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Von Monos und Stereos

Ich bin ein Mono. Früher hatte ich zwei gesunde Ohren. Wenn ich einmal nicht zuhörte, oder etwas nicht verstand, dann lag dies nie an meiner auditiven Wahrnehmung. Mit Ende zwanzig veränderte ein Virus diesen Zustand schlagartig. Ich ertaubte einseitig. Meine Tage als Stereo waren beendet. Seitdem erlebe ich die Welt als Mono.

Ein Tag im Leben eines Monos

Es ist Montagmorgen. Der Wecker klingelt. Langsam komme ich zu mir. Verschlafen reibe ich mir die Augen und strecke mich. Mein Tinnitus ist deutlich schneller als der restliche Organismus auf den Beinen. Augenblicklich macht er es sich im Vordergrund meines Bewusstseins gemütlich. Dort sitzt er nun fest auf seinem Thron für den Rest des Tages. Mit Freude beginnt er, meine auditive Wahrnehmung lautstark zu dominieren. Es erklingt das wohlvertraute chaotische Ensemble hoher Töne. Das akustische Ohr resigniert sogleich und zieht sich vornehm in den Hintergrund zurück.

Waschen, Anziehen, Frühstücken - tschüss Kinder, tschüss Frau und tschüss Hund. Das Fahrrad ist gerade nicht einsatzbereit. Also rein ins Auto und ab zur Arbeit. Was ist los? Ich kann mich gerade nur schwer konzentrieren und fühle mich angestrengt. Ah, natürlich, das Radio läuft. Ich schalte es ab. Das Fahrgeräusch ist genug akustischer Input für mein verbleibendes gesundes Ohr. Es muss ja noch Aufmerksamkeit für das Fahren übrig bleiben.

Ich fühle mich getriggert, lasse vor meinem geistigen Auge eine Situation Revue passieren, die ich vor einigen Wochen erlebt habe. Als Beifahrer war ich bei Regen unterwegs auf einer Autobahn. Mein Gesprächspartner befand sich bei König Tinnitus auf meiner tauben Seite. Eine Unterhaltung? Das war kaum möglich. In dieser verschärften akustischen Situation verstand ich fast nichts vom Gespräch. Genug negative Gedanken, weg damit. Diese brauche ich wirklich nicht und erst recht nicht an einem Montagmorgen.

Rein ins Büro. Ich bin heute spät dran, die Kollegen sitzen schon zur Frühstückspause zusammen. Ich geselle mich zu ihnen. Links, rechts, links rechts. Ständig drehe ich den Kopf hin und her, um den Gesprächen zu folgen. Mein gesundes Ohr richte ich zur gewünschten Schallquelle aus, um einfacher zu verstehen. „Wie bitte?“ muss ich dennoch nachfragen. Eine Kollegin hat mich etwas leise auf der tauben Seite angesprochen. Der Schall ihrer Stimme war nicht stark genug, um den Umweg um meinen Kopf hinein ins gesunde Ohr zu schaffen.

Pause vorbei und los geht es. Ich sitze in einem Großraumbüro. Besprechung am Arbeitsplatz hier, Telefonat dort, die Lüftung brummt. Mein gesundes Ohr ist geflutet von einem zweidimensionalen Geräuschbrei. Das lässt sich natürlich mein Tinnitus nicht bieten und verteidigt lautstark seine Vorherrschaft über meine Wahrnehmung. Schluss mit den Streitereien, ich möchte eine Berechnung fortführen und muss mich dabei konzentrieren. Der Kapsel-Gehörschutz liegt griffbereit. Ich ziehe ihn auf. In meinem akustischen Ohr ist augenblicklich Ruhe. Der Tinnitus ist jetzt alleiniger Chef im Ring und summt zufrieden und nur noch dezent vor sich hin. Meine Konzentration ist deutlich erhöht und ich starte mit meinem tönenden Begleiter die Berechnung.

Es ist Mittagspause, ein Teil der Kollegen läuft zur Kantine. Früher ging ich auch regelmäßig in den vollbesetzten Speisesaal essen. Doch seit meiner einseitigen Ertaubung tanke ich deutlich mehr Erholung in ruhigen Umgebungen. Ich habe öfters den Eindruck von Beklemmung, wenn ich unter vielen Leuten bin. Mein gesundes Ohr ist dann überflutet mit akustischen Reizen. Da ich nicht mehr intuitiv Richtungen hören kann, bekomme ich das Stimmengewirr auch nicht räumlich vorgefiltert. Ich muss die Stimme meines Gesprächspartners mittels Konzentration aus dem zweidimensionalen Geräuschbrei herausfiltern. Dieser zusätzliche geistige Verarbeitungsaufwand kostet Energie und Zeit. Deshalb folgen meine Antworten manchmal etwas verzögert und ich kann mich in solchen geräuschvollen Umgebungen nicht entspannt unterhalten.

Nachmittags habe ich in einen großen Besprechungsraum geladen. Sobald ich diesen betrete, starte ich gezielt die Suche nach einem akustischen Vorzugsplatz. Ich finde diesen und lasse mich zufrieden ganz vorne am Tisch mit meinem Notebook nieder. Mein taubes Ohr zeigt zur Leinwand, sodass mein gesundes Ohr den Teilnehmerkreis auf direktem Wege akustisch empfangen kann.

Die Besprechung ist vorbei. Ich marschiere zurück ins Büro. „Guten Tag“ höre ich jemand zu mir rufen. Ich lasse meinen Blick nach links schweifen. Da ist nur eine leere Treppe. „Wohl falsche Richtung getippt“ denke ich mir und drehe meinen Kopf nach rechts. Da ist er ja, der Kollege. Er schließt auf und möchte sich mit mir im Laufen unterhalten. Moment, kurzer Seitenwechsel, dann reden wir auf meiner akustischen Vorzugsseite weiter. Ich thematisiere dieses Verhalten offen, damit es mein Gesprächspartner richtig interpretieren kann. Er reagiert mit einer Entschuldigung, da er meine Beeinträchtigung nicht bedacht hat. „Keine Ursache“ erwidere ich und bedanke mich für das Verständnis. Für manche Menschen, wie meine Frau, ist das ausschließliche Positionieren auf meiner akustischen Schokoladenseite bereits ein Automatismus geworden.

Es ist dunkel draußen. Ich fühle mich erschöpft. Zeit für Feierabend und Familie. Ich fahre nach Hause. Die Kinder und der Hund begrüßen mich herzlich. Doch wo ist meine Frau? Ich rufe sie. Ihre Antwort hallt es aus irgendeinem Raum des Hauses: „Ich bin hier“. Haha, diese Aussage hilft mir leider nicht weiter. „Welcher Raum“ frage ich leicht genervt präziser nach.

Essen, Kinder ins Bett bringen, den Abend zusammen mit meiner Frau ausklingen lassen. Der Tag neigt sich dem Ende. Die Zähne sind geputzt und ich liege im Bett. Zeit zum Schlafen.

Ich schließe meine Augen und es wird dunkel. Ich lege mich mit dem gesunden Ohr ins Kissen und die Umwelt verstummt. Es existieren nur noch mein Tinnitus und ich. Mein zuverlässig tönender Begleiter fiept mich in den Schlaf.

Einseitige Taubheit

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