Читать книгу Mittwochs am Meer - Alexander Oetker - Страница 5
II
ОглавлениеNiemand hatte ihn in diesem Büro bisher angerufen. Nun gut, bis auf seinen Vater. Er hatte wohl sicherstellen wollen, dass sein Sohn wusste, was dessen neuer Arbeitsort für die Familie bedeutete: nur eine weitere Demütigung.
Die Zeit bis zum Mittag verging wie im Fluge, obwohl er nichts tat, als geschriebene Zeilen zu überfliegen. Er erkannte den Fortgang des Tages nur daran, dass es unter dem Dach immer heißer wurde. Es war ihm ein Rätsel, wie Madame Le Goff es hier am Nachmittag aushielt. Die dünnen Holzbohlen dämmten das Stockwerk nicht, sie ließen es stattdessen glühen. Im Winter musste es noch unerträglicher sein. Aber im Winter würde er nicht mehr hier sein.
Er besah sich die Fixkosten, beantwortete zwei Nachrichten vom Gericht aus Rennes, überflog die Tabellen und rechnete die verbliebenen Aufträge durch. Sie brauchten mehr, ganz klar. Er stöpselte den Laptop an den Strom, dann nahm er seinen Koffer und blickte in das Büro der Sekretärin. Es war leer. Er stieg die Treppen hinab und ging durch die nun leere Halle.
Maurice trat hinaus und sah die Angestellten der Firma, sie saßen alle drüben, im einzigen traditionellen Lokal, das das Städtchen noch besaß und das die Touristen den Bewohnern noch nicht abgetrotzt hatten. Einmal war er mit Madame Le Goff dort gewesen. Er hatte darauf bestanden, obwohl sie lieber woanders essen wollte. Doch es war ihm wichtig zu sehen, wo die Mitarbeiter aßen. Entrée, Plat, Dessert für acht Euro, ein Glas Muscadet inklusive.
Als er jetzt hinaustrat in die Sonne, sahen alle hinüber, als hätten sie auf ihn gewartet, dann wandten sie schnell den Blick ab. Nur Madame Le Goff schob ihre Sonnenbrille ins Haar und hob winkend den Arm, er nickte herüber, eine erkennende Geste.
Er hatte Hunger, doch er wollte zuerst den Koffer wegbringen. Langsam drückte das Wasser in die Bucht, die ersten Boote, die weiter draußen lagen, waren schon angehoben worden und schaukelten in der braunen Brühe. Er ging an den Austernständen vorbei, zwei alte Männer überboten sich mit Anpreisungen, einer hatte einen riesigen Anker auf seinen faltigen Arm tätowiert. Unten in der Bucht machten ihre Söhne die Ernte des Tages fest, bevor die Flut die Bänke wieder überschwemmen würde. Sie standen mit Gummistiefeln in dem kniehohen Wasser der Zuchtbecken, die, von grünen Algen umrankt, dalagen. Die Muschelfischer ließen unterdessen ihre Traktoren an Land rollen, bevor die Flut kam. Bei Ebbe fuhren sie mit den Gespannen ganz nach draußen, was merkwürdig aussah: die dicken Reifen der John-Deere-Modelle, die am Horizont auf und ab rollten, gleich dahinter das Meer. Die Möwen pickten im schon nassen Sand umher, ihre Geräusche waren gleichmütig, als würde sie nichts überraschen können.
Maurice überquerte die Place de la Chapelle, die Rue du Port stieg steil bergan, jedes Haus ein Stück höher als das vorherige, eine Kaskade von dunklem Stein und den Schornsteinen, die den Berg nachzeichneten.
Die Sonne lugte hinter einem Dach hervor, ein schräger Lichtstreifen. Ihm war, als müsste er sich plötzlich konzentrieren, er wusste nicht, warum. Das siebte Haus auf der linken Seite war höher als die anderen, drei Etagen, zwölf Zimmer. Er klingelte, die Tür surrte sofort. Eigentlich war es zu früh, um einzuchecken. Aber in den letzten Wochen war er stets zu dieser Stunde gekommen, und sein Zimmer war immer schon bereit gewesen.
Er stieg die paar Stufen hinauf, erblickte den Tresen, eine Leselampe beleuchtete den Kasten mit den Ausflugstipps, dem Gezeitenkalender und den wartenden Zimmerschlüsseln. Maurice trat von einem Fuß auf den anderen.
