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Viertes Kapitel Nächtliche Visite

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In dem Raum, welcher mir und Halef als Gästezimmer diente, standen ein einzelnes Bett und an der gegenüberliegenden Wand ein Diwan. Die Gastgeber hatten mir die prächtige Bettstatt zugeeignet, deren Giebel, also die hochaufragenden Paneele von Betthaupt und Fußstück, reich und geschmackvoll mit Schnitzwerk verziert waren. Ich war allerdings froh, dass das Bett keinen Himmel besaß, weder einen kleinen am Kopfende und schon gar keinen mit vier Pfosten, denn auch wenn ich ein gutes Bettzeug zu schätzen weiß und mein Haupt auch gerne auf ein Federkissen bette, so bin ich doch der Ansicht, dass man den Luxus eines Bettes doch daran messen sollte, was man spüren kann, denn im Schlaf schaut man nicht umher.

Den Diwan sollte Halef als Ruheplatz nutzen, und er hatte diesen auch höflich angenommen. Als wir uns aber zum Schlaf begaben, nahm er die Decken und Kissen und richtete sich ein Lager auf dem teppichbedeckten Parkett ein.

„Ihr Europäer“, urteilte er mir gegenüber, „mögt ja gern wie im Himmel schlafen, hoch über der Erde und auf künstliche Wolken gebettet. Wir Orientalen aber sind viel lieber der Erde nah, dort, wo unser Platz zu Lebzeiten ist. Und da wir genau wissen, dass wir durch unsere Taten und Allahs des Barmherzigen Güte dereinst in den Himmel kommen, brauchen wir nicht jede Nacht einen Vorgeschmack darauf, wie ihr, die ihr euch anscheinend des Paradieses nicht so sicher seid …“

Es war nach dem köstlichen, ausgiebigen Mahl gewesen und dem langen, heiteren Abend, als Halef dies, satt und müde, vor sich hinbrummte. Ich nickte, als ich mich der Stiefel entledigte, und war zugegebermaßen ein wenig zu mundfaul, um ihm etwas zu entgegnen. Schließlich wusste Halef genau, dass nicht alle Europäer auf weiche Polster gebettet schlafen können und dies ohnehin nicht aus metaphysischen Gründen geschieht. Und dass ich sogar vermag, auch ohne Kissen und Teppiche auf dem nackten Boden zu schlafen, ist Halef nur zu gut bekannt. Nun, er redete eben so vor sich hin, wie es seine Art ist. Dann und wann schaute er zu mir herüber, genauer, an mir vorüber. Ich glaube, dass er aber nicht das geschnitzte Betthaupt beschaute, sondern das Gemälde, das darüber an der Wand hing. Ich hatte dem etwas süßlichen Motiv, das eine galante Szene aus dem Rokoko zeigte, nur wenig Beachtung geschenkt: zu viele Farben, zu viele Schnörkel und Blumen für meinen Geschmack. So kann ich auch nicht sagen, ob es überhaupt ein Gemälde war oder nur eine sehr gute Farblithografie. Zudem war die Lampe schon niedrig gedreht und das Licht gedämpft.

Schließlich streckte ich mich auf dem Leinenlaken aus und zog mir behaglich die Bettdecke über die Brust – denn trotz des Sommers war es in Skutari dank des nahen Sees und der Berge angenehm kühl. Ich streckte den Arm aus und löschte die Lampe.

„Gute Nacht, Halef“, sagte ich ironisch. „Träume süß vom Paradies und dessen Schönheiten.“

Halef murmelte etwas, aber ich verstand es nicht mehr, denn auch ich war sogleich eingeschlafen.

Dann geschah der nächtliche Überfall.

Anschließend hätten wir auch bis zum Morgengrauen wachen können, doch der kluge Abenteurer nutzt die Gelegenheit zum Schlaf, wann immer sie sich bietet, um Kraft für den nächsten Tag zu schöpfen. Wir hatten die Galingrés und auch ihre Bediensteten soweit beruhigt und ihnen versichert, es drohe keine weitere Gefahr, sodass auch Kutscher, Gärtner und Köchin wieder zu Bett gingen. Diese hatten zunächst Wache schieben wollen – was wir als Gäste und gestandene Männer jedoch nicht hatten zulassen können: Wir wollten keinen übermüdeten Haushalt erzeugen. Ob aber die guten Leute trotz dieser Ereignisse in den Schlaf würden finden können, lag nicht in unserem Ermessen. Wir hingegen, die wir das extreme Wechselspiel zwischen Aufregung und Ruhe nur zu gut kannten, vermochten rasch wieder zu schlummern. Aber süß und entspannend war dies wohl nur für Halef. Ich selbst wurde erneut geweckt, wenngleich ich nicht zu sagen vermag, ob ich tatsächlich wach war oder träumte.

