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Fünftes Kapitel Die verborgene Botschaft
ОглавлениеIch war verwirrt. War Qendressa tatsächlich hier gewesen? War Halef betäubt worden oder hatte ich einen Traum gehabt? Nein, es war wohl eher eine Vision gewesen, Bilder und Worte, die mir durch Qendressas Hexenkünste eingegeben worden waren. Ob sie dies aus der Ferne bewirkt hatte oder ob ich durch meine Berührung des Schmuckstücks einen Kontakt geschaffen hatte – darum musste ich mich nicht scheren. Einzig die Botschaft war wichtig, jedoch nicht, wie sie überbracht worden war. Ich teilte Halef mit, was Qendressa gesagt hatte: ihre dargebrachten Entschuldigungen und das von ihr unterbreitete Angebot. Er war verständlicherweise ungehalten, sogar empört, und dies erstreckte sich von dem unerwünschten, geheimnisvollen Eindringen in unseren Schlafraum bis hin zu den frechen Worten und dreisten Forderungen.
„Dieses Weib war in unserem Zimmer?“, rief er und sah sich um, als erhoffte er eine Spur ihrer Anwesenheit zu entdecken oder den Weg, den sie gekommen und wieder gegangen war. „Und zudem noch in deinem Bett, Sihdi!“ Sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse des Abscheus, die besonders beeindruckend anzusehen war, da Halef einerseits noch etwas verschlafen war, und sich andererseits Abdrücke der Kissenfalten auf seinen Wangen und der Stirn zeigten. All das zeigte mir, dass es ihm nicht sonderlich gut tat, in der allzu behaglichen Umgebung des französischen Hauses zu speisen und zu nächtigen. Sonst ist Halef auch nach tiefem Schlaf stets hellwach und faltenlos, wenn es sich nicht um Falten der Sorge, der Anspannung oder eben des Abscheus handelt – selbst wenn diese Abscheu auf einer Fehleinschätzung von ihm beruhte.
„Aber nein“, sagte ich rasch. „Sie saß auf dem Fußbrett, direkt vor dir.“
Halef schreckte zurück.
„So etwas Ungehöriges! Aber ich habe dieser Frau ohnehin nie getraut, schon als sie noch keine Hexe war!“ Halef wischte mit der Hand durch die Luft. „Ich meine, als wir dies noch nicht wussten. Aber da war stets etwas Seltsames an ihr. Deswegen verwundert es mich nicht, dass sie unbemerkt wie eine Katze hier hineingeschlichen ist und …“ Jetzt stutzte Halef und war dann noch aufgeregter. „Sihdi! Das hatte es mit meinen Träumen von den Katzen auf sich, die ich in Stambul und Edreneh hatte! Die Vorsehung wollte mich warnen!“ Er seufzte. „Aber leider habe ich die Bedeutung nicht begriffen.“
Ich wollte ihm nicht sagen, dass Qendressa vielmehr wie ein Vogelweib auf dem Fußbrett gehockt hatte, nicht wie eine Katzenfrau – das hätte ihn noch mehr in Zweifel gestürzt.
„Halef, das ist doch nicht wichtig“, sprach ich stattdessen. „Es geht nur darum, was sie …“
„Sihdi, ich schäme mich“, begann Halef mit verschränkten Armen. „Zweimal ist jemand in dieses gastfreundliche Haus eingedrungen. In einer Nacht! Und wir – nein, ich habe beim zweiten Mal nichts bemerkt, obwohl mein Sihdi bedroht wurde. Diese Hexe muss mich betäubt haben, wie auch immer.“ Er schaute mich grimmig an. „Was soll nur werden? Wird uns dieses Weib nun für immer verfolgen?“
„Nicht, wenn wir mit ihr den Handel eingehen. Wir können nur gewinnen.“
„Wir werden in eine Falle laufen“, rief Halef.
