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Sechstes Kapitel In die Berge

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Ernüchtert schaute ich meine Gefährten an. Es schien, als würden wir das Rätsel nicht lösen können – ja, als würden wir nicht einmal das Rätsel finden.

Die Amerikaner schauten einigermaßen gelassen, sie bedauerten wohl nur, dass der spannende Spaß des Ratens und Vermutens vorüber war. Halef war sehr enttäuscht, vielleicht ein wenig wütend. Ich erkannte, wie er den Tschibuk fester packte, geradeso wie er gemeinhin den Griff seiner Kurbatsch drückte, wenn er zornig wurde.

Ich gab Galingré das Federmesser zurück und ging vom Fenster fort, um den Schreibtisch herum. Dabei drehte ich das Schmuckstück zwischen den Fingern, wiegte den Kopf, ohne einen klaren Gedanken zu fassen. Ich wusste nicht mehr weiter. Beinahe hätte ich das Goldfigürchen missmutig auf die Tischplatte geworfen, aber ich beherrschte mich und stellte die Ziegenminiatur sorgsam auf dem Holz ab. Dann trat ich einen Schritt zurück und musterte sie. Was hatte ich übersehen, was hatte ich nicht bedacht …

Hinter mir hörte ich, wie Halef von seinem Hocker aufsprang und neben mich trat. Er schnaufte und drohte mit dem Tschibuk.

„Verfluchte Hexe!“

Ich war froh, dass es uns als Gästen der Anstand verbot, im Hause Galingré unsere Waffen zu tragen, ich hätte sonst befürchtet, dass Halef den Revolver gezogen und mit dem Kolben auf das Goldfigürchen geschlagen hätte. Ich mochte es ihm nicht verdenken; und wenn ich auch selbst nicht impulsiv zu handeln pflege, so empfand ich doch ebenso eine gewisse Frustration, weil wir nicht weiterkamen. Der goldene Ziegenbock schimmerte im Licht und schien uns zu verhöhnen. Ich wäre kaum verwundert gewesen, wenn dieses kleine Ding plötzlich begonnen hätte, hämisch zu meckern. Aber es war nicht groß genug, um ein mechanisches Spielzeug zu sein, wenngleich ich zu bedenken hatte, dass dies das höhnische Gastgeschenk einer Hexe war …

Das mochte es sein!

In einer Eingebung fixierte ich das Schmuckstück und atmete tief ein. Ich kam mir ein wenig töricht vor, aber es war einen Versuch wert. Dann sagte ich laut und betont:

Wo in Montenegro?

„Ja, allerdings“, brummte Fontenoy, während Halef mich verblüfft anschaute. Er wusste, dass ich gemeinhin nicht laut denke oder gar Selbstgespräche führe.

Und dann geschah das Unglaubliche. Alle im Raum sprangen auf, schraken zusammen – allein ich war vorbereitet und trat einen raschen Schritt zurück. Mit einem fauchenden Knall verschwand das Schmuckstück und nur eine kleine Schmauch-wolke blieb zurück und ein wenig Ruß auf der Tischplatte.

„Hexenwerk!“, rief Halef.

„Bühnenzauber“, höhnte Fontenoy.

Wir standen um den Tisch herum und blickten auf den dunklen Fleck, der das polierte Holz verunzierte.

„Und nun?“, fragte Beecher mit dem Zigarillo zwischen den Zähnen. „War dies alles nur ein Scherz, und der Knalleffekt der abschließende Tusch? Ich hätte erwartet, dass die Hexe mehr im Sinn hat als Varieté und Vaudeville.“

Galingré zog sein Taschentuch hervor und wischte über den Rußfleck, bis die Tischplatte wieder glänzte. Dann starrte er darauf – und hob den Blick zur Zimmerdecke. Auch wir schauten nach oben.

„Doch kein Bühnenzauber“, brummte Fontenoy anerkennend und Beecher nahm den Zigarillo aus dem Mund.

Im weißen Putz der Zimmerdecke hatte sich eine dreizeilige Schrift eingebrannt – doch nicht nur dies: In den schwarzen Linien konnte man die dünnen Fäden schimmernden Goldes erkennen, die zweifellos die Überreste des zerplatzten Schmuckstücks waren.

„Das nenne ich ein Menetekel“, sagte ich. „Wenngleich es kein Schreiben an der Wand ist …“

Alle reckten die Hälse und betrachteten die seltsame Schrift. Und damit meine ich nicht deren Aussehen oder Entstehung, sondern vielmehr, dass die Schrift an sich seltsam war.

„Es ist aber kein Hebräisch“, erkannte Fontenoy.

„Und auch kein Aramäisch“, bemerkte Beecher.

„Ebensowenig ist es Akkadisch“, stellte Galingré fest, und zeigte damit, dass er sich in der Heiligen Schrift am besten auskannte.