Es war deutlich vor Morgengrauen, als ich unvermittelt erwachte. Ich blieb zunächst still und reglos liegen und lauschte. Dies ist meine Gewohnheit, die ich mir über Jahre und Jahrzehnte des Schlafens im Freien angewöhnt habe und auch nicht in behaglichem Quartier ablegen kann. Ich prüfte also, ob ich etwas hören oder einen anderen Hinweis darauf erhalten konnte, was mich geweckt haben mochte. Doch es war und blieb still. Dies war seltsam. Ich schaute zu den Seiten und wandte dann behutsam den Kopf. In der Dunkelheit des Zimmers konnte ich die Pendeluhr auf der Kommode nicht erkennen, aber ich vernahm auch nicht deren leises Ticken, welches Halef – wer hätte dies geahnt? – trotz des ungewohnten Klangs und Taktes als sehr beruhigend und durchaus schlaffördernd empfunden hatte. Auch Halefs Schnarchen konnte ich nicht hören, aber ich hatte dann und wann bereits erlebt, dass mein wackerer Holzarbeiter, der manches Sägewerk des sächsischen Erzgebirges übertönen konnte, eine geräuschlosere Schlafposition eingenommen hatte.

Möglicherweise war Halef aber auch einem Bedürfnis gefolgt und hatte das Zimmer verlassen, obwohl ich sein Aufstehen und den Gang zur Tür eigentlich hätte bemerken müssen. Ich wandte den Blick wieder nach vorn. Meine Augen hatten sich an das schwache Licht gewöhnt, das durch Fenster und Vorhänge in das nächtliche Zimmer fiel. Ich sah auf das Fußbrett am Ende des Betts, erinnerte mich daran, dass ich somit weder den Diwan erblicken konnte noch Halef, der davor sein Lager bereitet hatte. Bevor ich mich aber aufstützen und halb erheben konnte, richtete ich den Blick auf die Kante des Fußbretts und – erschrak. Ja, ich erschrak, denn diesen Anblick hatte ich nicht erwartet.

Ich sah die Zehen zweier schlanker Füße, die sich auf die schmale Kante stützten. Allein mit den Ballen fanden sie Halt, die Sohlen und Fersen schwebten dahinter im freien Raum jenseits des Bettgestells.

Hastig richtete ich mich auf. Jemand hockte wie ein menschengroßer Vogel auf dem Fußbrett meines Betts. Es war eine Frau. Es war Qendressa, die Hexe.

Aber wie sehr hatte sie sich verändert!

Deutlicher, als es das Licht im Zimmer hätte erlauben dürfen, erkannte ich ihre Gestalt. Oder vielmehr das Gewand, welches ihre Gestalt verhüllte. Es war schwarz und floss über ihre Schultern an ihrem Leib hinab, fiel vorn bis auf den Spann der Füße und dahinter weit nach unten, wie die Schwanzfedern eines Raben. Auch ihre Arme waren von dem weit bauschenden dunklen Stoff verborgen, und auch hier schienen es nicht die Ärmel eines Kleids zu sein, die ich sah, sondern Rabenschwingen. Einzig die schlanken Hände zeigten sich bleich vor dem Schwarz, lagen locker, aber dennoch krallengleich auf den Knien der angewinkelten Beine, alles nicht erkennbar unter dem finsteren Gewand vor dem Hintergrund des finsteren Raums.

