Читать книгу Einseitige Taubheit - Alexander Partheymüller - Страница 8
Tinnitus
ОглавлениеTaubheit = nichts Hören = Stille ?
Hier haben wir ein weiteres klassisches Beispiel dafür, wie leicht die Auswirkungen des einseitigen Hörverlusts auf das Leben eines Monos unterschätzt werden können. Was vielen Menschen nicht bewusst ist: Spätertaubung bedeutet in den meisten Fällen nicht Ruhe sondern Lärm! Statt gerichteter akustischer Signale aus der Umwelt liegen autonome und wild tobende Ohrgeräusche vor. Diese werden als Tinnitus bezeichnet. Der Begriff stammt vom lateinischen Wort für klingeln „tinnire“ ab. Grundsätzlich ist Tinnitus in den meisten Fällen keine eigenständige Erkrankung, sondern ein Symptom unterschiedlicher Störungen.
Wie hören sich die Ohrgeräusche an? Die Antwort darauf fällt bei jedem betroffenen Mono individuell aus. Neben dem erwähnten Klingeln wird Tinnitus unter anderem auch in Form von Brummen, Knacken, Rauschen, Pfeifen, Piepen oder aus der Kombination mehrerer dieser Effekte wahrgenommen. Die Tonlage und die Lautstärke variieren ebenfalls. Zudem kann sich der Tinnitus über die Zeit statisch konstant oder dynamisch verändernd anhören. Was die Ohrgeräusche jedoch gemeinsam haben: Sie sind präsent, sie sind anstrengend, sie sind unabhängig von der Umgebung und sie verhindern Stille.
Doch wieso existieren Ohrgeräusche, wo eigentlich nichts mehr gehört werden kann? Typischerweise ist Tinnitus als Symptom einer Gehörschädigung durch zu intensive Geräuschbelastung, wie etwa Musik oder Maschinenlärm, oder als temporärer Stressindikator bekannt. Doch die Ursachen für Ohrgeräusche sind weitaus vielfältiger. Sie liegen etwa auch in Autoimmunerkrankungen, Tauchunfällen, Infekten und Schwerhörigkeit.
In den häufigsten Fällen existiert ein sogenannter subjektiver Tinnitus, der lediglich vom Patienten wahrnehmbar ist. Dabei ist keine Schallquelle verantwortlich für die störenden Höreindrücke. Beim subjektiven Tinnitus handelt es sich metaphorisch gesprochen um ein „Softwareproblem“, dessen Existenz in der Datenverarbeitung durch Gehirn und Nervensystem vermutet wird. Hinweise darauf lieferten Probanden, bei denen der Hörnerv durchtrennt wurde. Trotz dieses Eingriffs blieben die Ohrgeräusche bestehen. Der niederländische Ausdruck „Fantoomgeluid“ für Tinnitus bringt diesen Aspekt auf den Punkt: Phantomgeräusch. Durch zum Beispiel Gefäßmissbildungen oder Bluthochdruck kann in seltenen Fällen auch ein objektiver Tinnitus entstehen, bei dem ein messbares, körpereigenes Störgeräusch auftritt.
Bei Ohrgeräuschen auf einem tauben Ohr handelt es sich um einen subjektiven Tinnitus, da ein objektiver Tinnitus mit einer Hörfähigkeit gekoppelt ist. Vor allem Spätertaubte leiden verstärkt an dem Symptom der Ohrgeräusche. Im Gegensatz dazu haben mir viele Monos berichtet, die bereits einseitig ertaubt geboren wurden, dass sie vom Tinnitus nicht betroffen sind. Ein Erklärungsansatz hierfür ist, dass das Gehirn eines Spätertaubten versucht, den aufgetretenen Hörverlust durch eine Hochregulierung der Sensitivität der zentralen Hörbahnen zu kompensieren. Gestützt wird diese Theorie durch Studien in schallisolierten Räumen. Gesunde Probanden verweilten dort für einige Minuten unter ungewohnt ruhigen akustischen Umgebungsbedingungen. Die Folge war einsetzender Tinnitus bei fast allen Teilnehmern.