„Aber doch nicht wir beide“, lächelte ich, um ihn zu ermutigen. „Wir wissen doch, was uns erwartet.“
„Wissen wir das? Die Hexe hat ihre Tricks und Schliche.“
„Das mag sein. Aber wir nicht minder.“
Halefs Augen blitzten. „Ja, natürlich! Wir werden die Hexe fangen und sie – in einen Käfig sperren. Und dann …“
Nun, dies waren Halefs Ansichten. Und auch wenn sie einiges für sich hatten, so dachte ich doch wesentlich pragmatischer, als sich mein Gemüt wieder beruhigt hatte. Ich gestand es mir nicht gern ein, aber Qendressa hatte Recht: Sie würde mir ermöglichen, den Schut endgültig zu besiegen, indem ich sein Reich vernichtete. Wenn dies mit den Informationen gelingen würde, die sie mir zu bieten hatte, so könnte ich ihr Angebot annehmen – und ihre Reue als ehrlich erachten, sie als Partnerin in diesem Handel ansehen. Und deshalb musste ich mich dagegen verwehren, ihr eine Falle stellen zu wollen. Erst, wenn sie selbst Heimtücke zeigen würde, wäre ich gezwungen, zu reagieren.
„Wir planen alles am Morgen“, sagte ich zu Halef und zeigte zum Fenster, hinter dem noch immer Nacht herrschte.
„Ich bleibe wach“, verkündete Halef. „Ich beschütze dich.“
„Das ehrt dich, doch ich bin sowohl der Ansicht, dass die Hexe uns nicht noch einmal aufsuchen wird, als auch, dass du deinen Schlaf brauchen wirst. Morgen reiten wir in die Berge.“
Halef murrte ein wenig, fügte sich aber den klaren Notwendigkeiten. Kaum hatte er seinen Kopf wieder in die Kissen gedrückt, begann er zu schnarchen. Ich war froh, dieses Geräusch zu vernehmen, ebenso wie das Ticken der Uhr auf der Kommode. Selbst in den Schlaf fand ich jedoch erst, als sich die erste Helle am Horizont zeigte.
Um den Tisch, der für das Frühstück gedeckt war, hatte sich eine verschlafen blickende Runde eingefunden. Die Ereignisse der vergangenen Nacht waren der Ruhe der Anwesenden nicht förderlich gewesen. Und so wurde dem gereichten Kaffee in hohem Maße zugesprochen. Ich könnte nun spitzfindig bemerken, dass es bei einem französischen petit dejeuner ohnehin nur wenig mehr gibt als diesen. Aber da ich kein Engländer bin, kein Niederländer und auch kein Nordamerikaner, der jene beiden Nationalitäten in sich vereint, mochte ich nicht darüber klagen, dass sich auf den Tellern keine flämische Fülle zeigte oder jenes Bergmassiv an Speisen erhob, aus welchem ein british breakfast besteht. Es gab genug pain, beurre et confitures, um nach der Nacht zu Kräften zu kommen. Ob dies lange vorhielt, mochte sich zeigen. Wie gesagt, wurde ohnehin viel Kaffee getrunken. Beecher, der im Orient bislang sehr unter dem allzu starken Mokkagebräu gelitten und ihn stets mit viel Wasser amerikanisiert, also verdünnt, hatte, war sehr von der französischen Röstung und dem französischen Aufguss begeistert. Ich denke aber, der café mundete ihm deshalb, weil er ihn aus köstlichem Porzellan genoss und nicht aus seiner Reise-Blechtasse. Hingegen war Halef, der als Araber den Kaffee ja sozusagen mit der Ammenmilch eingesogen hatte, nachgerade entsetzt, dass die Franzosen ihren Kaffee ebenfalls verdünnten – jedoch nicht mit Wasser, sondern mit Milch. Und dass die Behältnisse für diese Darreichung umfangreicher waren als orientalische Kahweschalen oder die üblichen Tassen, aus welchem Lande oder Material auch immer, befremdete ihn weiterhin. Er hielt sich tapfer, als er sah, wie in diese großen Tümpel hellbraunen Heißgetränks zudem Gebäck getaucht wurde, welches die Form von Halbmonden besaß, um dann tropfnass verspeist zu werden. Mir als Sachsen ist dieses Eintauchen von Backwerk in den Kaffee nicht fremd, wenngleich es der eine oder andere als unfein empfinden mag. Ich darf aber schlicht auf die Franzosen verweisen, die ja gemeinhin als äußerst kultiviert gelten. Und auch sie tunken ein.