Qendressa schaute mich an. Ihre grauen Augen blickten stechend aus einem dunklen Abgrund hervor, den ein Rahmen aus tiefschwarzer Antimonschminke auf Lidern und Augenwinkeln hervorrief. Das lange, rabenfarbene Haar verdeckte halb ihre Züge. Diese selbst schienen härter und strenger als zuvor. Ich wunderte mich, wie in jener kurzen Zeit, seit ich die Hexe das letzte Mal gesehen hatte, aus den kurzen Locken ihres Kopfes diese wohl hüftlangen Strähnen hatten werden können. Aber die schärfer gezogenen Konturen ihres Gesichts und die kaum erkennbaren Fältchen ließen mich etwas ahnen. Die Hexe bemühte sich wohl nicht mehr, vermittels eines anstrengenden Zaubers den Schein der Jugend völlig zu wahren. Wie weniger zehrend die Magie sein mochte, wenn sie weniger fehlende Jahrzehnte vorzutäuschen hatte, wusste ich nun nicht, und ich hatte auch keinerlei Vorstellung von jener Hexerei. Es mochte jedoch einen Grund dafür geben, dass die Frau nun nicht mehr wirkte, als habe sie bislang gerade einmal zwei Jahrzehnte und ein halbes auf Erden gewandelt, wie es bisher den Anschein gehabt hatte. Nun schien sie älter, als ich selbst es war, um mindestens zehn Jahre. Und dieses Altern, geradezu über Nacht, würde auch erklären, warum ihr Haar bis zu dieser Länge hatte wachsen können. Ich glaubte nun auch, einige graue Linien im Schwarz zu erkennen, die von den Schläfen ausgingen, welche mir aber doch zu akkurat und schmückend schienen, als dass sie ganz natürlich sein konnten. Auch war ich mir nicht mehr sicher, ob die Schwärze um ihre Augen tatsächlich von orientalischer Kosmetik herrührte. Ich hatte bei dem Anblick wohl sogleich an das Vertraute gedacht, an die Gepflogenheiten der Frauen, wie es sie seit der Zeit des alten Ägyptens gab. Warum sollte die Hexe zu Tiegeln mit Augenschwarz und Lippenrot greifen? Zumal auch ihre Lippen dunkel wirkten und mich zusammen mit den dunkel umrandeten Augen eher an das Gesicht einer Raubkatze gemahnten, was zusammen mit dem vogelartigen verhüllten Leib und der Körperhaltung das Bild eines Fabelwesens ergab, halb Sphinx, halb Harpyie, und deswegen bedrohlich und bösartig erschien.

Wie zum Hohn öffnete Qendressa nun ihren Mund mit den weißen Zähnen und sprach mich äußerst sanft an.

„Sie sind nicht erschrocken, Kara Ben Nemsi“, sagte Qendressa. „Sie werden Ihrem Ruf gerecht.“

Es war mir also gelungen, meine erste, entsetzte Empfindung, die ich bei diesem nächtlichen, nachtmahrischen Anblick empfunden hatte, nicht auf meinem Gesicht aufscheinen zu lassen. Ich atmete tief und ruhig und spannte meinen Körper, da ich einen Angriff für möglich hielt. Mein Revolver lag unter dem Kopfkissen. Die Frage war, ob ich ihn rasch genug ergreifen könnte, bevor irgendein Hexenwerk gegen mich eingesetzt würde – und damit meinte ich nicht einmal tatsächliche Zauberei. Wenngleich ich davon ausging, dass die Hexe bereits irgendeine Form von Magie angewendet hatte. Sie musste bewirkt haben, dass ich das Ticken der Uhr nicht mehr hören konnte und auch keinen Laut von Halef mehr vernahm. Zudem schien es mir fraglich, dass sie sich auf normalem – irdischem, menschlichem Wege in das Haus und dieses Zimmer geschlichen haben konnte, ohne dass Halef oder ich dies bemerkt hatten. Ich erinnerte mich an den Zauber, den Haschim im Karaul des Schut gewirkt hatte, als mit einem Mal eine unnatürliche Stille über uns gefallen war und wir keinen Laut mehr vernehmen konnten – und auch niemand um uns herum. Hier musste etwas Ähnliches geschehen sein. Aber wie war Qendressa in das Zimmer gelangt? Ein Seitenblick zeigte mir, dass das Fenster verschlossen war. Zur Tür konnte ich nicht schauen, ohne meinen Kopf zu wenden, doch dies unterließ ich besser, um Qendressa nicht aus den Augen zu lassen. Nicht, dass sie eine Unaufmerksamkeit meinerseits ausnutzen würde …

Doch Qendressa rührte sich nicht und sprach ruhig weiter.

„Aber warum sollten Sie auch erschrocken sein, ich habe Ihnen ja eine Visitenkarte zukommen lassen, um meinen Besuch anzukündigen. Danke, dass Sie mich empfangen haben, zu dieser Zeit und auch noch in Ihrem Schlafzimmer.“