„Meine Herren“, sagte ich daraufhin. „Dies mag zwar alles an die Ereignisse erinnern, von welchen im Buch Daniel zu lesen ist. Aber wir befinden uns hier nicht in Babylon, sondern in Skutari. Und auch wenn wir gestern vortrefflich gespeist haben, so ist Monsieur Galingré doch gewiss nicht der Herrscher Belsazar. Auch war es nicht die Hand Gottes, die feurige Buchstaben schrieb, sondern Hexenwerk, wie Halef so treffend bemerkte. Und auch wegen meines lieben Gefährten, der ein gläubiger Muslim ist, bitte ich doch, die Bibelstunde nicht auszuweiten.“

Die drei Männer schauten zu Halef hin und nickten vorsichtig.

„O Sihdi“, sagte daraufhin Halef. „Das ist ja sehr freundlich von dir. Aber ich fühle mich keineswegs verletzt oder beleidigt, wenn hier von dem anderen der großen Bücher gesprochen wird. Ich wäre sogar völlig gelassen, wenn auch noch ein Mann des jüdischen Glaubens zugegen wäre und von Tora und Talmud erzählte. Wir sind allesamt Menschen der Schriften und sollten uns vertragen.“

„Weise gesprochen, mein Halef“, lobte ich. „Der Dichter Lessing wäre stolz auf dich, dass du seinem Nathan gleichkommst, und sogar ohne als Parabel einen Ring zu bemühen …“

Nun schauten die drei Männer, die Amerikaner und der Franzose, wiederum mich an. Nun, das war verständlich, waren sie wohl alle in der Bibel bewandert, aber verständlicherweise nicht in deutscher Literatur und Dramatik. Ich gebe zu, dass ich dies so manches Mal bei meinen Äußerungen vergesse, denn ich habe dabei oftmals bereits meine deutschen Leser im Kopf, für die ich meine Abenteuer niederschreibe.

Nun aber stand etwas an der Decke von Galingrés Arbeitszimmer geschrieben, und dies mussten wir entziffern, denn es war zweifellos eine Botschaft von Qendressa.

Tatsächlich kam uns nun die Erfahrung zugute, und die Erinnerung an die früheren Abenteuer, die Halef und ich erlebt hatten. Und deshalb erkannten wir es auch beide zugleich, wobei Halef ein wenig rascher war, denn er schaute bereits wieder auf die Schrift, während ich von Lessing sprach.

„Sihdi“, sagte Halef also, „siehst du, wie die Schrift völlig verkehrt ist und deshalb so seltsam erscheint? Und an was erinnert dich das?“ Er lächelte wissend und schaute die drei Männer an.

„Meine Herren“, verkündte ich, „das Rätsel ist gelöst! Dort oben steht eine Botschaft in arabischer Schrift. Allerdings ist sie auf dem Kopf stehend in die Decke gebrannt worden und zudem noch spiegelverkehrt, läuft also nicht, wie es im Arabischen üblich ist, von rechts nach links, sondern wie unsere lateinische Schrift von links nach rechts. Kein Wunder, dass sie auf den ersten Blick so fremd erschien.“

Beecher nickte. „Wer hätte gedacht, dass auch eine magische Schrift oder deren Entstehung den Gesetzen des Letterndrucks gehorchen muss – nur umgekehrt …“ Er schüttelte den Kopf und Fontenoy drehte an einer seiner Schnurrbartspitzen.

„Nicht ganz“, erläuterte ich. „Dies hat eine spezielle Bewandtnis. Halef und ich haben vor zwei Jahren eine ähnliche Schrift gesehen, auf einer geheimen Botschaft, die wir abgefangen hatten, von Hamd el Amasat.“

Galingré knurrte. „Der schändliche Einbrecher mit den leuchtenden Augen.“

Fontenoy und Beecher sahen sich grimmig an.

Ich nickte. „Und dieser handelt im Auftrag der Hexe Qendressa. Beide haben sich wohl diese Spielerei erlaubt. Nicht, weil sie uns die Entzifferung der Botschaft schwer machen wollten, sondern weil wir uns daran erinnern sollten, mit wem wir es zu tun haben. Hamd el Amasat hegt noch immer einen Groll gegen uns.“

„Aber was steht nun dort?“, fragte Fontenoy.

Galingré, der als örtlicher Kaufmann Arabisch lesen konnte, begann zu buchstabieren.

Sa ila ni …“

„Rückwärts, Monsieur Galingré“, erinnerte ich.

„Ach, gewiss“, nickte er mit verdrehtem Hals. „In ali …“ Er blickte mich an. „Was ist das für ein Kauderwelsch? Halb serbisch, halb rumänisch!“

„Und türkisch noch dazu. Und die Worte sind durcheinandergeworfen“, rief Halef. „Ach Sihdi – wir wissen doch, was da steht!“

„Allerdings“, sagte ich. „Eine weitere Spielerei von Hamd el Amasat. Es ist die gleiche Botschaft wie damals: In pripeh beste la karanirwan chan ali sa panajir menelikde. – Aus den drei Sprachen übersetzt bedeutet es: Sehr schnell Nachricht in Kara Nirwan-Chan; aber nach dem Jahrmarkt in Menelik.“

Galingré machte eine unwirsche Geste. „Aber Menelik ist ein Ort am Pirin-Gebirge, an einem Nebenfluss der Struma. In Bulgarien, nicht in Montenegro! Und Kara Nirwan? Was nutzt uns der Hinweis auf ein Haus des Schut in Bulgarien?“