Aber es gab keine Spitzfindigkeiten bei Tisch, denn Abdi fungierte als kundiger und heiterer Mittler zwischen Orient und Okzident, indem er Anekdoten von seinem Wienbesuch erzählte, und dass die Wiener sowohl Kaffee als auch Beugel, also die austrische Variante des deutschen Hörnchens und des französischen Croissants, ja ohnehin den Türken verdankten, und er als Türke recht stolz darauf sei – und es für durchaus ehrbar halte, den Halbmond nicht nur im Herzen, sondern auch im Bauch zu haben. Halef nickte vor sich hin. Später erzählte er mir, er habe nun begriffen, warum die Europäer so eilig seien: Wer schon seine Mahlzeit aus Kaffee, Zucker, Brot, Butter und Milch in einem verspeiste, und nicht nach oder nebeneinander, der müsse ja seltsam werden. Er wisse aber noch nicht, was Ursache und was Wirkung sei. Ich war erstaunt. Und vermerkte in meinem Gedächtnis erneut, dass ich ein Wort mit dem Lehrer Lohse wechseln müsste, der bei den Haddedihn-Beduinen sozusagen als Wüsten-Pädagoge in seiner Zelt-Schule Unterricht gab und den Halef vorgeblich überwachte, tatsächlich aber eifrig belauschte. Lohse schien also bei Kant angelangt zu sein. Sollte Halef demnächst von der Hegelschen Dialektik sprechen, müsste ich den Herrn Hochschulprofessor Lohse doch etwas in die Schranken weisen …
Doch zurück zu Tisch: Um die Süße der Morgenbissen nicht noch zusätzlich zum Kaffee zu verbittern, verschwieg ich den Gastgebern gegenüber meine nächtliche Heimsuchung, und ich musste den unruhigen, geradezu zappelnden Halef dann und wann mit einem Blick mahnen, dass er nicht doch damit herausplatzte. Denn ich hatte mich auch noch nicht entschieden, ob ich Fontenoy und Beecher einweihen sollte. Die beiden Amerikaner hatten sich ja bereit erklärt, die Kiste mit den sterblichen Überresten des Skipetarenfürsten Lekë Dukagjini außer Landes zu bringen. Und so schien Venedig ein gutes Ziel zu sein, da sich diese Teile der adriatischen Seeküste einstmals in venezianischem Besitz befunden hatten. Natürlich würde der Fürst nicht den italienischen Behörden übergeben werden. Ich befürchtete, dass diese Ähnliches würden bewirken wollen, wie Qendressa es vorgeblich geplant hatte: ihn als Symbol für den albanischen Freiheitskampf zu nutzen. Aber mir waren solche Ränke zurzeit nicht angenehm, weswegen ich nicht dazu beitragen wollte. Das albanische Volk musste auf einen anderen Retter vom empfundenen Türkenjoch hoffen. Andererseits war es ja nun auch so, dass ich niemals daran gedacht hätte, den Skipetarenfürsten dem Osmanischen Reich zu übergeben – aus genau entgegengesetzten Gründen. Es mochte wohl besser sein, wenn die Kiste in einem der Lagerhäuser Venedigs verschwand, über welche Fontenoy im Rahmen seiner amerikanischen Regierungsdienste verfügen konnte. Ich nahm Fontenoy das Ehrenmannsversprechen ab, dass der Fürst nicht nach Übersee expediert würde. Es war trefflich, dass ich hier nicht allein als Deutscher und Europäer sprechen konnte, sondern gewissermaßen auch als Amerikaner, wenn auch nicht vom Blut, so doch von der Seele und vom Herzen her, von welchem mir, um erneut ein Wort des Olympiers aus Weimar abzuwandeln, nachgerade drei in der Brust schlagen: eines für den Westen, eines für den Orient und eben eines für mein Heimatland.