Diese Erkenntnis kann so interpretiert werden, dass ein Spätertaubter nach Verlust der auditiven Wahrnehmung an Tinnitus leidet, da sein Gehirn auf Höreindrücke konditioniert war und bleibt. Als Allegorie hierfür dient ein analoger Fernseher. Wird diesem das Antennenkabel gezogen, so verschwindet das scharfe Bild und ein lautes, wildes Rauschen setzt ein.
Die Hardware (Gehirn und Hörnerv) funktioniert noch und bleibt eingeschaltet. Jedoch kommen keine gerichtete Signale (Hörimpulse) mehr an. Die Konsequenz ist ein wilder Kampf der Geräusche (Tinnitus), der nichts mit dem TV-Programm (akustische Umwelt) zu tun hat.
Das Gehör geht, der Tinnitus kommt. Ist dies der Fall, so ist von chronischen, subjektiven Ohrgeräuschen auszugehen, die dauerhaft bestehen bleiben. Ich fokussiere mich in den kommenden Textabschnitten auf diese Art Tinnitus, da mir diese am relevantesten für einseitig Ertaubte erscheint.
Die nachfolgende Abbildung verdeutlicht, wie Ohrgeräusche die auditive Wahrnehmung eines betroffenen Monos beeinflussen.
In der Grafik ist der Tinnitus ergänzt, neben den bereits erörterten Einschränkungen der fehlenden akustischen Lokalisation und des Kopfschattens. Dieser bewirkt, dass der Konzentrationsbedarf für die Fokussierung auf ein Geräusch oder einen Gesprächspartner weiter ansteigt. Die negativen Auswirkungen von Störlärm auf das Sprachverständnis steigen. Die empfundene Asymmetrie in der Wahrnehmung der Umwelt nimmt zu.
Umgangsformen mit dem Tinnitus
Du leidest an chronischem Tinnitus? Dominiert das Ohrgeräusch dein Bewusstsein? Hast du das Gefühl, dass deswegen Schlafstörungen, Angstzustände oder Depression ein Thema für dich sind? Betrachten wir es objektiv: chronischen Tinnitus bedeutet, dass dieser auditive Wahrnehmungszustand eine dauerhafte Herausforderung darstellt, die jeder Betroffene unterschiedlich annimmt.
1) Der Kampf
Gegen die Tatsache der bleibenden Ohrgeräusche anzukämpfen ist eine häufige erste Reaktion und erfordert den Verbrauch von viel Energie und Aufmerksamkeit. Wird sich der Tinnitus dadurch beeindrucken lassen? Davon ist wohl nicht auszugehen, im Gegenteil: die Präsenz des Themas wird im Bewusstsein zunehmen, die Intensität der Wahrnehmung der Ohrgeräusche wird steigen. Gefühle wie Wut und Verzweiflung werden bei ausbleibenden Erfolgen wachsen. Wird der Tinnitus als Gegner bekriegt, wird viel Energie vernichtet und es bleibt leider kaum Aussicht auf Erfolg.
2) Die Freundschaft
Soll ich mich denn etwa mit den Ohrgeräuschen anfreunden? Dabei ist Freundschaft doch eigentlich etwas Positives, sie basiert auf Vertrauen und Sympathie. Das Ziel, dem Tinnitus von Anfang an solche Gefühle aufrichtig entgegenzubringen, erscheint mir als eine zu hohe Erwartungshaltung, die nur allzu leicht enttäuscht werden kann. Denn Freundschaft entsteht nicht schlagartig, sondern über einen längeren Zeitraum hinweg mit vielen gemeinsamen Erlebnissen.
Kann ich am Ende meinem Tinnitus sogar etwas Positives abgewinnen? Eine Freundschaft mit dem Tinnitus ist möglich und aus meiner Sicht ein erstrebenswerter Zielzustand. Doch der Weg dorthin kann nicht erzwungen werden, denn er Bedarf Zeit, Geduld und eine Portion Gelassenheit. Ein wichtiges Etappenziel zur Freundschaft mit dem Tinnitus ist die Akzeptanz.
