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3. Zorn in Obereisenheim

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Sonntag, 27. April 2014, 20:00 Uhr


Der alte Ortskern von Obereisenheim ist auf einem Hang oberhalb des Mains errichtet. Dies hat folgende Vorteile. Erstens sind diese Häuser sehr gut gegen das jährlich wiederkehrende Hochwasser des Flusses geschützt und zweitens haben die Anwohner einen herrlichen Blick auf den Fluss und die gegenüber liegenden Weinberge. Nur neuere Bauten, den Wünschen der Touristen folgend, wurden direkt an das Ufer gestellt. Hoffentlich besitzen die Eigentümer eine wasserdichte Haustür und genügend Eimer zum Schöpfen. Eine Fähre verbindet den Ort mit der Landstraße auf der anderen Mainseite. Dort sieht man leider eine noch in Betrieb befindliche Sand- und Kiesgrube, wodurch die Romantik doch ein wenig getrübt wird. In einem der Häuser in der Zehntgasse, unweit der katholischen Kirche, treffen sich heute Abend mehrere Männer und Frauen. Wenn der Pfarrer nur eine ungefähre Vorstellung hätte, was sich dort abspielt, würde er sofort alle Exorzisten des Vatikans anfordern und die Inquisition wieder einführen.

Im Kellerbereich, wegen der Hanglage besser als Souterrain bezeichnet, gibt es ein großes Zimmer, bei dem die Fenster zur Straße mit schweren Vorhängen abgedunkelt sind. Die Besitzer und Gäste wollen sichtlich bei ihrem Treiben nicht gestört oder beobachtet werden. Sie legen viel Wert auf Anonymität und sie soll ihnen auch gewährt werden, solange sie nicht die Rechte ihrer Mitbürger verletzen. In der Mitte steht ein runder Holztisch, der aber eindeutig die Funktion eines Altars erfüllt. In die Tischplatte ist ein großes Pentagramm geschnitzt und an den fünf Spitzen brennen Bienenwachskerzen. Dies sind auch die einzigen Lichtquellen und das Treffen findet somit in einer geheimnisvollen, düsteren Atmosphäre statt. Auf dem Tisch sieht der Betrachter einen Apfel, einen frischen Eichenzweig, einen silbernen Kelch, einen Dolch aus Kupfer, eine Feuerschale und einen großen Holzhammer, der mit aufgemalten Runen bedeckt ist. In der Feuerschale brennen trockene Holzspäne und dazu gelegte Harzklumpen sorgen für einen weißen Rauch, der nach frisch geschlagenem Holz riecht. Im Raum befinden sich heute vier Männer und zwei Frauen. Die Männer tragen knielange, weiße Tuniken mit einem grünen Brustteil und gleichfarbigen Bündchen an den Ärmeln. Die Tunika wird in der Leibesmitte von einem einfachen grünen Gürtel zusammengehalten, auf dem ein Kettenmuster eingestickt ist. Auf dem grünen Brustteil befinden sich gestickte Tiermotive, Hirsch, Schlange, Wolf und Bär. Auf der Rückseite ist ein Drachenmotiv eingearbeitet. Die beiden Frauen tragen knöchellange, ebenfalls weiße Tuniken mit langen, weiten Ärmeln, die über die Hände hinaus reichen. Nur am Ausschnitt ist ein schmaler Streifen mit einem verschlungenen Muster zu sehen. Dazu tragen sie einen reichverzierten, pfeilförmigen Gürtel auf dem in der Mitte eine prächtige Rune aufgestickt ist, die Thors Hammer Mjöllnir darstellen soll. Alle Personen sind barfuß und stehen im Kreis um den Tisch herum.

Ein älterer Mann, vermutlich der Anführer der Gruppe, hebt den Becher hoch. Jetzt ist deutlich zu erkennen, dass er mit rotem Wein gefüllt ist:

"Brüder und Schwester, wir haben uns zu Ehren unseres Gottes Donar hier versammelt. Der Ostaramond (April) nähert sich dem Ende und in drei Tagen beginnt der Wonnemond (Mai). Dann feiern wir unser Fest 'Hohe Maien', welches die Vereinigung des Gottes Odin mit der Göttin Frigg huldigt. Möge die daraus erwachsende Fruchtbarkeit uns auch dieses Jahr eine reichhaltige Ernte bescheren."