Qendressa meinte wohl das Stück jenes goldenen Colliers, die kleine Ziegenbockfigur, die Hamd el Amasat abgelegt hatte. Ich hätte nun entgegnen können, dass bei einer standesgemäßen Besuchskarte ein Name hätte vermerkt und in diesem Fall der Anmeldung halber auch die obere linke Ecke der Karte eingeknickt sein müssen, zudem mit dem Vermerk „p.v.“ versehen, also „pour visiter“ – zum Besuch. Man sieht: Ich kenne mich durchaus mit den feineren Gepflogenheiten im Umgang mit Menschen aus. Aber selbst wenn das linke Horn der Goldfigur geknickt worden wäre, wie ich in einem sarkastischen Gedankenanflug bemerkte, hätte ich kaum gewusst, ob es sich um einen Besuch aus geschäftlichem oder gesellschaftlichem Grund handelte. Aber mir war nicht nach Plauderei zumute. So fragte ich schlicht und höflich:

„Was wollen Sie, Zonjusch Qendressa?“

„Sie nennen mich noch immer Fräulein. Das ist sehr charmant.“

Ich ging nicht darauf ein. „Was wollen Sie?“, wiederholte ich.

„Ich möchte mich entschuldigen. Nein, sogar um Verzeihung bitten.“

„Wohl eher Nachsicht erflehen, was Ihren Verrat anbetrifft.“

„Ich wurde selbst verraten. Getäuscht.“

„Getäuscht haben Sie ihr eigenes Volk, die Skipetaren. Die Brüder Bellios. Ihre Gefährtinnen. Meine Freunde.“ Ich dachte an die Ereignisse in der Höhle der Fürstenmumie des vermeintlichen Skanderbeg zurück. „Und sie haben Abdollah verletzt, ihm das Ohr genommen.“

„Abdi“, sagte Qendressa weich. „Der arme Abdi. Aber ich war gezwungen. Der Schut wollte ihn und das heilende Kraut. Die Umstände und der Ort zwangen mich dazu, auf diese Art zu handeln. Es tut mir aufrichtig leid, und ich würde …“

„Warum sind Sie dann nicht bei Abdi aufgetaucht und hexen ihm sein Ohr wieder an?“

„Das sind Worte, die ich eher aus dem Munde des treuen Halef erwarten würde, und nicht von Ihnen, Kara Ben Nemsi. Dabei fällt mir auf: Bei der Aufzählung der Menschen, die ich getäuscht habe, haben Sie sich selbst nicht erwähnt …“

„Getäuscht kann man nur werden, wenn man zuvor vertraut hat.“

„Nun verletzen Sie mich – und das schneidet tiefer als …“

„Unterlassen Sie die Ironie!“, sagte ich scharf.

„Ironisch ist, dass ich trotz meines Verrats nicht erhalten habe, weswegen ich den Verrat beging.“

„Der Fluch der bösen Tat.“

„Werden Sie nicht moralisch! Glauben Sie, ich hätte nicht versucht, alles wiedergutzumachen, wenn ich erst das Amulett von Al-Kadir erhalten hätte und vom Leiden der Jahrhunderte befreit …“

„Werden Sie nicht melodramatisch.“

Qendressa schaute mich an. Ich glaubte, eine Regung in ihrem Mundwinkel zu erkennen. Sie legte den Kopf schief.

Ich sprach weiter: „Vergessen Sie nicht, dass ich alles beobachtet habe. Sie haben das Amulett nicht von Al-Kadir erhalten, sondern vom Schut. Für ihn haben Sie gearbeitet.“

„Sicherlich. Aber nur, weil er mir versprach, von Al-Kadir das Amulett zu erhalten. Sie erinnern sich, dass der Schut nicht viel auf Magie hält. So wie Sie.“

„Vergleichen Sie mich nicht mit dem Schut!“

„Gewiss nicht. Er ist Ihr Feind. Und der meine. Er hat uns beide betrogen und verletzt. Er hat Freunde entführt …“

„Sie selbst haben Abdollah entführt!“

„Im Auftrag des Schut. Aber das habe ich Ihnen bereits erklärt. Ich wollte an Ihre anderen Freunde erinnern, den Briten etwa, der damals in der Juwelenhöhle festgesetzt war. Da Sie im Persönlichen so streng sind: Bedenken Sie, dass der Schut auch dieses Land und dessen Leute geschunden hat. Und die Skipetaren sind mein Volk.“

„Ihre Löwinnen haben Sie ebenfalls betrogen und getäuscht. Und die Brüder …“

Qendressa seufzte. „Ja, ich weiß. Aber wenn ich erst das Amulett Al-Kadirs erhalten hätte, wenn ich meine Kräfte nicht mehr hätte gebrauchen müssen, um überhaupt am Leben zu sein …“, Qendressa schluckte hart, „… dann wäre es mir möglich gewesen, alles wieder …“

Ich schnaufte abfällig. Das stete Vertrauen darauf, dass Zauberwerk und Hexerei alles Unrecht auflösen könnten – und sei es nur, weil man die Betroffenen ihrer Erinnerungen beraubte oder unter einen Bann setzte. Es war mir widerlich.

