über 55% hier in Unterfranken für die CSU wiedergewählt worden. Weiterhin ist er dort Vorsitzender des Wirtschaftsausschusses. Er hat an der Universität Bayreuth Wirtschaftsrecht studiert und dort mit dem Titel 'Europäisches Umweltzeichen und Welthandel' erfolgreich promoviert."
"Entschuldige den Einwurf, aber ist das nicht dieselbe Universität, an der unser ehemaliger Verteidigungsminister Karl-Theodor von Guttenberg seinen Doktortitel unter fragwürdigen Umständen erhalten hat?"
Kilian grinst spitzbübisch, da er wieder einmal sein glänzendes Allgemeinwissen demonstriert hat. Daniela sieht ihn nachdenklich an und fährt fort:
"Eine Bewertung oder Kritik an seiner Dissertation wird nirgendwo erwähnt. Er ist 52 Jahre alt"
"War"
"Sag mal, du Komiker, darf ich vielleicht auch ausreden?"
"Tut mir Leid, ist nur so rausgerutscht."
Kilians Gesicht bekommt eine leicht rötliche Färbung und Volker registriert mit Schmunzeln, dass dessen Besserwisserei diesmal nicht positiv rübergekommen ist.
"Okay, er ist, oder war, seit 27 Jahren verheiratet. Allerdings leben die beiden Ehepartner inzwischen getrennt. Die Frau heißt Gabriele Semmerteich und wohnt jetzt in Karlstadt, Untere Viehmarktstraße. Er hat zwei Kinder - eine Tochter, Maria, 25 Jahre alt, und einen Sohn, Maximilian, 23 Jahre alt. Die Tochter hat in Münster, Westfalen, Publizistik und Kommunikationswissenschaft studiert. Jetzt arbeitet sie für den Bayerischen Rundfunk, Region Oberbayern. Sie wohnt in München-Unterföhring in der Lindenstraße."
"Wie", platzt es doch wieder aus Kilian heraus, "die Lindenstraße aus der Fernsehserie?"
"Genau, manche Leute haben eben Glück bei der Wohnungssuche."
"Chef", Volker ahnt angesichts dieser hierarchisch formulierten Anrede, dass Kilian gleich einen Herzenswunsch vortragen wird, "darf ich die Tochter befragen?"
"Reicht es nicht, wenn die Kollegen aus München diesen Part übernehmen?", fragt Daniela.
"Dieses Mal stimme ich Kilian zu", erwidert Volker, "denn Kilian kann die emotionale Reaktion der Tochter hinsichtlich des Mordes und seiner möglichen Motive besser beurteilen, wenn er ihr persönlich gegenüber steht. Also gut, wir beiden", und er zeigt auf Daniela und sich, "übernehmen die Ehefrau und den Sohn, und Kilian startet nach München. Betrachte dies aber als Arbeitsauftrag und nicht als Sightseeing-Tour."
"Darf ich dennoch, der Vollständigkeit halber, noch kurz auf den Sohn eingehen?", fragt Daniela. "Maximilian studiert an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg Medizin. Einen entsprechenden Abschluss kann ich nicht finden. Er wohnt weiterhin bei seinem Vater und ist wegen Drogenbesitz und Körperverletzung vorbestraft."
"Scheint mit ja ein wildes Früchtchen zu sein", denkt Volker laut. "Andererseits haben wir alle unsere Jugendsünden begangen und nicht jeder ist deshalb ein abartiger Mörder geworden. Daher möchte ich diese Vorstrafen nicht überbewerten."
Während des Gespräches sind die drei Kommissare langsam wieder den Hang herunter zum Mainufer gegangen und sie treffen einen Mitarbeiter des Kriminaltechnischen Instituts des Bayerischen Landeskriminalamtes:
"Schön, dass ihr uns hier helft. Habt ihr schon irgendetwas Interessantes oder Belastendes für uns gefunden?"
Der Angesprochene, in eine weiße, leicht durchsichtige Ganzkörperhaut gekleidet, schüttelt bedauernd den Kopf:
"Wir sammeln alles, was vielleicht etwas zur Klärung des Tatherganges beitragen kann. Aber bis jetzt haben wir noch nichts wirklich Bedeutsames gefunden, und wenn du mich fragst, die waren so abgebrüht, dass sie mit Absicht unzählige, deutlich sichtbare Spuren hinterlassen haben. Anschließend werden sie Schuhe und Kleidung in irgendeinem Loch vergraben haben und wir müssen uns auf unser Glück oder den berühmten Zufall verlassen."
Volker nickt ihm dankbar zu und wendet sich an den Einsatzleiter der Schutzpolizei:
"Gabriel", die beiden kennen sich seit Jahren und haben viele Einsätze gemeinsam bestritten, "bitte verhindere jegliches Vordringen der Presse. Von diesem Tathergang soll noch nichts in die Öffentlichkeit dringen."
"Alles klar, Volker, wir tun unser Bestes."
Sie gehen den Fußweg zurück zu den Wagen, erkennen die Probleme der Schutzpolizei, die Reporter vom Tatgebiet fernzuhalten und besteigen ihre Fahrzeuge. Kilian fährt voraus und wählt den Weg über Münsterschwarzach zur A3 mit Richtung Nürnberg-München. Daniela übernimmt Volkers Fahrzeug und steuert die Landstraße über Prosselsheim zur B19 und auf dieser weiter nach Würzburg.
"Sollen wir uns telefonisch bei dem Sohn anmelden?", fragt sie.
"Nein, ich möchte ihm in die Augen sehen, wenn wir ihm die traurige Nachricht überbringen. Noch wissen wir nicht, in welchem Verhältnis er in letzter Zeit zu seinem Vater stand."