Er hörte ihre Schritte erst, als sich die Tür zum hinteren Raum schon öffnete, und als sie dann dastand, musste er sich kurz auf der Theke abstützen. Er musste es einfach tun, weil er sonst gestolpert wäre, umgefallen gar. Er hatte sie hier noch nie gesehen, die letzten Wochen war immer eine andere, ältere Frau da gewesen.
»Bonjour?«
Nur ein Wort, aber die Fröhlichkeit ihrer Stimme ging ihm durch und durch.
»Bonjour, Madame. Ich habe ein Zimmer reserviert, ich bin Monsieur van der Berge.«
Es war schummrig, deshalb musste er zweimal hinsehen, um ihre Erscheinung mit dieser bescheidenen Rezeption aus Holzfurnier zusammenzubringen. Sie kniff die Augen ein wenig zusammen, er stand im Gegenlicht, doch dann lächelte sie. Irgendwas Fragendes war da in ihrem Blick, Überraschung? Als erkenne sie ihn, könne ihn aber noch nicht einordnen. Es konnte nicht sein, er hatte sie noch nie gesehen, da war er sich sicher. Sie sah einen Moment zu lange zu ihm, dann erst räusperte sie sich und senkte den Kopf. Dabei fielen ihr die langen Haare ins Gesicht, sie wischte sie mit einer Geste zurück, schlug ihr Reservierungsbuch auf und blätterte darin, überschlug die Seiten, als müsste sie etwas prüfen. Er fand es beinahe intim, sie dabei zu beobachten. Er starrte – warum starrte er sie an? Es gelang ihm einfach nicht, seinen Blick von ihr zu lösen.
Da war etwas, ihr dunkler Teint, die Art, wie sie sich konzentrierte, die Ruhe, die sie ausstrahlte, ihre Lebendigkeit, die den Raum sofort heller erscheinen ließ.
Sie hob den Kopf wieder, als wollte sie prüfen, dass er noch da war, dass dieser Moment echt war, und als sie es sah, lächelte sie wieder.
»Ich wusste, dass heute ein merkwürdiger Tag werden würde, schon am Morgen wusste ich es. Kennen Sie das?«
Er nickte, weil ihm nichts einfiel, das er erwidern könnte. Und obwohl der Gesprächsbeginn so merkwürdig war, machten ihre Worte ihn nur noch nervöser.
»Jedenfalls ist es so, Monsieur van der Berge, ich sehe Ihre Buchung von letzter und vorletzter Woche. Ich sehe auch die Reservierungen nächste und übernächste Woche. Ich weiß, Sie sind der Mann, der immer am Mittwoch kommt. Für eine Nacht. Ich war einige Zeit im Urlaub, deshalb kann ich es mir nicht erklären.« Sie ließ die Arme sinken, als näherte sich die Zeit des Geständnisses. »Es ist so: Ich habe keine Buchung für heute, ich habe alles durchgeschaut, da ist nichts.«
Er verstand nun ihre roten Wangen und sagte fast reflexartig:
»Ich weiß nicht, vielleicht ist etwas schiefgegangen, ich … Können Sie mir ein anderes Zimmer geben? Ich bestehe nicht auf Zimmer sieben.«
»Das ist es ja«, sagte sie, »wir sind komplett ausgebucht, es ist verrückt, wir haben gerade eine ganze Woche das Haus voll, so viele Urlauber sind früh in der Saison gekommen, das ist noch nie passiert. Vogelbeobachter, eine Gruppe aus Südengland. Es tut mir wirklich sehr leid, aber ich fürchte, ich kann nichts machen.«
Er schüttelte den Kopf und spürte, wie sein Kopf rot wurde, er mochte keine Überraschungen. Er holte sein Handy hervor, das Licht beruhigte ihn, der Bildschirm bildete eine Ordnung der Dinge. Er suchte in der App seine Buchungen, dann hielt er das Handy über den Tresen.
»Hier, sehen Sie, meine Buchung, ich habe eine ordnungsgemäße Buchung für heute.«
»Ich weiß, Monsieur, ich weiß, das habe ich ja schon gesagt. Es ist mir unerklärlich, wie das passieren konnte – ausgerechnet bei Ihnen. Ich verspreche, das passiert nie wieder. Aber diesmal … Ich habe kein Zimmer. Ich würde Ihnen gerne eines bauen, aber das schaffe ich nicht bis heute Abend …«
Sie lachte offen, und er ärgerte sich, dass er zu nervös war, um den Scherz angemessen zu würdigen. Er wollte wütend sein, er war gerne aufbrausend in solchen Momenten, es war das Verhalten, das er sich von seinem rigiden Vater abgeschaut hatte – der brachte die Menschen immer dazu, sich zu beugen. Aber hier? Er konnte es nicht, irgendwas hielt ihn zurück.