Ich stutzte. Und besah die Schrift noch einmal. Dann schaute ich Halef an, der mich betreten anblickte. Tatsächlich hatte sich die Geschichte wiederholt. Damals hatte ich mich bei der Entzifferung der Botschaft verlesen, was uns ärgerlicherweise auf eine falsche Fährte geführt hatte. Und nun war dies erneut geschehen! Zu meiner Verteidigung muss ich anführen, dass die Schrift an der Decke ebenso schlecht und schwer leserlich war wie jene damals auf dem verschmierten Zettel. Damals hatte ich Karanorman-Chan gelesen: „Haus im schwarzen Wald“, wo es eigentlich Karanirwan-Chan geheißen hatte „Haus des Kara Nirwan“; eben weil der Schut in Wahrheit Kara Nirwan hieß, was wir zum damaligen Zeitpunkt noch nicht wussten. Noch später hatte ich begriffen, dass mich das zusätzliche „n“ hätte stutzig machen müssen, denn das türkische Wort für Wald lautet orman und nicht norman. Doch damals suchten wir eben nach einem Ortsnamen und nicht nach einem Personennamen, weswegen ich meiner Lesart vertraute, auch weil ich durchaus an Schreibfehler oder Dialekte dachte.

Und nun hatte ich mich in meiner Eilfertigkeit verstiegen, weil ich zu wissen glaubte, was ich da las, ohne aber so akkurat zu lesen, wie es sich beim Entziffern einer Geheimbotschaft geziemte. Ich war enttäuscht von mir selbst! Und auch Halef verzog das Gesicht. Er hatte ebenfalls einen vorschnellen Schluss gezogen. Doch dann schaute er kühn und deutete auf die Schrift: „Wir haben uns von dem Hexenwerk blenden lassen. Dort steht nicht Karanirwan! Es steht tatsächlich Karaorman – schwarzer Wald.“

„Ein einzelner Buchstabe ist verändert“, stellte ich fest. „Das ist bedeutsam. Wir müssen genau hinschauen.“

„Dort, Sihdi“, zeigte Halef. „Im Wort Menelikde sind die Akzente sehr überzeichnet.“

Dies konnte nur eines bedeuten. Da die arabische Schrift keine Vokale verzeichnet, sondern nur kleine Hinweise zwischen den Konsonanten gibt, würde eine Überzeichnung der Akzente wohl bedeuten, dass die Vokale hier bedeutsamer waren.“

„Also E-e-i-e …“

„Bedenke, Sihdi, das ihr Europäer auch manchmal Menlik oder gar Melnik sagt …“

Das war es!

Ich hatte Halef einmal erzählt, dass mir ein Fehler bei der Niederschrift meiner Reiseerlebnisse unterlaufen war, weil ich mich allzu sehr auf die General-Karten von Friedrich Handke verlassen hatte, als ich einige Reiserouten nachprüfte.

„Also fällt ein E fort, jedoch die türkische Endung bleibt bestehen …“, sagte ich und wandte meinen Blick zu der Karte an der Wand.

„Zu einem guten Kartenleser gehört schon etwas …“, murmelte ich und streckte den Finger aus. Dann fuhr ich damit durch die Luft und zielte wie über den Lauf eines Revolvers, als ich eine Linie von Skutari aus in Richtung Montenegro zog. Ich querte den See in Längsrichtung und behielt die gerade Linie bei, als würde ein Vogel fliegen. Eine Krähe, um genau zu sein. Und dann beendete ich meine Bewegung, als meine Fingerkuppe auf die Stadt Zetinje zeigte, die am Fuße des Gebirges Lowtschen lag.

„E-i-e. Zetinje“, sagte ich.

„Ist das nicht etwas gewagt?“, fragte Fontenoy. „Eine Ortsbestimmung durch ein Buchstabenrätsel? Wie können Sie sich sicher sein, dass dieser Ort gemeint ist?“

„Und er ist nicht gerade klein“, gab Galingré zu bedenken. „Dort würde die Suche erneut beginnen – nach dem fraglichen Haus.“

„Nein, es ist Zetinje“, beharrte ich. „Oder vielmehr ein Haus im Gebirge Lowtschen, genauer, unter dem Gipfel des Jezerski Vrh.“

Ich schaute in die Runde. „Ich muss zugeben, dass die Dame Qendressa mich sehr gut kennt. Nicht weil sie eine Hexe ist und etwa Gedanken lesen könnte. Sie ist eine kluge Frau und weiß, dass ich mich für vielerlei Dinge interessiere. Und auf dem Gipfel des Jezerski Vrh befindet sich das Grabmal des Radivoje Tomov Petrowitsch, der als Petar II. Petrowitsch-Njegosch Fürstbischof von Montenegro war.“

„Sie interessieren sich auch für Kirchengeschichte?“, fragte Fontenoy.

„Wenn es nötig ist“, gab ich zurück. „Aber noch näher liegen mir freilich all die Dinge, die mit meiner eigenen Profession als Schriftsteller zu tun haben. Petrowitsch-Njegosch war auch ein bedeutender serbischer Dichter. Er setzte sich für die Freiheit der Serben von der osmanischen Herrschaft ein. Das dürfte Qendressa gefallen, da auch sie für die Freiheit der Skipetaren kämpft.“

„Bist du dir da sicher, Sihdi?“, fragte Halef mit skeptischer, doch auch etwas besorgter Miene.