Ich gewann Fontenoy aber auch mit einem scherzhaften Hinweis darauf, dass man die Fürstenmumie wohl besser nicht in die Nähe der Marie Laveau bringen sollte: Wer wüsste schon, was ein wenig Voodoo mit einer solchen großen Puppe anstellen könnte. Ich möchte mich hier ausdrücklich bei meinen Lesern entschuldigen, die das als Bemerkung von geringem Geschmack verurteilen könnten. Aber der Amerikaner an sich ist solcherlei nicht abgeneigt, was das koloniale Erbe des schwarzen britischen Humors sein mag, und auch der schwarzen Romantik, welche sich mit den deutschen Einwanderern verbreitete. Da mag ein anderer Südstaaten-Gentleman als Fontenoy noch so sehr behaupten, dass das literarische Grauen nicht aus Deutschland, sondern aus der Seele käme. Ich will den Namen dieses Herrn nicht nennen, weil ich ihm durchaus gram bin, ob dieser nicht zutreffenden Bemerkung, die man durch viele schaurige Werke vieler Schriftsteller deutscher Sprache widerlegen kann. Ich halte diesen Mann, der sich auch als Journalist und Satiriker versucht hat, weswegen er wohl den Franzosen so gefällt, für – ich nutze dessen amerikanische Sprache – einen regelrechten po’ boy, einen armen Burschen. Ich bedauere menschlich seinen frühen, tragischen Tod, aber nun, es haben nicht nur Bücher, sondern auch Menschen ihre, oft passenden, Schicksale.
Fontenoy lachte also, klopfte mir auf die Schulter und nickte seine Zusage.
Mit Galingré besprachen wir diesen Teil des vor uns liegenden Tages. Der Kaufmann hatte ohnehin zur nahen Hafenstadt Ulcinj reisen wollen, um eine Warenlieferung entgegenzunehmen. Für diesen Weg nutzte er oft seinen privaten Frachtkahn, mit dem man auf der Buna, dem Fluss, welcher den See von Skutari mit dem Adriatischen Meer verbindet, die Strecke wesentlich rascher bewältigen konnte als auf dem Landweg. Und bequemer war es zudem. Eine Reise also, die einem Fürsten durchaus angemessen war, selbst wenn er seit Jahrhunderten tot war.
Fontenoy war begeistert über die Aussicht einer Kahnpartie. Schon der See hatte ihn angenehm an seine Heimat Louisiana erinnert, besonders das über weite Strecken sumpfige Ufer zu Skutari hin; und die dort nistenden Pelikane hatten ihn geradezu entzückt, worauf er verkündete, er wolle alles daran setzen, dass Albanien und Skutari in New Orleans bekannter würden und bald vielleicht einige mutige Amerikaner als Sommerfrischler in diesen fernen Teil der Alten Welt reisen könnten. Und dem See würde ein schöner, weißer Schaufelraddampfer nach amerikanischem Vorbild durchaus zur Zierde gereichen. Auch wenn der See recht flach wäre, zwei Faden Tiefe würden ja wohl stets erreicht und somit genug. Den Dampfer könnte man „Fontenoy Pelican“ nennen, finanziert aus den Einkünften von Fontenoys modernem Tintenfüllfederhalter. Ja, und wenn auf dem Boot auch noch ein wenig Glücksspiel erlaubt würde …
Beecher ließ ein scharfes Räuspern vernehmen, und Fontenoy winkte ab und zuckte verlegen mit den Schultern. Ich wusste ja ebenfalls, dass der Pinkerton-Mann so seine Erfahrungen mit Falschspiel und river boats hatte und darauf nicht gut zu sprechen war. Dennoch würde er die Flussreise auch genießen können, denn für die Bewachung seiner Güter hatte Galingré seine eigenen Wachleute, zuverlässige Skipetaren, die jedoch besser nicht darüber unterrichtet werden sollten, was sie dieses Mal zu bewachen hatten. Wie bereits erwähnt fühlte ich mich nicht sonderlich gut bei dieser Sache. Ich war froh, sie einem gewieften Kaufmann zu überlassen, den das Gewissen ohnehin nicht sonderlich oft plagte. Das soll nicht despektierlich gegenüber meinem Freund Galingré klingen; ich stelle nur fest, was ist und sich nicht ändern lässt.