»Und was mache ich nun?«, fragte er freundlich und irgendwie verlegen.
Sie überlegte kurz, zwei Finger spielten mit einer Haarsträhne, dann wurden ihre Augen klarer, als habe sie etwas entschieden.
»Ich habe eine Idee. Eigentlich müsste ich das mit der Besitzerin besprechen, aber es wird schon gehen. Ich rufe in einem Hotel außerhalb der Stadt an, ein sehr schönes Hotel. Sie werden es nicht bereuen. Ich habe noch etwas gut bei denen. Es ist … nun ja, sehr exklusiv. Viel teurer als unser Haus. Ich werde Sie dort einbuchen, die Differenz zahlen wir, es war ja unser Fehler. Sind Sie einverstanden? Bitte … tun Sie mir den Gefallen, nehmen Sie es an.«
Sie wartete seine Antwort nicht ab, sondern notierte etwas auf einem Zettel, sie schrieb in schöner Schrift, ihre Hand flog über das Papier.
»Hier, ich schreibe Ihnen die Adresse auf. Nehmen Sie ein Taxi vom Hafen, es kostet acht Euro, nicht mehr. Ich rufe dort an, es wird alles glattgehen. Fahren Sie heute Abend hin, ich verspreche, Sie werden dort wunderbar schlafen.«
Sie sagte es, als dulde sie keine Widerrede, als habe der Plan schon lange festgestanden. Die Frau gab ihm den Zettel, als er ihn annahm, waren ihre Finger für eine Sekunde an seinen. Sie trat einen Schritt zurück und blickte ihn fragend an.
»Sagen Sie, Monsieur van der Berge, ich frage mich, seit Sie hineingekommen sind, ob Sie …«
Er nahm seinen Koffer in die Hand, weil sie nicht weiterredete und weil er nicht wusste, was er sonst tun sollte. Doch dann schüttelte sie den Kopf und senkte ihren Blick.
»Ja, Madame?«
»Nein, nein, ich … Es ist nichts, entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht verwirren.«
Wieder eine Pause, dann wurde sie plötzlich geschäftig.
»Darf ich Ihnen noch damit helfen?«
»Hmm?«
Sie zeigte auf den Koffer, und Maurice verstand, aber winkte ab.
»Nein, nein, ich danke Ihnen.«
»Haben Sie einen schönen Tag, wir sehen uns bald.«
»Wie bitte?«
»Na, nächste Woche, wir sehen uns nächste Woche.«
»Ähm, ach so«, er musste nun mitlachen, »ja, stimmt. Merci, Madame.«
Er musste sich richtig losreißen, so sehr lag ihr Blick auf ihm. Er nahm die kleine Treppe, bei der vorletzten Stufe verfehlte er das Holz, sein Fuß rutschte ab, der Koffer knallte gegen die steinerne Wand, er fing sich.
»Alles in Ordnung?« Ihre Stimme ertönte von oben.
»Alles gut, Verzeihung!«, rief er. Dann öffnete er die Tür, trat hinaus und betrachtete die Straße und den blauen Himmel, als sehe er beides zum ersten Mal. Maurice schloss für einen Moment die Augen, bis sich ein älteres Touristenpärchen unsanft an ihm vorbeidrängelte. Er hatte mit seinem Koffer den schmalen Gehsteig blockiert. Er ging den Berg hinunter bis zum Hafen und setzte sich auf eine Bank. Auf der Mauer gegenüber saßen Urlauber und aßen Austern von Plastiktellern. Er faltete den Zettel auseinander, sie hatte ihn säuberlich Ecke auf Ecke gelegt.
Chateau Richeux stand darauf und eine Straße, die Départementale westlich von Saint-Méloir-des Ondes, dazu eine Telefonnummer. Er staunte, er wusste von diesem Hotel und fragte sich, in welcher Beziehung die kleine Pension in dem düsteren Haus und diese Herberge zueinander standen.
Wir sehen uns nächste Woche, hatte sie gesagt. Und er hatte nur rumgestottert.