„Nun ja, Halef“, gab ich zurück. „Ich will durchaus nicht die Serben mit den Skipetaren vergleichen. Und vielleicht war das Befreiungsstreben der Dame ohnehin nur eine Finte.“

„Nein, Sihdi“, sagte Halef. „Ich fürchte, der Hexe gefällt es, dass auf dem Berg ein toter Dichter begraben ist. Nicht, dass sie dort noch einen zweiten Schreiber begraben möchte …“

Natürlich hatte Halef Recht. Es konnte auch eine Falle auf uns warten. Doch dieses Risiko musste ich eingehen. Zumal ich ahnte, dass die wahre Gefahr nicht unbedingt von Qendressa drohte. Doch das würde ich ergründen, wenn wir an jenem Ort angelangt wären. Und dazu mussten wir schleunigst aufbrechen. Über unser langwieriges Rätselraten und Dechiffrieren von Botschaften war der Mittag herangekommen. Wir wollten noch einmal die Gastfreundschaft der Galingrés in Anspruch nehmen, zumal Abdi sich angeboten hatte, aus Dank ein Mahl zu bereiten – oder vielmehr zwei: eines für die Gastgeber und uns, und eines für die Bediensteten, inbegriffen der Köchin.

Ich will nun nicht erneut all die Köstlichkeiten und wohlschmeckenden Dinge aufzählen, die gereicht und angerichtet wurden. Zum einen muss ich die Küchenkünste Abdis nicht erneut darlegen, zum anderen will ich ihn nicht stets als Koch darstellen. Schließlich hatte er sich in der vergangenen Zeit und während der überstandenen Abenteuer zu einem tapferen Reisegefährten gewandelt. Und zu einem Mann, der nach Vergeltung suchte. Es ist mir wichtig, dass ein solcher Mann als ernsthafter Mensch angesehen wird, und nicht als einer, der nur den Kochlöffel schwingt, selbst wenn dies durchaus ein ernsthaftes Unterfangen ist.

Nun, und zum dritten möchte ich meinen Lesern zuliebe nicht erneut eine Speisenfolge wiedergeben und Kulinaria referieren – auch mich drängte es zu Tat und Abenteuer. Zwei Tage in einem gastlichen, gemütlichen, bequemen Haus waren mehr als genug.

So war es also ausgemacht, dass wir nach dem reichen Mahl in die Sättel stiegen – nicht allein um unsere Reise anzutreten, sondern um auch jeglicher Schwere von Gliedmaßen, Mägen und vor allem Köpfen durch raschen Ritt in frischer Luft entgegenzuwirken. Bevor wir zu Tisch gegangen waren, hatten wir alles gepackt und bereitet. Jetzt blieb noch der herzliche Abschied. Wir dankten und wünschten alles Gute – den Herrschaften Galingré und ihren Hausbediensteten wie auch den Amerikanern, die sich mit dem Skipetarenfürsten auf den Weg nach Venedig machten. Wir versprachen uns wechselseitig, bald voneinander hören zu lassen. – All dies mag ein wenig nach Wehmut klingen. Und doch war es ein heiterer Abschied, denn wir hatten allesamt wichtige Aufgaben vor uns.

Die Sonne stand noch hoch, als Abdi, Halef und ich aus Skutari hinausritten. Seltsamerweise fühlte ich eine gewisse Bedrückung. Ich schaute zu den verfallenen Mauern der Feste Rozafa hinauf. Zur Entstehung der Burg gab es, wie zu vielen Burgen, eine Sage. Diese hier erzählte von den vergeblichen Baubemühungen, und dass die jede Nacht einstürzenden Mauern zu einer abergläubischen Tat führten: Eine junge Frau wurde eingemauert. Ob dies jenen wahren Kern darstellte, den jede Ortssage besaß, sei dahingestellt. Die drei Brüder, welche die Burg erbauen ließen und aus ihren Ehefrauen wählen mussten, schienen mir in ihrer allzu symbolischen Zahl doch eher eine Erfindung. Was jedoch nicht von der Hand zu weisen war: All der Opferzauber hatte die Burg nicht davor bewahrt, in vielen Schlachten belagert, umkämpft und eingenommen und dabei immer weiter zerstört zu werden, bis zum heutigen, bejammernswerten Zustand. Und noch ein weiteres Bauwerk sah ich mit anderen Augen als zuvor: Die einstmals prächtige Moschee, die nach ihrer mit Blei gedeckten Kuppel die Bleimoschee genannt wurde, hatte ebenfalls gelitten, wenngleich nicht durch Feindeshand, sondern durch die Anfeindungen der Natur. Vor einigen Jahrzehnten hatten sich in dieser Gegend gleich zwei Erdbeben ereignet, und durch die Erschütterungen des Grundes hatte einer der Flüsse um Skutari seinen Lauf verändert: Der Drin floss daraufhin nicht mehr ins Meer, sondern in die Buna, und seitdem ereigneten sich im Umfeld, besonders aber in einigen Vierteln der Stadt selbst immer wieder schwere Überschwemmungen. Und die Bleimoschee wirkte dann weniger wie ein heller Ort des Glaubens und der Besinnung, sondern wie ein düsteres Wasserschloss, in dessen Mauern die Bewohner durch die Fauldünste der schlammbedeckten Umgebung dem Wahnsinn anheimfallen mochten.

