Читать книгу Mittwochs am Meer - Alexander Oetker - Страница 4
I
ОглавлениеEr legte den Kopf gegen das Fenster und versuchte zu schlafen. Wenn Maurice das tat, wenn er den Kopf so nah an die kalte Scheibe schmiegte, dann war es ihm, als flöge die Landschaft nicht vorbei, sondern als sei er selbst dort draußen. In diesem gelben Rapsfeld. Die Pflanzen wogten im Wind, als führten sie einen rhythmischen Tanz auf.
In der Spiegelung sah er sich selbst. Er konnte sein Gesicht in Graustufen erkennen, weil die Sonne die Farben stahl. Maurice berührte wie automatisch seine Wange, er hatte sich am Morgen ganz glatt rasiert. Der einzige Schimmer auf seinem Spiegelbild stammte von der alten Lampe mit dem roten Schirm aus Plastik, die auf dem Tischchen angebracht war. Er mochte dieses Überbleibsel aus den Achtzigern, das die alten TGVs noch besaßen. In Paris hatten irgendwelche Retrocafés sicherlich damit schon ihre Einrichtung bestückt.
Auf dem Gare Montparnasse hatte er sich an diesem Morgen eingebildet, dass er gleich im Zug gut würde arbeiten können. Endlich Ruhe, kein Handynetz, keine Erreichbarkeit.
Es würde Zeit sein für die E-Mails, die Bilanz des zweiten Quartals, das wichtige Schreiben ans Insolvenzgericht.
Doch kaum saß er und hatte seinen Laptop aufgeklappt, verschwammen schon die Zahlen vor seinen Augen. Die schwarzen Umrisse der Tabellen, die Cynthia am Vorabend geschickt hatte, sahen aus, als seien sie verrutscht, als hätte Excel einen über den Durst getrunken.
Dieser Zug machte ihn immer so müde. Jeden Mittwoch um acht Uhr bildete er sich ein, dass es diesmal anders sein würde. Jeden Mittwoch um halb neun wusste er, dass es keinen Sinn hatte, auch nur zu versuchen, sich zu überwinden. Die rasante Fahrt, das Rattern, die Gleichförmigkeit der Bewegung, all das machte ihn so müde.
Das Licht schien fahler zu werden, je tiefer sich der Zug seine Schneise gen Westen grub. Die Bauernhäuser draußen wurden vereinzelter, die Felder breiter, länger, so säuberlich angeordnet, als hätten die Traktoren ihren eigenen Sinn für Ästhetik.
Der Bahnhof von Rennes war für schnelles Umsteigen wie geschaffen, niemand wollte hier ausharren. Kaum saß er im Vorortzug nach Saint-Malo, fuhr der mit diesem elektrischen Surren an, sie glitten beinahe lautlos in die Ebene.
Ihm war dieses fruchtbare Land hier oben fremd. Es machte ihm ein schlechtes Gewissen, weil es so sehr nach Arbeit aussah. Die Menschen füllten die Speisekammern der Nation. Dort, wo er herkam, gab es nur karge rote Strände und reichlich Wind, nichts, was man auf einem Wochenmarkt kaufen konnte.
Maurice konnte die Abfolge langsam auswendig: Zuerst, kurz nach den Gewerbegebieten der Stadt, kamen die Gewächshäuser für die Tomaten. Später der Blumenkohl. Und dann natürlich die Artischocken, für die ganz Frankreich die Bretagne pries. Er hatte das nie verstanden, diese umständliche Pulerei, dieses Rumgebeiße auf den Blättern.
Nach den Feldern kamen die Wälder; dunkel, Steine, überall Steine. Ab und zu wand sich ein Flüsschen unter dem Zug durch. Pontchaillou, Combourg, Dol de Bretagne – ab dem Moment, in dem er den Fahrplan der Haltestellen auswendig konnte, wusste er, dass eine Liquidation mal wieder zu lange dauerte.
In La Gouesnière stieg er aus. In Cancale, dem Ort, in den er eigentlich musste, gab es nur einen Busbahnhof, er lag zu weit von der Bahnstrecke entfernt. In La Gouesnière lag der nächste Bahnhof. Ein schmaler Betonstreifen mit einem blauen Ortsschild. Fast zu übersehen.
Er zog seinen Koffer hinter sich her, einmal über die Gleise, eine Treppe gab es hier nicht. Der Pick-up des Alten stand mit laufendem Motor drüben an der Bushaltestelle. Als Maurice näher trat, sah er, wie eine Kippe aus dem Fenster geworfen wurde.
Als er die Tür öffnete, blickte der Alte ihn an wie jedes Mal, als sei er verwundert über sein plötzliches Auftauchen. Vielleicht war es aber auch nur sein normaler Blick.
»Bonjour, Monsieur. Gute Fahrt gehabt?«
Die Frage war nur ein Ritual.