3) Die Akzeptanz
Ich persönlich hatte es zunächst sowohl mit dem Kampf gegen, als auch der Freundschaft mit dem Tinnitus versucht. Beide Ansätze führten bei mir zu keiner Verbesserung der Situation. Geholfen hat mir eine Erkenntnis, die mit nachfolgendem Satz auf den Punkt gebracht wird:
„Mono, ich wünsche dir die Gelassenheit, Dinge zu akzeptieren, die du nicht verändern kannst, den Mut, Dinge zu ändern, die du ändern kannst und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“
Ein wichtiger Entwicklungsprozess ist es, die Ohrgeräusche als festen Bestandteil des eigenen „Selbst“ zu akzeptieren. Sie sind existent und werden bleiben, ob das nun gewünscht ist oder nicht. Diesen Umstand kann ich nicht verändern, daher sollte ich versuchen ihn zu akzeptieren. Der Tinnitus ist weder Freund noch Feind. Er ist ein verlässlicher Begleiter, der immer da ist. Akzeptanz ist dabei nicht zu verwechseln mit einer passiven Resignation. Akzeptanz steht für eine aktive und bewusst getroffene Anerkennung der Ohrgeräusche. Die neutrale Anerkennung des Tinnitus ist die Saat, aus der langfristig eine unbeschwerte Freundschaft wachsen und reifen kann.
Tipps zum Umgang mit Tinnitus
Um das Ziel der Versöhnung mit den Ohrgeräuschen zu erreichen, ist die unangenehme Wahrnehmung des Tinnitus zu reduzieren. Diese Herausforderung ist gerade in der Anfangsphase häufig schwer zu meistern. Hier sind einige unterstützende Tipps für dich, die ich als nützlich empfinde.
1) Fokussiere dich auf die akustische Umwelt
Bei einseitiger Taubheit können weiterhin die Umgebungsgeräusche über das gesunde Ohr aufgenommen werden. Auch in ruhigerer Umgebung, wie etwa beim Joggen durch den Wald, kann ich meine auditive Wahrnehmung auf die Natur, die Atmung oder die Laufgeräusche lenken. Je mehr Aufmerksamkeit der akustischen Umwelt geschenkt wird, umso weniger Raum bleibt dem Tinnitus im Bewusstsein.
2) Lenke deine Achtsamkeit auf positive Höreindrücke
Ich versuche generell, meine Achtsamkeit im Alltag auf angenehm klingende Geräusche oder Stimmen zu legen. Das akustische Umfeld kann dabei aktiv gestaltet werden, zum Beispiel durch das Abspielen der Lieblingsmusik und einem plätschernden Brunnen im Garten.
3) Vermeide Hörstress
Akustischer Stress in Form einer schallintensiven Umgebung ist zu meiden, da dieser die allgemeine Sensitivität des Geräuschempfindens anheben kann.
4) Sorge für Entspannung und Auszeit
Tinnitus kann zu einem erhöhten Stresspegel und damit zu körperlichen und geistigen Spannungszuständen führen. Um diese abzubauen oder vorzubeugen, können regel-mäßige Entspannung und Auszeiten unterstützen. Ob die Verwendung von Techniken wie Yoga, Tai Chi und progressive Muskelentspannung, oder das Abschalten in der Natur, der Sauna oder der Badewanne – jeder Mensch findet individuell seinen inneren Ausgleich. Wo fühlst du dich wohl und entspannt?
Externer Stress, wie etwa im Berufsleben, lässt sich häufig nicht vermeiden. Jedoch sollte versucht werden, diesen zeitlich zu begrenzen und die Häufigkeit des Auftretens zu minimieren. Wird bereits ein erhöhter Stresspegel empfunden, ist das aktive Einschieben von Entspannung und Auszeit umso bedeutender. Denn je weniger Belastungen wir haben, umso gestärkter ist unser Nervensystem und umso höher kann die Toleranz hinsichtlich des Tinnitus ausfallen.
5) Sei Aktiv
Auf dem Sofa liegen und sich vom Tinnitus dominieren lassen, das muss nicht sein. Eine aktive Gestaltung der Freizeit zum Beispiel mit Sport, sozialen Kontakten und Erlebnissen sorgt für Abwechslung und Ablenkung von den lästigen Ohrgeräuschen. Auch wenn es manchmal schwerfällt sich aufzuraffen, eine gesunde Aktivität, ob alleine, mit Familie oder Freunden, ist meist lohnenswert. Durch sie schwindet der Tinnitus im Bewusstsein.
