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IV

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Die Brandung schlug gegen die Felsen. Maurice hörte sie durch die geschlossenen Fenster des Zimmers. Er öffnete die Augen, reckte sich und streckte sich und stand auf. Er trug den Schlafanzug aus Leinen, den er immer trug, wenn er auf Reisen war. Er setzte sich auf den Stuhl, der vor dem hölzernen Sekretär stand, und zwar so, dass er von dort aus dem Fenster sehen konnte. Die Wolkendecke des Morgens war noch nicht aufgerissen, bis Cancale konnte er nicht sehen.

Er wusch sich und zog sich an, dann nahm er die Treppe hinab. Heute Morgen würde er Gesellschaft ertragen müssen. Er war nach dem Diner sofort eingeschlafen, so hatte er vergessen, sich das Frühstück aufs Zimmer zu bestellen. Die Meeresfrüchteplatte war ausladend gewesen, phänomenal, er konnte sich nicht erinnern, jemals so frische Austern und Crevetten gegessen zu haben. Sogar die Meeresspinne hatte er verspeist, ihr Fleisch war zart gewesen und gleichzeitig würzig, er hatte nichts übrig gelassen. Er hatte sich sogar nach einem Glas Weißwein gesehnt, aber schließlich darauf verzichtet.

Er wollte gerade den Speisesaal betreten, der wie das Gourmetrestaurant einen außergewöhnlichen Ausblick aufs Meer bot, aber der Rezeptionist des Morgens hielt ihn auf.

»Monsieur van der Berge?«

»Ja?«

»Bitte, kommen Sie einmal.«

»Was gibt es denn?«

»Der ist für Sie abgegeben worden.«

Er reichte ihm einen braunen wattierten Umschlag mittlerer Größe. Maurice runzelte die Stirn.

»Von wem denn?«

»Verzeihen Sie, Monsieur, aber das ist mir nicht bekannt. Er lag in Ihrem Fach, als ich vor einer Stunde den Dienst angetreten habe.«

»Vielen Dank.«

Maurice wog den Umschlag in der Hand. Er betrat den Speisesaal, und eine eifrige Kellnerin wies ihm einen Zweiertisch am Fenster zu. Gerade schlug die Sonne durch die Wolken, sodass es im Saal mit einem Schlag heller wurde und ihn der Anblick der weißen Gardinen die Augen zukneifen ließ.

»Einen Kaffee, Monsieur?«

»Einen Tee. Kräutertee. Eine Verveine, wenn Sie haben.«

Sie verschwand und kam eine Minute später wieder, stellte das Kännchen aus echtem Silber vor ihm ab, daneben den Korb mit Croissants und Tartines, Butter, Erdbeermarmelade. Maurice würde nichts davon anrühren. Er wartete, bis sie wieder verschwunden war, und glitt dann mit der Hand erneut über den Umschlag, der neben der Zimmerkarte lag. Was war nur darin? Niemand wusste, dass er hier war.

Er fuhr sanft mit dem Zeigefinger unter die Schließe, die sich Stück für Stück öffnete. Er schüttete den Inhalt auf dem Tisch aus.

Vor ihm lag ein gefaltetes Blatt Papier. Nein, das stimmte nicht. Es waren mehrere. Darauf fiel ein Buch. Er griff danach und betrachtete es ungläubig, las die Schrift immer wieder. Rimbaud. Ein Gedichtband von Rimbaud. Er runzelte die Stirn.

Dann nahm er das Papier, weiß und durchschimmernd. Es waren vier Seiten, sie waren dicht beschrieben in einer fein ziselierten und runden Handschrift in blauer Tinte, die er schon einmal gesehen hatte. Genauer gesagt: gestern.

Monsieur Maurice van der Berge

Gast in Ihrem Hause

Cher Monsieur van der Berge,

nun, da ich Ihnen diese Zeilen schreibe, versichere ich Ihnen, dass es nicht ohne Grund geschieht. Und ganz sicher nicht aus purem Zufall.

Bis gestern am Mittag hatten wir noch nie miteinander gesprochen. Doch dann traten Sie aus dem flüchtigen Schatten des Augenblicks und sind mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen.

Ich weiß nicht, was mich dazu drängt, Ihnen meine Gefühle zu enthüllen. Aber es war offensichtlich auch Ihre Freundlichkeit, die mich ermutigte, diese Flasche ins Meer zu werfen.

Verzeihen Sie meine zwei Anleihen bei dem alten Dichter, ich bin der Meinung, dass sie bei Ihnen auf fruchtbaren Boden fallen. Sie wirken belesen, bewandert in diesen Dingen. Der wunderbare Rimbaud ist wie ich aus einer Stadt im Norden, er war für mich ein wichtiger Ratgeber in vielen Dingen, einfach weil seine Gedichte mich geprägt haben. Und er war ein Mensch, der immer seinem inneren Drängen nachgegeben hat. Wenn Ihnen meine folgenden Erklärungen nicht genügen, dann verstehen Sie mein Trachten nach einem Wiedersehen einfach in der romantischen Tradition von Arthur Rimbaud.

Noch gestern am Mittag war ich der festen Überzeugung, ein stetes und vernünftiges Leben zu führen, vielleicht auch ein befriedigendes, mit meinem Mann und meinen zwei Kindern, einem Zuhause, in Sicherheit. Ein Leben nach Plan, ohne mir mehr Fragen zu stellen.