„Zu dumm also“, begann ich ungerührt, „dass jenes Amulett zerstört ist und Sie wohl kaum ein neues erlangen können. Zumindest nicht von Al-Kadir, denn er ist tot!“

„Er ist nicht tot!“

„Gewiss nicht, er ist im Geisterreich“, höhnte ich. „Nicht fortgetragen auf Engelsschwingen, sondern auf jenen des Burak. Ich habe zumindest dies gesehen. Aber was mit diesem Verbrecher nun geschieht, ist mir einerlei. Er wandelt nicht mehr auf Erden.“

Qendressa schüttelte den Kopf. „Sie sind ahnungslos, Kara Ben Nemsi. Das Geisterreich ist nicht Ihr Jenseits, aus dem die Toten nie wiederkehren …“ Ein böses Lächeln glitt über ihre Lippen. „Nun, auch dort gibt es Ausnahmen …“ Dann wurde sie wieder ernst. „Aber Al-Kadir kann noch immer in diese Welt hineinwirken. Ihr solltet dies nicht unterschätzen.“

„Solche mahnenden Worte habe ich bereits vernommen. Von Scheik Haschim. Aber obwohl Sie mich mit dem Schut vergleichen wollten, liegt es mir fern, eine Verbindung zwischen Ihnen und dem Scheik zu ziehen. Er ist ein Ehrenmann.“

„Und ein Zauberer. Dennoch vertrauen Sie ihm?“

Dies war zugegeben ein tückischer Anwurf. Ich hatte nun selbst erlebt, dass Haschim über gewisse Fähigkeiten verfügte. Dies konnte ich nicht abstreiten. Aber es ging nicht darum, ob ich an Magie glaubte oder nicht. Wie bei jeder Fertigkeit und jedem Wissen, jedem Werkzeug ging es nun einmal darum, wer dies nutzte, über welchen Charakter dieser Mensch verfügte. Und Haschim war ein Mann von Adel. Damit meine ich weniger die Tatsache, dass er ein Prinz aus dem Haus der Haschemiten war. Auch nicht, dass er die Königswürde für ein Leben aufgegeben hatte, das sich den Wissenschaften widmete. Und dies waren nicht allein die arkanen und esoterischen, sondern auch jene, die ich irdisch oder altbekannt nennen möchte. Haschim war ein gebildeter Mann, vielleicht gebildeter als ich, aber das Wichtigste war, dass es sich bei ihm um einen Mann von Charakter und Würde handelte. Ich erkenne diese Qualitäten in einem Menschen, denn dies ist mir durch meine Reisen und die damit verbundenen Erfahrungen und Begegnungen gegeben. Deswegen spürte ich, dass Haschim möglicherweise Methoden anwenden würde, die ich nicht anerkannte – um nicht von billigen oder gutheißen zu sprechen –, von denen ich aber wusste, dass er sie nur zum Guten einsetzen würde. Wenn manche nun, oft fälschlich, sagen, dass der Zweck die Mittel heilige, so ist es doch wichtig, dass diese Zwecke und Mittel mit Verstand und Würde ausgewählt werden, womit ich sowohl die Würde des Wählenden meine als auch die der Betroffenen. Und so beurteilte ich Haschim als einen Mann, der mein Vertrauen verdiente.

„Ja, ich vertraue ihm“, verkündete ich also.

„Das sollten Sie nicht tun. Ich habe erfahren, dass …“

„Von wem?“

„Von Al-Kadir.“

„Al-Kadir und Haschim sind seit Jahren verfeindet. Es ist nicht verwunderlich, dass Al-Kadir schlecht von Haschim redet. Und andere von seiner Sicht überzeugen will.“

„Aber wissen Sie denn, warum die beiden …“

„Das ist unerheblich. Und Sie wissen es wohl auch nicht, denn sonst wären Sie damit herausgeplatzt und würden nicht nachfragen.“

„Touché, Kara Ben Nemsi.“ Qendressa bewegte ihre Finger krallengleich. Die langen Nägel schimmerten metallisch. „Al-Kadir hat sich nicht dazu herabgelassen, mit mir zu sprechen.“

„Da Hexen den Rat geben, niemals Zauberern zu trauen, mag dies wohl auch umgekehrt gelten.“