6) Vermeide Lautlosigkeit
Manche Monos haben mir berichtet, dass ein stilles Umfeld kontraproduktiv für die empfundene Intensität der Ohrgeräusche ist. Je weniger Umgebungsgeräusche vorhanden sind, umso größer kann die Bühne der Wahrnehmung für den Tinnitus werden.
7) Bette den Tinnitus ein
Monotone Hintergrundgeräusche, wie etwa ein plätschernder Bach oder ein Regenschauer, werden von vielen als beruhigend und unterstützend wahrgenommen.
Der Klang eines eingeschalteten Ventilators zum Beispiel eignet sich besonders gut, um damit unliebsame Geräusche zu verdrängen. Der Effekt dahinter ist das sogenannte „Weiße Rauschen“, bei dem zeitgleich viele unterschiedliche Schwingungen innerhalb eines Frequenzbands (mit konstantem Leistungsdichtespektrum) emittiert werden. Die Farbanalogie des Namens stammt im übertragenen Sinne vom weißen Licht ab. Der optische Eindruck für Weiß entsteht durch die Überlagerung aller Spektralfarben. Auf einem Monitor wird diese durch die additive Mischung von rotem, grünem und blauem Licht gleicher Intensität generiert. Die Verwendung von breitbandigen Hintergrundgeräuschen hat jedoch nur Aussicht auf Erfolg, wenn diese angenehmer als der Tinnitus empfunden werden. So gibt es Betroffene, denen ein weißes Rauschen hilft, während andere eher ein sanfteres rosa Rauschen oder Naturgeräusche bevorzugen. Dabei sollte bei der Lautstärkeneinstellung darauf geachtet werden, dass das Gegengeräusch den Tinnitus nicht übertönt, sondern vielmehr einbettet. Dieser Ansatz fördert das Erlernen der Akzeptanz des Ohrgeräuschs. Bei Monos existiert zusätzlich eine qualitative Besonderheit, die einem bewusst sein sollte, wenn Erfahrungsberichte über die Wirksamkeit von Hintergrundgeräuschen gelesen werden:
Bei einem normal Hörenden wird der Tinnitus aktiv von zum Beispiel weißem Rauschen auf dem betroffenen Ohr eingebettet. Bei einem Mono können über das vom Tinnitus betroffene taube Ohr keine Umgebungsgeräusche aufgenommen werden. Die Hintergrundgeräusche werden somit über das gesunde Ohr erfasst. Die Wahrnehmungsseite des Rauschens ist somit eine andere als die des Tinnitus.
Dennoch lässt sich für einen Mono mit etwas Übung der Freiraum des Ohrgeräusches im Bewusstsein mit Rauschen einschränken. Übrigens gibt es inzwischen eine Vielzahl von Apps, mit denen ein weißes Rauschen abspielbar ist.
8) Nimm Unterstützung an
Die Akzeptanz des Tinnitus kann eine sehr hohe Herausforderung darstellen, die häufig erst durch einen längeren Verarbeitungs- und Gewöhnungsprozess lösbar ist. Der Weg ans Ziel muss dabei nicht alleine gegangen werden. Durch Gespräche mit Freunden, Familie und anderen Betroffenen kann das Thema reflektiert, Lösungsansätze gefunden und das Wohlbefinden gesteigert werden. Zusätzlich kann professionelle Unterstützung dabei helfen, dass der Weg zur Akzeptanz des Tinnitus weniger steinig ausfällt und schneller von einem selbst begangen werden kann. Hierzu gibt es eine Vielzahl von Möglichkeiten, zum Beispiel in Form von Selbsthilfegruppen, einer Reha oder psychologischen Therapieansätzen.
9) Technische Hilfsmittel
Der Einsatz eines Cochlea Implantats kann einem Mono helfen, den Tinnitus auf der ertaubten Seite zu reduzieren. Im Verlauf des Buches werde ich auf meine persönlichen Erfahrungen noch ausführlich eingehen.