Dies war nun also geklärt. Wie aber würden Halef und ich verfahren? Mir war eine Einladung in ein Haus ausgesprochen worden, das wohl irgendwo in der Nähe liegen sollte. Aber wo? Qendressa hatte in ihrem Gespräch mit mir auch nicht die kleinste Andeutung gemacht – abgesehen von jenem ominösen Ziegenpfad.
Doch dann kam mir die erhellende Einsicht. Die Hexe hatte von den beiden Gegenständen gesprochen, die sie durch Hamd el Amasat hatte überbringen lassen, und sie ihre Visitenkarte genannt. Der Handschuh und der goldene Anhänger in Ziegenbocksform hatten mich erkennen lassen, dass Qendressa die Absenderin war. Aber auf einer Visitenkarte ist gemeinhin nicht nur der Name vermerkt, sondern, zumal wenn es sich um eine Geschäftskarte handelt, auch die Adresse. Der Hinweis, wo ich mich mit Qendressa treffen sollte, müsste sich also an oder in diesen beiden Gegenständen finden lassen.
Ich bat die anwesenden Herren, dass wir uns im Geschäftszimmer Galingrés einfinden sollten. Die Frühstückstafel war ohnehin aufgehoben, jetzt würden wir detektivische Arbeit leisten müssen und da war ein kaufmännisches Arbeitszimmer wohl nicht der ungeeignetste Ort.
Rasch holte ich den langen, schwarzen Handschuh und die kleine Goldfigur aus meinem Gästezimmer. Noch in der vorigen Nacht hatte ich Galingré um ein passendes Behältnis gebeten und er hatte mir eine Geldkassette überlassen, die aus äußerst hartem Holz mit Eisenbeschlägen bestand. Natürlich hatte ich die Gegenstände dort nicht abgelegt, weil ich erhofft hatte, etwaige magische Eigenschaften durch die Kiste zu bannen. Ich hatte es getan, damit Halef nicht darüber murren sollte, mit diesen Dingen vor Augen in einem Raum zu schlafen.
Nun kam ich also mit der Geldkassette in den Arbeitsraum. Zwei Fenster gingen zur Straße hinaus – wohl damit der Blick auf das Treiben dort den Geschäftssinn anregen mochte. An den Wänden hingen Karten und Diagramme, Schränke beherbergten Aktendeckel und Korrespondenz. Nach dem großbürgerlichen Plüsch des übrigen Hauses wirkte der Raum äußerst nüchtern. Der Schreibtisch war nahezu kahl, außer einer Schreibgarnitur und lederner Unterlage, aber gegenüber der Lampe stand eine Kristallvase mit frischen Blumen aus dem Garten. Ich wusste nicht, ob dies eine stimmungserhellende Zutat von Madame Galingré war oder ob der Hausherr selbst sich diese Blütenpracht geschnitten hatte.
Galingré und Halef, Fontenoy und Beecher hatten sich auf die verschiedenen Sitzmöbel verfügt, Abdi hatte sich freiwillig zum Küchendienst gemeldet. Er mochte wohl auch nicht mit den Gegenständen aus Qendressas Besitz konfrontiert werden, was ich anbetracht seiner Erlebnisse mit der Hexe nur zu gut verstehen konnte.
