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Fehlendes räumliches Hören

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Ein Klassiker: Ich befinde mich in unserem Haus und suche verzweifelt nach meiner Frau.

„Schatz, wo bist du?“

rufe ich.

„Hier!“

antwortet sie kurz und knapp.

Ein akustisch gesunder Mensch wird sich nun fragen, was ich mit dieser lapidaren Alltagssituation aufzeigen möchte. Ein Mono wird vermutlich schmunzeln und sofort nachvollziehen können, was ich mit diesem Beispiel thematisiere.

Für meine Frau war es früher selbstverständlich, dass ein knappes „Hier“ meine Frage nach ihrem Aufenthaltsort vollständig beantwortete. Die Information nach dem „Wo“ bedurfte dabei keiner ausgesprochenen Beschreibung für sie, sondern wurde unterbewusst durch die akustische Antwort selbst als gegeben vorausgesetzt. Man hört ja, aus welcher Richtung die Antwort kommt. Doch eine intuitive räumliche Zuordnung von Schallquellen funktioniert bei einem Mono nicht mehr wie bei einem Stereo. Die Folge in diesem Beispiel ist, dass ich ratlos aus der Wäsche schaue und meine Frage mit der Forderung nach einer Raumangabe wiederhole.

Doch woran liegt es, dass die räumlich Zuordnung bei einem Mono nicht mehr wie bei einem akustisch gesunden Menschen funktioniert? Kann ein Mono gar keine Schallquellen mehr räumlich einsortieren? Hierbei kann bei der Lokalisation zunächst zwischen Entfernungs- und Richtungshören differenziert werden.

Das Hören von Entfernungen

Mit den Augen kann der Mensch Entfernungen optisch beurteilen. Mit den Ohren lässt sich eher eine Abschätzung treffen. Möglich wird die akustische Beurteilung von Entfernungen unter anderem durch die Interpretation der Lautheit von Schallquellen. Fährt ein Auto auf einen Menschen zu, so klingt es zunächst anschwellend lauter.


Sobald das Auto passiert, wird das Geräusch bei konstanter Fahrt wieder leiser. Diese dynamische Zuordnung von

„laut = nahe“ und „leise = entfernt“

funktioniert nur dann, wenn wir wie im Beispiel ein bewegtes Geräusch haben, dessen Schallemission nahezu konstant bleibt.

Die zweite Möglichkeit besteht darin, dass wir das Geräusch bereits kennen und als Vergleich eine Referenzlautstärke mit einer Entfernung im Gedächtnis verknüpft haben. Hierbei besteht zudem die Möglichkeit für nahe Schallquellen die sogenannte spektrale Verteilung zu beurteilen. Je weiter ein Geräusch entfernt ist, umso dumpfer klingt es für uns. Dieser Effekt der sich verändernden Klangfarbe kommt dadurch zustande, dass hohe Frequenzen stärker von Luft absorbiert werden als tiefe Frequenzen.

Diese Mechanismen des Entfernungshörens funktionieren bei Monos nur mit Einschränkungen. Zur Beurteilung steht dem Gehirn ja nur noch der Höreindruck eines Ohrs und somit maximal 50 Prozent der natürlichen Informationsmenge zur Auswertung zur Verfügung. Die Lautheit und die spektrale Verteilung werden neben der Entfernung bei einseitiger Taubheit zusätzlich durch den bereits erörterten Kopfschatten massiv verändert. Das auditive Einschätzen von Entfernungen gelingt mir bestenfalls nur noch mäßig, wenn die Schallquelle nicht zu sehr auf der tauben Seite liegt. Zum Glück haben wir Menschen noch die optische Wahrnehmung, mit der auch ein Mono die Entfernung zu sichtbaren Schallquellen bestimmen kann.

Das Hören von Richtungen

Das Licht geht aus, Dunkelheit hüllt den Raum ein. Die Gespräche unter den Zuschauern im Saal verstummen und der Film im Kino startet. Los geht es mit einem wahnsinnigen Klangerlebnis in Dolby Surround. Von allen Seiten sausen Soundeffekte an meinem Kopf vorbei, Schüsse fallen, Kugeln fliegen von links nach rechts und ich höre Schritte einer fiktiven Person hinter mir. Mein Gehirn sagt mir, ich sitze mitten im Zentrum des Geschehens. Dabei spielt der visuelle Film auf einer zweidimensionalen Leinwand im Vordergrund.

Dieses Erinnerung stammt aus einer Zeit, als ich noch mit zwei akustisch gesunden Ohren meine Umwelt als Stereo wahrnahm (= binaurales Hören). Doch wie kommt dieser auditive Richtungseindruck bei einem Stereo zustande? Wie ist es nun im Vergleich als Mono?

Für die Fähigkeit der seitlichen Differenzierung, ob ein Geräusch von links oder rechts kommt, sind zwei Effekte verantwortlich.


1) Die Wegdifferenz

Befindet sich eine Schallquelle wie im dargestellten Beispiel exzentrisch, so trifft der Schall beim näher gelegenen Ohr zuerst ein. Das andere Ohr wird mit einer zeitlichen Verzögerung aufgrund einer längeren Wegstrecke erreicht. Diese winkelabhängige Weg- und somit Laufzeitdifferenz des ankommenden Schalls, wird vom Gehirn in eine Richtung interpretiert.