Wie gut, dass ich aus diesen finsteren Gedanken gerissen wurde! Eine Schar Kinder, wohl aus einer der italienischen Schulen, lief lärmend an uns vorüber. Einige der Knaben schauten neugierig zurück, wobei ich nicht zu sagen vermochte, ob sie auf die ihnen fremdartigen Gewehre schauten, die ich mit dem Henrystutzen und dem Bärentöter bei mir führte, oder doch auf den schlaksigen Abdi auf seinem Maultier. Dieser war ja eine sehr auffällige Gestalt und hatte früher für Erheiterung unter den Passanten gesorgt, weil er zwei sehr ausgeprägte Ohrmuscheln an seinem Schädel besessen hatte. Seit allerdings die Hexe Qendressa ihm eines dieser Ohren abgetrennt hatte, war einiges verändert. Man hätte nun annehmen können, dass ein Gesicht mit nur einem einzelnen großen Ohr ein noch komischerer Anblick wäre – und doch war das Gegenteil der Fall. Es war nun so, dass dank der Heilkraft des geheimen Krautes, welches sich in Abdis Besitz befunden hatte, sich die Wunde ohne hässliche Narbenbildung geschlossen hatte. Dennoch trug Abdi noch immer eine schmale Lederbinde um Stirn und Hinterkopf, die an der Stelle des Ohrs einen größeren Flicken aus Leder besaß, mit einem Loch darin, welches von einem feinen Netz bedeckt war. Dies hatte Abdi sich von einem Kürschner fertigen lassen, welcher auch allerlei Arbeiten für die Familie Galingré besorgte. Abdi war der Ansicht, dass ihm niemand in den Schädel schauen sollte, was eine zugegebenermaßen seltsame Erklärung darstellte. Ich vermute aber, dass er Halef und mich damit foppen wollte, wie er ja ohnehin allzu gerne damit spielte, dass man ihn wegen seiner Gestalt für einen schlichten Menschen hielt. Ich nehme an, Abdi wollte mit der Lederbinde seinem Aussehen eine markante Note hinzufügen, was ihm auch durchaus gelang. Denn diese Ohrenklappe erinnerte frappant an die Augenklappe eines Freibeuters oder Bukaniers, wie man sie aus den Schriften zum karibischen Piratenwesen des vorigen Jahrhunderts kennt, welche die Herren Dampier, Exquemelin und Captain Johnson verfasst haben. Dies mochte natürlich nur mir auffallen; die Buben auf den Gassen Skutaris beeindruckte wohl eher der grimmig entschlossene Gesichtsausdruck, der zu Abdis Gestalt in solch augenfälligem Gegensatz stand. Und diese Miene des braven jungen Mannes kam nun nicht von ungefähr. Er begleitete uns zum Bergversteck der Hexe, obgleich wir es ihm freigestellt hatten, vielleicht doch in Skutari zu verbleiben. Abdi war es im Gegensatz zu uns ja nicht gewohnt, sich Feinden und Widersachern zu stellen, noch weniger solchen, durch die er Schmerz und Schmach und Entführung erlitten hatte. Doch Abdi sann auf Rache. An seinem Gürtel trug er sein treues Küchenmesser, das er über Jahre kunstvoll genutzt und gewissenhaft geschärft hatte – bis die Hexe ihm damit das Ohr von der Schläfe getrennt hatte. Seitdem hatte er es nicht mehr gereinigt – an der Klinge haftete noch immer das Blut der scheußlichen Tat. Freilich hatten Halef und ich ihm gut zugeredet, waren auch ernst auf ihn eingedrungen, um ihn von seinem Vorhaben der Blutrache abzubringen, denn diese sei ein altertümliches und ungerechtes Unterfangen. Und sicher hatte Abdi uns versprochen, die Hexe nicht zu töten, wie er es sich im ersten Schmerz und der Wut geschworen hatte. Aber er wollte ihr von Angesicht zu Angesicht entgegentreten, um ihr und sich zu beweisen, dass sie ihn nicht geschlagen hatte.

Und zudem hatte er ein Recht, mit uns gemeinsam die Informationen zu erhalten, die zum Sturz des Schut-Reiches führen würden, denn schließlich war der Schut es gewesen, der Abdi hatte entführen lassen, wegen der Heilkraft des zauberischen Kräutleins aus dem Besitz der Familie Machaon, deren Sohn Abdi war.

Ein weiterer Grund für Abdis Begleitung war auch dadurch gegeben, dass er schon einmal durch diese Gegend gereist war. Als junger Bursche hatte er sich im Gefolge des Sultans Abdülaziz befunden, als dieser mit seinem Neffen Prinz Abdül-hamid Europa bereiste. Abdis Onkel war ein Koch des Prinzen und so hatte Abdi sowohl Wien als auch London erlebt. Es hat nun etwas Seltsames, mit einem jungen Türken Richtung Österreich zu ziehen, doch waren hier nicht der Ort und die Zeit für Scherze, denn diese unsere Reiserichtung nach Zetinje barg tatsächliche Gefahren.