Der Hausherr saß in seinem Kontorsessel hinter dem Schreibtisch, die beiden Amerikaner auf Stühlen an dem kleinen runden Tisch, und Halef erfreute sich am weichen Polster eines Hockers, der wohl für orientalische Geschäftspartner bereitstand. Alle rauchten: dünne Zigarren und Zigaretten, und Halef die Gäste-Tschibuk. Er hatte sich nie mit dem anfreunden können, was wir Westler als raschen Tabakgenuss beim Stehen, Gehen und Reiten schätzten. Das Morgenlicht drang also durch die Fensterscheiben in unseren bewölkten Raum, nun konnte die Denkarbeit beginnen. Ich setzte die Geldkassette auf den Schreibtisch und öffnete sie. Dann nahm ich Handschuh und Anhänger heraus und legte beides auf der Tischplatte aus.
„Nun denn“, begann ich und fasste meine Erkenntnis zusammen. „Die Dame hat hiermit eine Einladung ausgesprochen. Was können wir daraus lesen?“
„Dass die Dame nicht förmlich ist, sonst hätte sie eine Karte gesandt“, meinte Fontenoy. „Gleichzeitig ist sie frivol. Oder wie ist der lange Handschuh zu verstehen?“
„Ein Hinweis auf unsere erste Begegnung in der britischen Botschaft“, gab ich zurück.
„Natürlich, Istanbul“, nickte Fontenoy. „Ich gebe zu, weniger auf die Garderoben geachtet zu haben als auf die Damen selbst.“
Beecher zeigte seine Zähne, als er den Rauch ausstieß. „Dem Herrn fehlt manchmal der Blick für das Wesentliche.“ Fontenoy wackelte mit dem Kopf und wedelte mit der dünnen Zigarre, wirkte aber nicht ungehalten. Die beiden Männer kannten sich wohl ebenso gut wie Halef und ich und neckten sich dann und wann. Beecher deutete auf den goldenen Anhänger. „Dieser Ziegenbock hatte etliche Gefährten im Halsschmuck der Dame. Warum sendet sie ihn, wenn der Handschuh als Hinweis auf Istanbul und damit sie selbst ausreichen würde?“
Ich stutzte. „Sie waren auch in der Botschaft, Mister Beecher? Ich hatte Sie gar nicht bemerkt?“
„Das gehört zu meinen Aufgaben“, sagte er. „Zudem war ich dann und wann im Garten.“
Ich fragte mich, ob er auf etwas anspielte. Sollte er beobachtet haben, wie ich unfreiwillig in das Geheimarchiv eingedrungen war, als ich Qendressa verfolgt hatte? Oder meine Rückkehr? Ich musterte Beecher, doch sein dunkles Gesicht zeigte keine Regung. Aber was hätte es auch bedeutet, wenn er davon gewusst hätte? Oder gar früher hatte erkennen können, dass Qendressa eine Hexe war, etwa indem er beobachtet hatte, wie sie sich von der Fassade der Botschaft entfernte – möglicherweise schwebend. Ich hatte ja erfahren, dass diese beiden Amerikaner seltsam nüchtern mit der mir bis jüngst unbekannten Tatsache der Zauberei umgingen.
„Nun gut“, meinte ich. „Der Handschuh und der Anhänger waren Hinweise auf die Absenderin. Dies wären sie auch allein gewesen. Gemeinsam müssen sie also den Ort bezeichnen.“
Galingré rieb sich das Kinn und streifte seine Zigarettenasche am Rand einer emaillierten Schale ab. „Es ist ein Rebus“, sagte er. „Ein Bilderrätsel.“
„Zwar ohne Bilder, aber Sie haben Recht, Monsieur“, nickte ich. „Ich bin kaum verwundert, dass Sie es erkannt haben, schließlich ist der Rebus eine französische Erfindung.“
„Von picardischen Studenten, als Fastnachtsscherz.“ Galingré verzog das Gesicht und zupfte einen Tabakkrümel von der Zunge. „Eine späte Auswirkung der mittelalterlichen Sitten. Unser großer Nationaldichter Rabelais, dem man gewiss keine Humorlosigkeit nachsagen kann, hat sie als plump und barbarisch abgelehnt. Kein Wunder. Die Picardie liegt einfach zu nahe an Belgien.“
Ich hob besänftigend die Hände. „Wir wollen milde sein. Zudem ist dieser Rebus kein Scherz. Wir sollten nicht vergessen, wie ernst dies alles ist. Also, meine Herren – was sagen uns Handschuh und Goldschmuck?“
Es wurde still. Einzig das Geräusch, mit dem Rauch ausgeblasen wurde, war dann und wann zu vernehmen.