„Nein, dies hat mit den Rivalitäten der Brüder zu tun. Sie haben sich oft gestritten.“

„Das habe ich erleben dürfen. Und diese Uneinigkeit hat sie in ihren Machtplänen scheitern lassen. Und beide sind tot.“ Ich hob das Kinn und sprach eindringlich: „Qendressa. Ihre Herren sind tot. Sie schulden ihnen keine Loyalität, zumal Sie betrogen worden sind. Aber Sie besitzen keine Ziele mehr für eine Rache, weil eben beide …“

„Sie beschwören ja geradezu den Tod der beiden Männer, die auch Ihre Feinde waren. Doch Al-Kadir ist in der Geisterwelt und …“ Sie blickte kurz zur Decke empor, als würde sie überlegen. Ein lächerliches Stück Theatralik. Dann schaute sie mich mitleidig an. „Es ist Ihnen nicht vergönnt, über den Körpern ihrer Feinde zu triumphieren, nicht wahr? Al-Kadir ist entrückt und der Schut – ist er nicht bereits zum zweiten Mal Ihren Blicken durch einen Sturz entschwunden? Wenngleich das Pferd diesmal Al-Kadir getragen hat.“ Sie wandte den Blick ab und schien wie zu sich selbst zu sprechen. „Männer und Pferde. Ich habe diese Verbindung nie so recht begriffen. Vielleicht ändert sich das aber, wenn der Damensattel abgeschafft ist …“ Dann schaute sie mich wieder an und musterte mein Gesicht, in dem sie nach der Erwähnung der beiden Todesstürze des Schut wohl eine Regung, vor allem wohl einen Zweifel zu erkennen hoffte. Aber ich erkannte ihre Finte.

„Sie wollen sich wohl rühmen, den Schut mit eigener Hand getötet zu haben, im Gegensatz zu mir. Aber ich töte meine Feinde ohnehin nicht, sondern führe sie gemeinhin einer menschlicheren Gerechtigkeit zu, was mir zugegeben nicht immer vergönnt ist. Aber Sie vergessen, dass ich Zeuge war. Ich sah den Schut fallen, wenngleich nicht in eine Schlucht wie die Verräterspalte, damals vor zwei Jahren, sondern auf den Stein der Turmplattform, wo er wohl sein Leben ausgehaucht hat, nachdem Sie ihm die Kehle aufgerissen haben.“ Ich nickte zu Qendressas Fingern hin. „Sie haben dem Schut einen Hieb versetzt, als seien Sie keine Dame, sondern jener Bär, der einst den Mübarek zerfleischte.“

„Welcher wiederkehrte“, entgegnete Qendressa.

„Auf widernatürliche Weise und nur für kurze Zeit. Solcherlei scheint einander zu bedingen.“

„Aber Sie geben zu, die Leiche des Schut nicht in Augenschein genommen zu haben.“

„Ich verfüge nicht über den Bösen Blick oder die Hellsicht, die mich durch den Stein einer Turmbrüstung blicken lässt.“

„Vielleicht kann ich es Sie lehren, wenn Sie denn wollten.“

„Und die Überreste des Schut wurden von dem Griechischen Feuer zerstört, das sich in die Kaverne ergossen hat. Scheik Haschim hat mir versichert, dass die Flammen dieses Brandes alles vernichten werden, auch alles, was mit Magie und Zauberei in Verbindung steht. Dieses Mal kann auch jene Rüstung dem Schut nicht helfen …“

Ich stutzte, denn ich hatte mich doch tatsächlich verleiten lassen, an eine schier unglaubliche Kraft jenes Kettenhemdes zu glauben. Es war aber eine Sache, den Schut davor zu bewahren, beim Sturz in die Verräterspalte zerschmettert und damit zu Tode gebracht zu werden, und wieder eine andere, ihn vor den Folgen jenes völligen Blutverlusts zu bewahren, dessen Zeuge ich gewesen war.

„Interessant, dass Sie dies erwähnen“, sagte Qendressa spitzfindig.