Ich wurde mir dessen besonders bewusst, als ich auf unseren letzten Schritten in Skutari – den Schritten unserer Reittiere, wie ich ehrlicherweise konkretisieren muss – einige Männer in der Tracht katholischer Geistlicher sah. Vor eineinhalb Jahrzehnten wurde nämlich in der Stadt ein Seminar der Societas Jesu, also der Jesuiten, begründet, und vor nicht einmal fünf Jahren ein theologisches Gymasium, das unter Obhut des Ordens der Franziskanermönche stand. Dies waren Bestrebungen des katholischen Kaiserreichs von Österreich-Ungarn, hier am äußersten nordwestlichen Ende des Balkans, dort wo sich Orient und Okzident treffen, ihren Einfluss sowohl in Glaubensdingen als auch in Machtfragen zu bestärken. Von der mehrheitlich muslimischen Bevölkerung Skutaris wurde dies verständlicherweise nicht gern gesehen, wenngleich wohl weniger aus religiösen als vielmehr monetären Gründen, denn man vermutete, dass die Geistlichkeit sich allzusehr auch in den Handel einmischte. Davon hatte mir Galingré berichtet, den dies als Kaufmann einleuchtenderweise sehr betraf. Mich beunruhigte unsere Expedition nach Zetinje weniger unter merkantilen oder missionarischen Gesichtspunkten als vielmehr der Politik und des Krieges wegen.

Denn in diesem Gebiet begann jenseits der Berge, mit den Hafenstädten Kotor und Herzeg-Novi, die an der Bucht von Kotor liegen, mit dem Königreich Dalmatien das österreichische Kronland. Ich habe nun immer wenig auf Ländergrenzen gegeben, noch weniger auf Ansprüche von Kaisern und Königen. Mir waren stets die Menschen der Länder wichtig, gleich unter welchem Herrscher sie lebten, solange sie es nur ruhig und friedlich tun konnten. Aber wenn die Landeskinder hin- und hergezerrt wurden, dauerte mich dies.

Sicher hatte es den sogenannten Ausgleich zwischen Österreich und Ungarn gegeben, vor nicht einmal einem Jahrzehnt. Und auch den Ausgleich zwischen Ungarn und Kroatien. Einst gab es das Dreieinige Königreich von Dalmatien, Kroatien und Slawonien, das noch von Kaiserin Maria Theresia ausgerufen wurde. Aber vor zwei Jahren wurde die Militärgrenze zwischen Kroatien und Slawonien aufgelöst und weite Gebiete wurden unter die Verwaltung des Hofskriegsrats in Wien gestellt. Dies mag meine Leser ebenso verwirren wie mich. Aber wichtig war nur eines: In diesem Gebiet, mit seinen verschwimmenden, ja flatternden Grenzen, hatte mein Passierschein, mein Ferman des Sultans, der mich bislang vor allen Unbilden der Zuständigkeiten und der Verwaltungen hatte verschonen können, keine Wirkung mehr. Hier endete das Osmanische Reich – aber leider nicht an einer deutlich sichtbaren Linie. Und selbst jene, die mit roter Tinte auf Karten verzeichnet waren, wurden oft genug missachtet. Dies mochte nun bereits einige Unannehmlichkeiten für Untertanen des osmanischen Herrschers darstellen, also Türken und Araber, wie Abdi und Halef es waren – insbesondere Abdi, denn die Erinnerungen an die beiden Belagerungen Wiens durch die Türken vor rund dreieinhalb und knapp zwei Jahrhunderten nagten noch immer am Stolz der Österreicher. Aber ich war nun einmal Deutscher, und da gab es zwischem meinem Volk und jenem der austrischen Berge und Ebenen eine Schmach, die wesentlich jünger war. Und deshalb wäre ich, wenn ich als Deutscher erkannt würde, von etwaigen Österreichern nicht gut gelitten. Denn vor nicht einmal zehn Jahren hatte das Königreich Preußen, welches nun die Hauptmacht im deutschen Kaiserreich darstellte, in der Schlacht um Königgrätz die Macht der k.u.k.-Monarchie mit Geschützen und Gewehren gebrochen.

So wenig ich nun meine deutsche Herkunft verleugnen mochte – es wäre wohl besser, wenn mich in dieser Gegend niemand als einen Deutschen erkannte. Zumal man mich auch noch für einen Preußen halten würde, wo ich doch stolzer Sachse bin.

Ich bereitete meine Gefährten also darauf vor: Sollten wir in jener Gegend die deutsche Sprache vernehmen – besonders mit dem österreichischen Zungenschlag, den Abdi ja durchaus zu erkennen vermochte –, mussten wir auf der Hut sein. Und keinesfalls sollten meine orientalischen Freunde lauthals verkünden, dass sich meine Landsleute näherten.

Dies sorgte bei Abdi und Halef für Verwunderung und Verständnis zugleich. Mochten Araber und Türken einander fremd, ja manchmal verhasst sein, wegen der unterschiedlichen Kultur und Sprache, aber auch wegen und nicht etwa trotz einer einzigen Regierung – weil diese den einen aufgezwungen war –, so verhielt es sich zwischen Deutschen und Österreichern eben ganz anders und doch wieder gleich: Jene waren in Kultur und Sprache ähnlich, beherrschten einander nicht – waren sich aber dennoch fremd.