»Danke.«
Der Wagen, ein alter grauer Toyota, fuhr an, obwohl Maurice nicht angeschnallt war. Im Radio lief France Info, doch der Diesel übertönte die Stimme des Ansagers. Maurice wusste mittlerweile genau, wie die nächsten zwölf Minuten ablaufen würden: hinein nach Saint-Méloir-des-Ondes, rechts ab nach Saint-Benoît, die Départementale hoch bis Les Portes, scharf rechts auf die neue Landstraße, die erst in die Oberstadt führte und dann hinunter zum Hafen.
Der Alte redete nicht, seine Hände umklammerten fest das Lenkrad, aber es wirkte so ungelenk – Maurice war sich sicher, dass sein Chauffeur es nur für ihn tat und sonst wohl mit dem Knie lenkte. Eine Hand hatte er sicher stets am Handy – mit wem sprach dieser Mann eigentlich? Mit der anderen hielt er die Zigarette. Seinem Fahrgast aber wollte er beweisen, was für ein vertrauenswürdiger Angestellter er war.
Maurice hatte vergessen, wie der Alte hieß. Es ärgerte ihn. Er war darauf geschult, sich derlei zu merken. Der Mann holte ihn jede Woche ab, 10.41 Uhr in La Gouesnière. Im Pick-up der Firma, einem von vier Dienstwagen.
Er war kein Chauffeur, er war der Hausmeister der Halle, putzte die wenigen Fenster, die es gab, und war Mädchen für alles. Maurice dachte in diesem Moment, dass der Mann vermutlich der letzte Angestellte sein würde. Derjenige, der die Rollläden herunterlassen, mit dem Schlüssel die Tür der Fabrikhalle abschließen, das Firmenschild über dem Portal abschrauben würde.
Hinter Les Portes wurde die Straße schmaler. Die Steinhäuser auf der Rechten, deren Dächer keck über die dauergrüne Hecke hervorlugten. Rechts die sonnenbeschienene Sichelbucht, spiegelglatt bis zum Horizont, weil das fahle Licht alles in ein grelles Weiß tauchte, sodass er die Augen zukneifen musste, damit sie nicht tränten.
Ebbe. Der Alte hatte das Fenster offen gelassen, sein dunkelbrauner muskulöser Arm hing heraus. Der Geruch, der hereindrang, war zum Begleiter dieser Tage geworden: eine Mischung aus Algen und Tang und Salz, auch Fisch, es roch nicht nur hier so, auf dieser gewundenen Straße, sondern auch unten im Ort und in der Fabrik.
Kurz wagte Maurice einen Seitenblick zum Fahrer, der stumm den Hügel hinabfuhr. Er sprach nie in diesen zwölf Minuten. Bis auf die Eingangsfrage kein Wort. Die Szenerie wechselte: nun die bretonischen Häuser aus Feldsteinen. Es sah aus wie in Cornwall, nur mit Sonne. Die Bebauung wurde dichter, und hinten rechts tauchte schon der Quai auf, für den der Ort berühmt war. Der Alte grummelte, weil vor ihm zwei Kleinwagen bremsten. Davor stand ein Wohnmobil quer, gelbes Kennzeichen, Holland. Er drückte fest auf die Hupe, lange und ausdauernd, sodass die Passanten zu ihnen hineinsahen, Maurice machte sich auf seinem Sitz kleiner. Nach Minuten hatte das Wohnmobil gewendet, sie konnten weiter, vorbei an den Restaurants, der Crêperie, die er immer mied, den Souvenirgeschäften. Auf dem Quai Gambetta drängelten sich die Menschen, dabei hatte die Saison noch gar nicht recht angefangen. Bis August musste er diesen Auftrag wirklich abgewickelt haben, dann würde es hier unerträglich.
Hinter dem großen Parkplatz bremste der Alte abrupt und hielt vor der Halle. Schwarzes Holz war gestapelt, Bohle an Bohle, einige Netze hingen davor, Ausstellungsstücke, als würden Touristen schnell ein paar Fischernetze mit nach Hause nehmen wollen.
Er bedankte sich und stieg aus. Er hatte gerade eben beide Füße auf den Gehsteig gesetzt, da fuhr der Pick-up wieder an. Wohin der Alte jetzt fuhr, konnte Maurice nicht sagen. Auch nicht, was er genau tat, an jedem Mittwochvormittag. Manchmal tauchte er den ganzen Tag nicht wieder in der Fabrik auf. Die ehemaligen Bosse hatten die Dinge wohl allzu lange schleifen lassen. Deshalb war Maurice nun hier.
Er stand vor der Fabrik und klopfte sich erst einmal den Staub vom Sakko, da waren auch Hundehaare dabei.