Er reicht den Becher weiter. Jeder hebt ihn kurz zum Gruße hoch, trinkt einen Schluck und übergibt ihn an den Nächsten.

"Einst werden die Walküren den im Kampf gefallenen Helden beim Betreten der Walhall Wein kredenzen. Deshalb trinken wir den Wein zum ewigen Gedenken unserer furchtlosen Vorfahren."

Dann nimmt der Anführer den Apfel in die linke und das Kupfermesser in die rechte Hand, teilt ihn in sechs annähernd gleich große Stücke und überreicht sie den Glaubensbrüdern und -schwestern.

"Heute ist der Tag des Gottes Tyr, der Gott des Kampfes und Sieges. So wollen wir uns stärken mit der Frucht unseres Heimatlandes, damit wir im Kampf bestehen können. Denken wir dabei auch an Idun, die Göttin der ewigen Jugend, welche die goldenen Äpfel hütet, die unseren Göttern die Unsterblichkeit verleihen."

Nachdem alle ihr Apfelstück gegessen haben, setzen sie sich auf Holzschemel und schauen den Anführer fragend an. Der schüttelt bedauernd den Kopf:

"Die Verhandlung ist für uns nicht günstig verlaufen. Die Marina darf in der vorgesehenen Weise gebaut werden."

Eine der Frauen fragt erregt:

"Konntest du ihnen denn nicht verdeutlichen, welche außerordentliche Bedeutung dieses Gebiet für uns hat?"

"Glaube mir, ich verstehe deinen Zorn, nein deine Angst, sehr gut. Aber wir waren uns alle einig, unser größtes Geheimnis nie Unwissenden zu offenbaren. Die möglichen Folgen durch das Unverständnis und die Willkür der Andersdenkenden könnten erneut vernichtend ausfallen. Ob wir unser Heiligtum dann noch einmal retten können, bezweifle ich stark. Daher waren mir in dieser Beziehung die Hände gebunden. Aber vielleicht tröstet es euch, dass die tausendjährige Eiche nicht gefällt werden darf. Sie muss auf richterliche Anordnung erhalten und geschützt werden. Der Bebauungsplan muss dahingehend geändert werden."

"Das verstehe ich nicht", rätselt ein junger Mann. "Der Baum steht auf einer Landzunge zwischen den beiden Wasserbecken, aus denen die Marina entstehen soll. Die dürfen also die Landzunge wegreißen, um eine einheitliche Wasserfläche zu erhalten, und mittendrin thront der Baum auf einer kleinen Insel?"

Der Gastgeber trinkt einen kleinen Schluck Mineralwasser. Diese kurze Pause hilft ihm, seine Erinnerungen an die Verhandlung aufzufrischen und die geeigneten Worte zu finden:

"Nein, die Landzunge muss zu einem gewissen Teil erhalten bleiben. Das Gericht hat festgelegt, dass durch die Baumaßnahmen der Wurzelbereich nicht beschädigt werden darf und der historisch wertvolle Baum jederzeit von Interessierten aufgesucht werden kann. Wie bereits erwähnt, muss ein diesbezüglich geänderter Bebauungsplan dem Gericht vor Beginn der Bauarbeiten vorgelegt werden."

"Dann ist doch noch nicht alles verloren", murmelt ein anderer Teilnehmer. Er stutzt aber, als er das nachdenkliche Gesicht des Hausherrn betrachtet:

"Du siehst aber auch nicht ein bisschen zufrieden aus. Welche Kröte müssen wir denn noch schlucken?"

"Es gibt einen sehr bedenklichen Satz in der Urteilsbegründung, der besagt, dass der Schutz des Baumes nur solange gilt, als er keine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt."

"Himmelherrgott nochmal, was bedeutet das nun schon wieder?"