„Armer Sihdi“, bemerkte Halef. „Und dann trägst du auch noch jenen Vatersnamen, der dich eigentlich zu einem Austria-ken macht … Willst du vielleicht, dass wir dich für diese kurze Zeit unserer Reise etwa anders nennen?“

„Aber nein, mein Halef“, entgegnete ich, „es ist vielleicht ganz trefflich, dass Nemsi eigentlich Österreicher bedeutet. Je nach Gelegenheit oder Gegenüber kann ich mich ja darauf berufen. Mir ist es zwar fremd, falsche Namen anzunehmen, denn dies ist unlauter. Aber wenn die Umstände dazu zwingen, mag es mit dem Gewissen und dem Gerechtigkeitsempfinden vereinbar sein.“ Ich schaute Halef an und überlegte kurz. „Nötigenfalls soll mein Name also Kara Omar lauten, wenn du nichts dagegen hast.“

„Wir sollen also tun, als seien wir verwandt?“, fragte Halef erstaunt.

„Nun, dies nicht unbedingt“, gab ich zurück. „Aber es mag auch nicht schaden.“

Abdi musterte uns. „Nun, ich finde zwar nicht, dass die Herren sich ähnlich sehen, aber es ist eine Möglichkeit.“ Abdi stutzte. „Klingt aber Kara Omar nicht etwas zu sehr nach dem Ort, zu dem wir reisen? Kara Orman?“

Ich lächelte. „Ein Kampfname für einen kleinen Feldzug. Warum nicht? Jeder Name hat eine Vorbedeutung, wie ein altes römisches Wort sagt.“

Halef zog die Nase kraus. „Ich weiß nicht, Sihdi. Das Omen, welches du beschwörst – du siehst, ich habe mir den Begriff der Latini gemerkt, denn du fügst solcherlei Dinge sehr oft in deine Rede ein – dieses Omen also könnte auch übles Kismet bedeuten.“

„Nicht doch Halef“, bat ich. „Du solltest nicht unken. Wir sollten guten Mutes sein, dann liegt das Schicksal auch in unserer Hand.“

Für unseren Weg nach Nordwesten wählten wir eine Route entlang des Seeufers. Es war wohl nicht das Übelste, vor dem Einritt ins Gebirge noch ein wenig Atem in den Niederungen zu schöpfen. Allerdings begleiteten uns die Berge bereits, denn linker Hand zogen sich die emporragenden Felsen der Rumija entlang, und jenseits dieser Höhen lag das Meer.

Wir genossen jedoch den Seeblick, während wir mal näher, mal ferner von der Wasserlinie entfernt die Straßen und Wege beritten und Siedlungen und Dörfer passierten. Die Pelikane des Sees schmausten von den Wasserfröschen, welche des Abends ihr klagendes Lied anstimmten. Und als Halef sich über den Lärm beklagte, gab ich Abdi durch einen Wink zu verstehen, dass er hier keine kulinarischen Andekdoten anbringen sollte. Denn würden wir irgendwann wieder einmal bei den Galingrés einkehren, würde Halef, so glaubte ich, keinen Bissen aus der französischen Küche mehr anrühren.

Um davon abzulenken, berichtete ich von den Eigentümlichkeiten dieser Gegend, vor allem des Sees. Dieser ist zwar ein flaches Gewässer, aber gerade ein solches braucht eine regelmäßige Wasserspeisung, welche hauptsächlich durch die Moratscha erfolgt, den Fluss, der sich im Norden durch die Ebene bewegt, in welcher die Stadt Podgoritza liegt. Es ist aber auch so, dass der See von Skutari einige Quellen besitzt, die sich unterirdisch oder eher unterseeisch befinden. Diese Karstquellen sind sehr tief und führen frisches Wasser in den See empor. Sie werden oka genannt, was Augen bedeutet, und dies ist ein recht eigentümlicher Name für eine Quelle. Man kennt durchaus eine solche Bezeichnung für kleine Bergseen, eben weil sich in ihnen der Himmel spiegelt, wie er es in einem menschlichen Auge tut, aber für Wasserlöcher in einem Seegrund ist es doch eigenartig.

Halef, der Sohn der Wüste, seufzte. „Ach Sihdi, was für ein gesegnetes Land, in dem es sogar Oasen in den Seen gibt! Allah, der Allmächtige und All-Erbarmer, will seine Glaubenskinder in ihren Heimatländern durchaus prüfen, indem er die Gabenorte des Lebenswassers nur spärlich verteilt hat.“ Er wischte sich über den Augenwinkel. „Aber es gibt noch größere Wunder als dieses, wo süßes Wasser in süßes Wasser quillt. Ich habe davon in einem Bericht gehört, und damit erklärt sich deine Frage nach den Augennamen und zeigt sich zugleich erneut die Güte und Würde Allahs. Es ist nämlich so, dass es an der Küste von Abessinien, das ist ein Königreich in Afrika, jenseits des Meeres, welches man das Rote nennt, eine Grotte gibt. Diese liegt zwischen dem dürren Land und der salzigen See, also ein Ort, der scheußlich ist für alles menschliche Leben. Und dennoch springt in dieser Grotte ein herrlicher Quell aus dem Fels, eben damit sich die Menschen erquicken können. Denn es war so, dass einst Allah vom Himmel blickte und diese feindliche Gegend erblickte, was ihn sehr dauerte, worauf er eine einzelne Träne vergoss. Diese fiel in die Grotte und wurde zu jener Quelle. Und deshalb heißt sie bis heute ‚die Träne Allahs‘.“ Halef schaute mich nickend an.