Die Luft lag voller Gerüche, die von den Austernbänken, welche keine zweihundert Meter von hier im Hafenbecken lagen, herüberwehten. Er verspürte auf einmal Lust, dort entlangzuspazieren, doch der Blick auf die Uhr bremste ihn. Er zog den kleinen Reisekoffer zur Tür und öffnete sie. Beim ersten Mal hatte er Lärm erwartet, die Geräusche von Maschinen. Er war erstaunt gewesen, wie ruhig es hier war. Die Stille war der Beleg für die Zahlen, die er in den Bilanzen gefunden hatte. Ein Rückgang der Nachfrage, ein Rückgang des Umsatzes, die Freistellung von Saisonkräften. Zwei Dutzend Angestellte waren übrig. Sie webten an den Netzen oder klebten die Austernsäcke zusammen, die ihre Kollegen in der Nachtschicht mit Draht gebunden hatten. Weiter hinten standen die Männer zusammen und tranken Kaffee, den sie auf der kleinen Kochplatte gemacht hatten. Maurice sah schnell weg. Wenn die Arbeitsaufsicht hier wäre und die Kochstelle mit offener Flamme über einer Gasflasche sehen würde, wäre die Halle sofort zu.
Die Frauen an den Werktischen weiter vorn sprachen leise miteinander. Eine von ihnen blickte auf und nickte Maurice zu. Sie war jünger als die anderen. Sofort ebbten die Gespräche ab. Er wusste, dass sie ihm misstrauten. Paris. Ihr Urteil manifestierte sich in seiner Herkunft. Vielleicht mochten sie ihn auch wirklich nicht, dachte er, aber wahrscheinlich lag es daran, dass er über sie heraufgezogen war wie ein Herbststurm. Eine letzte Zumutung, bevor das Unvermeidliche geschehen würde. Sie kannten ihn nicht, er kam von außen, um sie zu retten, ein Außerirdischer, mit seinem Rollkoffer und dem Sakko aus Tweed.
Er ging die Stiege hinauf, die unter ihm knarzte, oben lagen nur zwei Büros. Ein kleines Dachfenster ließ ein wenig streifiges Sonnenlicht durch. Er öffnete die Tür zu seinem Verschlag, sofort begannen die Staubkörner zu tanzen. Er stellte den Koffer hinein und ließ die Tür offen, damit der Raum durchlüften konnte. Dann ging er nach rechts und klopfte an die Tür, bevor er öffnete. Madame Le Goff war die Einzige, die ihn hier anlächelte und die in den letzten Wochen mehr als drei Worte mit ihm gewechselt hatte. Sie warf einen Blick auf die Uhr.
»Monsieur, Sie sind früh dran.«
»Bonjour, Madame Le Goff.«
Sie war beim Friseur gewesen, die grauen Haare waren erst vor wenigen Stunden gelegt worden, im Raum roch es nach Haarspray. Sie wusste nicht, was sie mit ihrer vielen freien Zeit machen sollte. Der Chef war ihr abhandengekommen, er saß in irgendeinem Haus an der Küste und wartete auf seinen Prozess. Ihr neuer Ansprechpartner kam nur einmal in der Woche.
»Wie war Ihre Anreise?«
»Wie immer sehr komfortabel. Wie war die Woche bisher?«
»Eine Kündigung, Madame Lefoyer, sie arbeitet jetzt im Carrefour in Saint-Malo, war näher an ihrem Wohnort.«
»Gab es neue Aufträge?«
Sie sah auf ihren Bildschirm, als könne sie sich nicht erinnern und müsse nachsehen. Dann schüttelte sie den Kopf.
»Eine Stornierung aus Arcachon. Einhundert Austernsäcke.«
Er verzog das Gesicht.
»Die Fischer sind unsicher, ob wir noch liefern können.«
»Es ist gar nichts hinzugekommen?«
Sie legte den Kopf schief, als würde sie schwer hören, vielleicht war es auch nur eine Übersprungshandlung, als wage sie es nicht zu verneinen. Er stützte sich auf ihrem Schreibtisch auf. Es war nicht seine Art, Nähe zu seinen Untergebenen auf Zeit herzustellen, aber er konnte mit der Stärke dieser Frau nicht umgehen und wollte ihr zeigen, wie wichtig es ihm war.
»Rufen Sie den Chef des Austernsyndikats von Cancale an. Ich möchte mit ihm sprechen. Morgen Vormittag. Wir brauchen einen großen Auftrag, sonst wird das ganz schwer. Ich bin Insolvenzverwalter – und kein Zauberer.«
Er hatte diese Floskel bei einem mehrtägigen Managerseminar aufgeschnappt. Damals fand er sie gut und richtig. Doch obwohl er sie mittlerweile unbändig hasste, wurde er sie nicht mehr los. Er räusperte sich verlegen.
»Gut, ich rufe Serge an und bitte ihn herzukommen.«
»Ich danke Ihnen. Ich bin in meinem Büro. Bitte keine Anrufe bis zum Mittag, ich sitze über den Büchern.«