Ich konterte sogleich: „Und ich weiß, dass Sie mir raten, nichts auf die Worte des Scheiks zu geben. Aber ich habe da meine eigenen Überzeugungen und bedarf der Ihren nicht.“

„Oh, ich meinte nicht …“ Qendressa hatte rasch geantwortet, überlegte dann aber einen Herzschlag lang. Sie spitzte die Lippen. „Nun, Sie haben wohl Recht. Mir war es ja leider auch nicht vergönnt, den Schut tot zu sehen.“

„Sie sind ja allzu schnell geflohen“, stellte ich fest. „Durch den Schacht des Turms. Dabei hätte ich erwartet, dass Sie sich an einem solchen Anblick wie dem eines Wiedersachers in seinem Blut weiden würden.“

„Seien Sie nicht ungerecht. Ich bin nicht grausam oder blutdurstig.“

„Es würde mich nicht verwundern.“

Qendressa senkte den Kopf und blickte mich durch ihre dichten Wimpern hindurch an. „Dann lassen Sie mich Ihnen einen Grund geben, sich tatsächlich zu wundern.“

„Ich bin gespannt.“

„Wie Ihre Schultermuskeln. Sie werden nicht mehr zu Ihrem Revolver greifen können, wenn Sie weiterhin in dieser Positur verharren. Lehnen Sie sich doch zurück, an diese hübsche Schnitzerei …“

„Wollen Sie mich mit Ihrer Sachkenntnis über die künstlerische Gestaltung von Bettgestellen verblüffen? Tatsächlich bin ich verwundert, dass Sie dies interessiert. Es ist ja französisch und nicht altskipetarisch.“

Qendressa schlug die Augen auf. „Sie weisen auf den Leichnam des Fürsten hin, um mich zu ärgern.“ Sie schüttelte sacht den Kopf. „Unter anderen Umständen würde ich Ihnen einen Handel vorschlagen. – Nein, ich bin ehrlich, ich würde Ihnen den Handel aufdrängen: den Fürsten gegen die Informationen, die ich Ihnen geben kann.“

„Waren Sie wieder einmal in der britischen Botschaft? Im geheimen Archiv?“

„Ich würde allenfalls einer Einladung des Botschafters folgen. Er ist sehr charmant, für einen Briten …“

„Welche Informationen?“ Ich war neugierig, auf was ihre Finte hinauslief.

„Gut, reden wir sachlich, denn es ist ein Geschäft. Ich biete Ihnen die Möglichkeit, den Schut zu vernichten.“

„Er ist bereits tot“, wiederholte ich. „Und wenn Sie durch irgendeine Hexerei bewerkstelligt haben, seinen Leichnam zu bergen, lehne ich dankend ab.“

„Ich spreche vom Reich des Schut. Seinen Fabriken.“

„Wir haben eine akkurate Karte von deren Standorten. Ich habe auch bereits die Behörden in Stambul informiert.“

„Das Reich des Schut besteht nicht aus einigen Fabriken für Kleider. Er hat viel mehr Orte, an denen er gewirkt hat.“

„Sie bieten mir noch eine Karte an?“ Ich überlegte. „Von Bergwerken vielleicht? Das mag sein – die alten Stollen unter seinem Karaul haben nichts mehr abgeworfen. Und in den vergangenen beiden Jahren wird er die Mittel für seine Fabriken wohl kaum aus seinen alten Quellen, der Entführung und der Erpressung, gewonnen haben.“

„Keine Karte. Ich kann Ihnen Kenntnis über jedes Detail verschaffen, das Sie zu wissen wünschen. Jedes Stück Land, jedes Gebäude, auch seine Konten und …“

„Ich hatte vergessen, dass Sie die Handelshochschule in Venedig absolviert haben. Aber Sie haben ja auch alles darangesetzt, damit ich so etwas Ehrenwertes nicht mehr in Beziehung zu Ihnen setze …“

„Sie sind bitter, Kara Ben Nemsi.“

„Keineswegs. Nur realistisch. Nun gut, ich bin an den Informationen interessiert. Sie würden mir einiges an Mühen ersparen. Ich bin Reiseschriftsteller und kein Geheimagent.“

„Sie haben auch einiges darangesetzt, dass ich Ihren ehrenwerten Beruf vergessen habe.“ Qendressa legte den Kopf schief. „Werden Sie auch über mich schreiben?“, fragte sie kokett.

„Wenn, dann nur die schonungslose Wahrheit. Und die ist nicht angenehm.“

„Angenehm anzusehen aber doch …“ Sie warf mit einer Kopfbewegung das Haar zurück, doch es fiel erneut in ihr Gesicht und verdeckte halb ihre Züge.