Er wäre gerne am Strand entlanggegangen, bevor die Flut die letzten Reste des Sandes überspülen würde, aber er kam sich unpassend vor in seinem Sakko, dessen dicker Stoff ihm den Schweiß auf die Brust trieb. Unten lagen Familienväter unter bunten Sonnenschirmen, während die Mütter an der Wasserkante mit kleinen Kindern eine Burg bauten. Ein Paar lag eng umschlungen auf einem quietschbunten Handtuch unter dem fahlen Himmel. Er verspürte ein Stechen im Bauch.
Maurice ging auf die Fabrikhalle zu, als die Arbeiter zurückkehrten. Sie zogen ein wie die sieben Zwerge, es fehlte nur noch, dass sie ein kämpferisches Brigadistenlied sangen. Sie grüßten nicht, sie schienen ihn nicht einmal zu beachten. Er zog seinen Koffer hinter sich her und wechselte die Straßenseite. Auf dem Tisch der Arbeiter standen noch die leeren Gläser, die Tischdecke war voller Brotkrumen. Er setzte sich. Die Kellnerin sah ihn stirnrunzelnd an. Er bestellte das Menu du jour. Sie blickte in der Gegend umher.
»Nur bis 14 Uhr.«
»Es ist vier Minuten vor zwei.«
»Eben.«
»Was gibt es denn noch?«
»Salate. Eine Plat Direct: Hühnchen und Pommes. Oder Austern.«
Er bestellte eine Salade niçoise, die ungefähr so gut hierher passte wie Spaghetti all’ arrabiata.
»Wein?«
»Danke, nur ein Badoit.«
Sie nickte so deutlich, als sei diese Bestellung keine Überraschung, und als sie wiederkam, stellte sie die grüne Wasserflasche vor ihn hin, als habe sie ihn endgültig verlorengegeben. Gott sei Dank war er gar nicht richtig hier. Auch nicht, als der Teller mit dem Salat kam, der freudlos war wie dieser Tag, ohne Anchovis, sogar ohne Ei. Nur Zwiebeln gab es reichlich und Thunfisch. Und doch korrigierte er sich in Gedanken: Freudlos war der Tag nur bis vorhin gewesen, bis zu diesem Augenblick, von dem er nicht wusste, was er bedeuten sollte.
Er aß, zahlte, gab ein gutes Trinkgeld und machte sich wieder auf den Weg in seine erste Etage, die mittlerweile aufgeheizt war wie eine Schwedensauna. Madame Le Goff zog es zu dieser Stunde vor, unten in der Halle mit den Arbeiterinnen zu schwatzen, so hatte er Zeit und Ruhe, sich ohne Störung über die Zahlen zu beugen.
Er konnte nicht sagen, wie spät es war, aber er spürte, dass er schon wieder großen Durst hatte. Es musste also viel Zeit vergangen sein. Auf einmal stand Madame Le Goff in der offenen Bürotür.
»Ich gehe jetzt, Monsieur van der Berge. Der Chef des Syndikats wird morgen um zehn hier sein. Einverstanden?«
»Danke, Madame.«
Er ärgerte sich, weil er seine Abreise nach hinten würde verschieben müssen. Doch Madame Le Goff war schon verschwunden. Er dachte über sie nach. Es schien, als sei sie die Einzige hier, die die Pleite der Firma nicht fürchtete. Sie schien den lässigen Arbeitsalltag zu genießen, der wie ein großer Zufall über sie hereingebrochen war. Bei ihren Fähigkeiten und ihrem Netzwerk würde sie binnen Tagesfrist einen neuen Arbeitsplatz finden. Wie viele Jahre bis zur Rente hatte sie wohl zu überbrücken?
Doch eigentlich – eigentlich war er in seinem Kopf gar nicht bei Madame Le Goff, schalt er sich. Er konnte seit drei Stunden nur noch an die junge Frau mit den langen roten Haaren denken, die ein Sommerkleid getragen hatte. Er blickte auf den Bildschirm, der sich ausgeschaltet hatte und nun sein Bild zurückwarf: sein Gesicht, die hohen Wangenknochen, die er schon als Kind gehabt hatte, das leicht verwuschelte Haar, sein Kinn, das er zu groß fand, das Frauen aber immer als markant bezeichnet hatten. Er hatte lange nicht mehr darüber nachgedacht, wie er auf andere wirkte, also nicht als Anwalt, nein, sondern als Mann. Aber jetzt, nach dieser Begegnung, fragte er sich doch, was der Grund sein könnte, dass ihn in diesem kleinen Raum in einer Pension am Ende der Welt so ein Blitz getroffen hatte. Warum nur, warum hatte sie ihn so angesehen?