2) Die Pegeldifferenz

Bei höheren Frequenzen dominiert die Richtungszuordnung durch Auswertung der Lautstärkedifferenz zwischen beiden Ohren. Das Ohr, das der Schallquelle nahe gelegen ist, empfängt das Geräusch mit einer größeren Lautstärke als das im Kopfschatten befindliche Ohr. Denn auch bei einem Menschen mit einer gesunden auditiven Wahrnehmung wirkt der Effekt des Kopfschattens. Dieser tritt im Bewusstsein aufgrund des binauralen Hörens jedoch nicht hervor. Durch die Lautstärkedifferenz zwischen beiden Ohren ermittelt das Gehirn die Richtung der Schallquelle.

Für beide beschriebene Effekte des Richtungshörens ist also das binaurale Hören grundlegend. Somit sind weder die Laufzeit- noch die Pegeldifferenz für einen Mono nutzbar. Eine intuitive akustische Richtungszuordnung wie bei einem Stereo ist nicht mehr gegeben.

Die Folgen von fehlender akustischer Lokalisation

Regelmäßig passiert es mir, dass ich meinen Kopf bei Zuruf oder Ansprache erst in die falsche Richtung drehe, wenn ich die entsprechende Person nicht bereits erblickt habe.

Was in den meisten Fällen mit einem Schmunzeln erledigt ist, kann in bestimmten Situation aber auch zu einer Gefährdung werden. Das Hupen eines Autos, das Klingeln eines Radfahrers, das Geräusch eines heranfahrenden Lastwagens. Ohne intuitive akustische Lokalisation kann ich mich in solchen Situationen nicht mehr blind auf meine erste Einschätzung oder Reflexe verlassen.

Gerade in der Anfangszeit meiner einseitigen Taubheit war diese Einschränkung im Vergleich zu meinem Leben als Stereo stark spürbar. Die nachfolgende Grafik visualisiert die unterschiedliche Wahrnehmung.


Auf der linken Seite ist ein Mensch mit zwei funktionierenden Ohren skizziert. Dieser kann unterschiedliche Schallquellen lokalisieren, die symbolisch durch Dreieck, Kreis und Quadrat dargestellt sind. Durch das binaurale Hören ist die Person sogar in der Lage, sich bei Bedarf auf ein einzelnes Geräusch zu fokussieren. Dieses wird dann subjektiv lauter wahrgenommen als die anderen, störenden Umgebungsgeräusche. Diese Fähigkeit wird als „Cocktailparty-Effekt“ bezeichnet und setzt das binaurale Hören voraus.

Auf der rechten Seite ist die auditive Wahrnehmung eines Menschen mit einseitigem Hörverlust abgebildet. Die Schallquellen können nicht mehr intuitiv lokalisiert werden. Als Konsequenz werden die Geräusche überlagert wahrgenommen. Nur mit erhöhter Konzentration sind diese einzeln zu erkennen. Störgeräusche haben plötzlich einen signifikanten Einfluss auf das Verstehen. Je mehr Schallquellen vorhanden sind, umso größer werden die Überlagerungen des zweidimensionalen Geräuschbreis. Die Fokussierung auf einen einzelnen Gesprächspartner bei gleichzeitigen Umgebungsgeräuschen, zum Beispiel in einer Menschenansammlung oder neben einer belebten Straße, ist deutlich erschwert. Der Störgeräusch-Filter funktioniert nicht mehr. Zudem bewirkt der Kopfschatten, dass Geräusche von der tauben Seite (in der Abbildung das Dreieck) ohne technische Hilfsmittel kaum wahrgenommen werden können.

In den ersten Monaten meiner einseitigen Ertaubung hatte ich ein stark irritiertes und asymmetrisches Gefühl. Die komplette akustische Umwelt spielte sich direkt im Inneren meines gesunden Ohres ab. Keine Richtungen, keine Entfernungen, die Schallquellen saßen empfunden direkt in meinem Gehörgang. Inzwischen registriere ich diesen Zustand nicht mehr bewusst, da ich mich an die neue, beschränkte Sinneswahrnehmung gewöhnt und die alten Eindrücke nach und nach vergessen habe. Diese Aussage hört sich für einen Außenstehenden vielleicht hart an, aber das Vergessen empfinde ich in dieser Hinsicht für mich als Balsam für die Seele. Zudem empfand ich in den ersten Jahren nach meiner plötzlichen einseitigen Ertaubung einen Lerneffekt des Gehirns, nämlich sich auf die visuelle Lokalisation von Schallquellen zu verlassen. Dadurch ist die Anzahl der Fehleinschätzungen und Irritationen deutlich zurückgegangen. Das Gefühl, akustisch in einer Schachtel zu sitzen, da alle Schallquellen im gesunden Ohr empfunden werden, hat nachgelassen.

Tipps zum Umgang mit fehlender akustischer Lokalisation

Durch Drehung des Kopfs wirst du in manchen Situationen die Richtung eines konstanten Geräusches abschätzen können. Fokussiere dich dabei auf die sich verändernde Lautheit und Klangfarbe. Technische Hilfsmittel (wie ein Cochlea Implantat) können die akustische Lokalisation bei einem Mono verbessern.

Einseitige Taubheit

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