Der Hausherr beobachtet nachdenklich die Gasperlen in seinem Wasserglas. Dann schaut er die Anwesenden ernst an:

"Du fluchst im Namen des falschen Gottes. Sollte der Baum erkranken oder seine Standfestigkeit verlieren, also morsch wird, darf er gefällt werden."

Ein kräftiger Obstbauer mit rot-brauner Gesichtsfarbe, welche seinen überwiegenden Aufenthalt an der frischen Luft beweist, knurrt leise:

"Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, sprühte er förmlich vor Kraft und Gesundheit. Warum soll der plötzlich krank werden?"

Viele stimmen der Bemerkung mit deutlichem Kopfnicken zu, als ein junger Mann aufspringt und entsetzt ausruft:

"Jetzt begreife ich deine Sorgen. Du befürchtest, dass die heimlich den Baum vergiften wollen? Die müssen doch nur nachts hinschleichen und Gift an die Wurzeln gießen."

"Ja, das ist eine nicht zu verharmlosende Gefahr. Glücklicherweise hat das Gericht diese Gefahr erkannt. Vermutlich hat es den Marinaplanern diese schmutzigen Gedanken angesehen. Die haben doch während der gesamten Verhandlung permanent siegessicher gegrinst. Sollte also der Baum plötzlich absterben, ruht der Ausbau, bis die Baumkrankheit hinreichend geklärt ist. Wenn ihnen nur die geringste Beteiligung an einer gravierenden Beschädigung des Baumes nachgewiesen werden kann, drohen den Betreibern empfindliche Geldstrafen."

Eine äußerst attraktive Frau, deren wohlgeformte und sportliche Figur auch unter der weiten Tunika erahnt werden kann, atmet erleichtert auf:

"Dann müssen wir uns darüber also keine Sorgen mehr machen."

"Falsch", wendet der Hausherr ein, "die werden natürlich alles versuchen, den Baum zu schädigen. Du kennst den Vorsitzenden, unseren allseits geliebten Landtagsabgeordneten, besser, als jeder von uns. Er ist der cleverste Schurke des Landkreises und plant sicher bereits in diesem Augenblick ein hinterhältiges Attentat auf die Eiche. Er muss es nur so geschickt anstellen, dass niemand ihm etwas nachweisen kann."

Die angesprochene Frau nickt bestätigend, wobei ein Teil ihrer blonden Locken vor ihr geschickt und gekonnt geschminktes Gesicht fällt:

"Ja, du hast Recht. Er ist mit allen Wassern gewaschen und stets einfallsreich, wenn es darum geht, seinen Willen durchzusetzen. Aber du bist doch Staatsanwalt. Ist dir denn kein Fehler beim Planfeststellungsverfahren aufgefallen?"

"Ich wiederhole mich nur ungern", antwortet der Hausherr gereizt, "aber die Gegenseite hat alle Vorschriften peinlich genau beachtet. An dem Bau der Marina können wir nichts mehr ändern. Selbst wenn ihr heute auf dem Gelände eine völlig unbekannte und somit weltweit einzigartige Tierart entdecken würdet, nach Inkrafttreten des Bebauungsplans gibt es keine Einspruchsmöglichkeit mehr, es sei denn, die Betreiber weichen deutlich vom genehmigten Plan ab."

"Willst du damit sagen, dass wir endgültig verloren haben und der weiteren Entwicklung tatenlos zusehen müssen?"

"Oh nein, wir werden ab heute besonders aufmerksam die Bautätigkeit kontrollieren und ihnen keine Möglichkeit zur unauffälligen Beschädigung der Eiche gewähren. Mit anderen Worten: Der Baum wird regelmäßig inspiziert und überwacht. Ich hoffe auf eure tatkräftige Unterstützung."

Alle trommeln zustimmend auf Tisch und Stühle und der junge Mann brüllt zornig:

"Jeden Ritzer in der Borke werden sie am eigenen Leib zu spüren bekommen."

"Zügle deine Wut. Erläutere unseren jungen Brüdern, die heute nicht anwesend sind, diese aktuelle Gefahr und bewacht unser Heiligtum gut. Gerade auf eure Tapferkeit und Ausdauer gründet sich unsere Hoffnung."


Baummörder - Mörderbaum

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