„Eine schöne Geschichte, Halef“, lobte ich. „Anrührend und erbaulich. Ich gebe zu, dass ich so manches Mal gar zu realistisch denke. Aber das liegt nun einmal daran, dass ich kein Dichter bin, sondern Reiseschriftsteller. Ich freue mich sehr, dass ich in dir einen Gefährten habe, der ein so romatisches Herz besitzt und den Sinn des Orientalen für Poesie!“

„Danke, Sihdi“, sagt Halef. „Das bedeutet mir wirklich einiges, so etwas aus deinem Munde zu hören …“ Er schaute zum Ufer des Sees hinüber. „Vor allem, wenn sonst nur das Quaken dieser Untiere in meinen armen Ohren klingt.“

Auch wenn Halef mich mit dieser Anekdote daran erinnert hatte, dass ich mit zwei muslimischen Gefährten durch ein Land ritt, das unter der Herrschaft des Sultans stand, so konnte ich doch mit eigenen Augen sehen, dass hier der Orient zu enden begann, wie ich bereits zuvor angemerkt hatte. Offenkundig lag dies an der Tatsache, dass immer mehr christliche Gotteshäuser statt islamischer Moscheen zu sehen waren. Doch das Gefühl, das sich mir mitteilte, rührte nicht von der Konfession dieser sakralen Bauten her, und auch nicht davon, wie sehr sie von Gläubigen besucht wurden oder ob sie überhaupt noch intakt und brauchbar waren oder schon verfallen. Wenngleich – dies war wohl der Punkt! Es verhielt sich so: Als wir am Ufer des Sees von Skutari entlangritten, passierten wir einige der kleinen Inseln, die sich unweit aus dem Wasserspiegel erhoben. Und diese Inseln waren zwar nur niedrig bewachsen, aber auf dem Grund erhoben sich die Mauern von Kirchen und Klöstern, die vor über vierhundert Jahren, noch vor der osmanischen Eroberung, dort erbaut worden waren. Und es mag seltsam erscheinen, aber der Anblick der steinernen Bauten im schimmernden See, welche an unserer Seite langsam vor uns auftauchten, uns scheinbar begleiteten und dann wieder hinter uns verschwanden, während wir vorüberritten, erinnerte mich an die Umkehrung dessen, was man auf einer Rheinpartie erfahren würde, während der man an den alten Burgen der mittelalterlichen Herrschergeschlechter vorbeiglitt, die jedoch hoch über den Köpfen auf den Felsen des deutschen Stromes thronten. Es mag wohl sein, dass ich doch über eine romantische Ader verfügte, und es schien das Blut, welches durch jene pumpte, doch unleugbar mit meinem Heimatland verbunden zu sein. Aber ich will nicht sentimental werden. Da sich kein Felsen aus dem Skutari-See erhob, auf dem eine Lorelei des Balkan ihr güldenes Haar kämmte, wie es der Dichter Heine für den Rhein besungen hat, und weder eine Seejungfrau nach Andersen, noch eine Undine nach Fouqué sich zeigte, ja, nicht einmal eine slawische Rusalka – so konnte ich ganz nüchtern einen Fakt bemerken, der mir mehr das Herz erhob als Märchen und Phantasterei. Auf der Insel Startschewa Goritza steht ein Kloster, vor dessen Kirche sich das Grab eines verdienten Mannes befindet, namentlich Boschidar Vukowitsch, welcher der erste Buchdrucker war, der Werke in slawischer Sprache in die Letternpresse gab. Er lebte und arbeitete in Venedig, das vor drei Jahrhunderten sozusagen das Mekka der Druckkunst war und von wo schöne und gefällige Schriftarten herrühren, in denen noch heute gut lesbare Bücher gesetzt werden. Vukowitsch starb in Italien, aber es war sein Wunsch, in seiner Heimat beigesetzt zu werden. Ich will nun nicht an das Unvermeidliche denken, welches hoffentlich noch viele Jahrzehnte in der Zukunft liegt, aber auch ich habe vor, obgleich ich durch die halbe Welt gereist bin und mich an vielen Orten zuhause fühle, mich irgendwann nirgendwo anders zur letzten Ruhe betten zu lassen als in Sachsen. Wenngleich ich mir mein Grabmal nicht in serbisch-orthodoxer Architektur vorstellen möchte, vielleicht doch eher klassisch-griechisch …

Doch dann schüttelte ich die Grabgedanken von mir und richtete meinen Blick nach vorn – auf die Berge, in denen die Hexe Qendressa auf uns wartete.

Der Sturz des Verschwörers

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