Heute, einen Tag nach unserem Zusammentreffen, habe ich den Eindruck, aufzuleben, gar neu zu leben, stärker als zuvor. Und das liegt an Ihnen. Es muss verrückt sein, Ihnen diesen Eindruck zu schildern, Ihnen vermeintlich auch eine Verantwortung zuzuschieben für dieses Gefühl, bitte verzeihen Sie, sollte es so sein – dieser Eindruck täuscht.

Es ist ein Fakt, dass Sie mir in der vergangenen Nacht so nah waren, während Sie gleichzeitig so fern waren wie in der Nacht davor, in der ich Sie noch nicht gesehen hatte.

Doch diese Nähe, die ich auf einmal gespürt habe, hat mir etwas gegeben, etwas wiedergegeben, die Freude der Vorstellung, der Träume. Ich habe sie wiedergefunden, in Ihrem Blick, in den Funken, die darin lagen und die mir erlaubten, diese Flamme in mir wieder zu entzünden, die ich schon für ewig verloren glaubte.

Es war ein scheinbar simples Gespräch über die unerfreuliche Überbuchung unseres Hotels. Und doch sehe ich Sie jetzt, wo ich diese Zeilen in später Nacht schreibe, vor mir. In Ihrem klassischen Sakko, in Ihrer Zurückhaltung, aber auch in Ihrer Souveränität. Ich mag Ihre wilden Haare, wissen Sie? Ach was, es ist viel mehr: Ihre Gesten, die verborgene Leidenschaft, diese Fähigkeit, den Augenblick einzufrieren – ich weiß nicht, ob Sie gespürt haben, was passiert ist – haben Sie? Die ganze Nacht habe ich mir vorgestellt, Ihnen meine Geheimnisse zu enthüllen. Ich muss mich entschuldigen: Ich habe mir auch vorgestellt, Ihnen meinen Körper zu enthüllen, meine Wünsche, meine Phantasien.

Ich sah uns entfliehen, weit weg, wo niemand uns wiedererkennen wird, wo wir ankommen, als seien wir ohne Vergangenheit, nur mit dieser Zuneigung, die ich so stark fühle, wenn ich an Sie denke. Ich würde Ihnen so gern ein Geheimnis enthüllen, was all diese Zeilen erklärt, aber ich kann es nicht, noch nicht.

Ich träume von einem neuen Leben im alten. Seit gestern zur Mittagsstunde habe ich die Vorstellung, dass alles passieren kann, alles wiedergeboren werden kann. Ich träume davon, Sie kennenzulernen, selbst wenn es mir scheint, als würde ich Sie schon kennen.

Es ist mir klar, dass Ihnen meine Zeilen wie eine verrückte Idee erscheinen müssen, das Werk einer Irren, und vielleicht haben Sie recht.

Ich aber versichere Ihnen, dass meine Gefühle für Sie aufrichtig sind, und wenn ich diesen Gefühlen derart traue, dann liegt es daran, dass ich spüre, dass sich unsere Wege schon vor langer Zeit gekreuzt haben.

Es liegt nicht in meiner Hand, was Sie mit diesen Zeilen tun werden. Ich würde verstehen, wenn Sie sie brüsk zurückweisen würden, wenn ich Sie gar erbost hätte. Ich kann nichts tun, als zu hoffen, dass Sie dasselbe Fieber verspüren und dass Sie wenigstens ein Stück so sehr hoffen, dass wir uns wiederbegegnen, wie ich mir das für mich wünsche.

Von Herzen,

Ihre Dominique Vial

Maurice stand auf, sein Zittern war im Sitzen nicht auszuhalten. Er hatte den Eisenkrauttee, die Verveine, nicht einmal angerührt. Er ging durch die offene Flügeltür hinaus und trat in den Garten. Ihm fiel die Perfektion auf, mit der sie alle Hecken gestutzt hatten, der Rasen war grün und satt, die hohen Platanen spendeten Schatten vor der Sonne, die schon am frühen Vormittag warm auf das Plateau schien. Niemand war hier. Die Menschen saßen noch beim Frühstück oder waren schon auf einem Ausflug, vielleicht zum Mont-Saint-Michel. Er setzte sich auf die Bank, auf der gestern die englischen Ladys gesessen hatten.

Es kam ihm unwirklich vor, weil es nicht mal einen ganzen Tag her war. Und doch fiel es ihm schwer, sich an ihr Gesicht zu erinnern. Nicht weil es nicht erinnerungswürdig gewesen war. Nein, das war es ganz und gar nicht, das wusste er. Es schien eher so, als habe er sich im Augenblick des ersten Zusammentreffens das genaue Hinsehen verboten. Sie war so lebendig gewesen, dass sich seine Schüchternheit wie eine Monstranz über ihn gelegt hatte. Ein Erinnern an ihren Körper verbot er sich ganz. Er hatte sie nicht gut sehen können, verborgen hinter der Rezeption, so erklärte er sich das.

Maurice betrachtete das Papier in der Hand, diesen Brief, er hielt ihn nur mit zwei Fingern, als fürchtete er, er könnte sich daran verbrennen. Was für ein Geheimnis meinte sie? Wer war diese Frau, die so offen über ihre Gefühle schreiben konnte, ohne Angst vor einer Zurückweisung, ohne Angst vor Entdeckung? Sie hatten doch nur so kurz miteinander gesprochen – und doch: Er fühlte wie sie. Er wäre nur in tausend Jahren nicht imstande gewesen, dergleichen zu formulieren. Und so blieb die Frage:

Warum er?

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