Ich blieb unbeeindruckt. „Was fordern Sie für Ihre Informationen? Ach, gewiss den Skipetarenfürsten …“

„Nein, ich will nichts für die Informationen – außer ein wenig Vertrauen.“

„Das ist ein noch höherer Preis als ein Fürst.“

„Sie brauchen die Kenntnisse über das Reich des Schut. Solange es nicht vernichtet ist, kann sich jeder dieses Reichtums und dieser Macht bedienen. Und mir scheint, dass nur Sie dies nicht missbrauchen würden.“

„Ich fühle mich geehrt.“

„Und Sie können sich Ihrer Rache hingeben. Und mir die meine ermöglichen. Bedenken Sie, was ich anrichten könnte, wenn ich auf meine Weise …“

Qendressa schaute drohend und ihre Worte hatten etwas für sich. Natürlich lasse ich mich niemals erpressen, weder durch deutliche Drohungen noch durch vage Andeutungen. Aber ich wollte nicht, dass meinetwegen Menschen in Gefahr gerieten, nur weil ich ein Angebot ausschlug. Ich wollte nicht, dass Qendressa vielleicht nur deshalb grausam handelte, weil ich ihr vorgebliches Hilfsangebot verschmäht hatte. Und zudem hatte ich ihr gegenüber tatsächlich meine Gefühle offenbart: Ich wollte nur zu gern diesen lange währenden Kampf gegen den Schut abschließen. Und wenn dieser Kampf mit dem Tod jenes Schurken noch nicht geendet hatte, dann würde ich all dies auf einem anderen Feld zu einem Ende bringen.

„Nun gut“, nickte ich. „Sagen Sie mir, was Sie wissen. Oder händigen Sie mir die Papiere aus.“ Ich hoffte, dass dies nicht ein ähnliches Hexenwerk nötig machte wie der Diebstahl der Dokumente in der britischen Botschaft. Ich hatte Käfer und Insekten gesehen, die Buchstaben von den Schriftstücken fraßen. Ich mochte mir nicht ausmalen, wie der umgekehrte Weg vonstattengehen würde.

„Aber wo denken Sie hin?“, sagte Qendressa empört, oder vielmehr: in gespielter Empörung. „Man erkennt, dass Sie weder Diplomat noch Geschäftsmann noch Geheimagent sind. Ich habe die Informationen natürlich nicht bei mir. Sie hätten mein Angebot ablehnen oder versuchen können, mir die Dinge zu entreißen.“

„Nein, gewiss nicht“, seufzte ich. Ich hatte kein Bedürfnis, Hand an diese Dame zu legen. „Also, wo sind sie?“

„Da ich Ihnen hier einen Besuch abgestattet habe, erwarte ich einen Gegenbesuch. Ich habe ein hübsches kleines Haus in der Nähe. Dort habe ich alles, was Sie gerne haben würden. Oder genauer: von dem ich gerne haben möchte, dass Sie es haben.“

„So viel Haben, so wenig Soll.“

„Bedenken Sie, dass ich die Handelshochschule absolviert habe. Aber ich erinnere daran, dass dies ein Geschäft des guten Willens und des Herzens ist. Also, Kara Ben Nemsi, besuchen Sie mich in meinem Haus. Sie können gern ein paar Freunde mitbringen.“ Sie lächelte und wurde dann ernst. „Aber nicht den Zauberer.“

„Scheik Haschim ist nicht hier.“

„Aber er taucht stets unerwartet auf.“ Qendressa musterte mich. „Ist Ihnen das nicht aufgefallen?“

„Ich treffe viele Menschen zu unerwarteten Zeiten und an unerwarteten Orten. Das ist keine Eigentümlichkeit Scheik Haschims, sondern eher die meine.“

„Dennoch. Ich warne Sie. Mein Angebot ist hinfällig, wenn er auftaucht.“

„Ich werde ihn nicht rufen.“

„Nun gut.“ Sie lächelte. „Dann werde ich Sie jetzt verlassen.“

„Wo befindet sich Ihr Haus?“

„Sie werden es schon finden. Folgen Sie dem Ziegenpfad.“

„Sprechen Sie nicht in Rätseln.“

„Gute Nacht. Und auf bald, Kara Ben Nemsi.“

Qendressa lächelte erneut.

Ich wusste, jetzt würde sie verschwinden, auf dem gleichen geheimnisvollen Wege, wie sie Haus und Zimmer betreten hatte. Ich machte mich bereit, um – ja, was?

Bevor ich reagieren oder auch nur einen weiteren Gedanken fassen konnte – verschwand Qenderessa tatsächlich: Vor meinen Augen löste sie sich auf. Oder nein – ihr Bild verschwand. Und hinter dem Fußbrett des Betts sah ich Halef stehen, der mich mit einem besorgten Blick bedachte.

„Sihdi! Du sprichst im Schlaf!“

Der Sturz des Verschwörers

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