Fontenoy drehte an einer seiner Schnurrbattspitzen. „Monsieur Galingré kennt sich hier in Skutari aus. Gibt es ein Gasthaus Zur Ziege oder Zum Handschuh?“
„Nein“, antwortete Galingre. „Hierzulande werden Schänken und dergleichen anders benannt. Sie haben auch keine Wirtshausschilder.“
„Richtig“, nickte ich. „Und zudem müssen beide Begriffe verbunden werden. Ein Wirtshaus namens Goat and Glove gäbe es wohl nur in einem englischen Ort.“
Beecher zeigte vage aus dem Fenster. „Gibt es einen Handschuhmacher in der Nähe? Gute Handschuhe sind aus Ziegenleder.“
„Gewiss“, stimmte Galingré zu. „Aber Handwerker haben keine Räume zur Untermiete.“
„Und ich bezweifle“, gab ich zu bedenken, „dass sich die Hexe hier in Skutari verborgen hat.“
Halef räusperte sich. „Karadagh!“
Ich gebe zu, dass ich im ersten Moment tatsächlich glaubte, dass Halef nur seine Kehle von Trockenheit oder Rauch befreien wollte. Ich schaute ihn an und er nickte. Dann deutete er auf den Tisch und die beiden Gegenstände.
„Das ist der Ort, Sihdi. Schau, es ist ganz einfach. Der Handschuh ist schwarz, auf Türkisch kara, was du ja nur allzu gut weißt. Und die Ziege klettert durch die Berge, was auf Türkisch dagh heißt. Und Karadagh …“
„… ist der Name für Montenegro!“, rief ich. „Der Landstrich jenseits des Skutari-Sees. Dort versteckt sich die Hexe. Bravo, Halef!“
Fontenoy lachte. „Soweit ich weiß, klettern Ziegen aber nicht nur durch die Berge …“
Halef zuckte mit den Schultern, lächelte aber stolz. „Aber hierzulande schon.“
„Und“, fügte ich hinzu, „die Dame Qendressa dürfte sich wohl in der Nähe aufhalten. Das hat Halef genau erkannt. Es wäre unsinnig gewesen, angesichts eines skipetarischen Schmuckstücks etwa in arabischer Sprache zu denken und nach einem Ort namens Djebel Aswad zu suchen. Andererseits birgt auch die lokale slawische Sprache einige Schwierigkeiten, denn Zrnagora kann nicht nur Schwarzberg, sondern auch Schwarzwald bedeuten …“
„Das ist nun unerheblich, lieber Kara Ben Nemsi“, sagte Galingré, der als Kaufmann keinen rechten Sinn für Abschweifungen hatte: Geschäfte müssen bedacht, aber rasch abgschlossen werden und sogleich Ertrag bringen. Bei Gedankengängen ist dies nun einmal nicht so. Dennoch hatte Galingrés Einwand seine Berechtigung, „Montenegro ist ein kleines Gebiet“, sprach er weiter, „aber es gibt Berge und Wälder genug, ob nun schwarz oder nicht, in denen sich ein Haus befinden kann.“
„Oder eine Hütte“, sagte Beecher. „Und wenn wir gerade von Doppelbedeutungen und zweifachem Sinn sprechen – gibt es in Montenegro einen Ort, in dessen Name das Wort Ziege oder dergleichen vorkommt?“
Galingré schüttelte den Kopf, zeigte aber auf die Karten an der Wand. „Jemand kann gern nachschauen.“ Er zog eine Schublade des Schreibtischs auf und förderte eine Leselupe hervor. „Ziege heißt auf Serbisch kosa und auf Türkisch keci …“ Er schaute mich an und zeigte mit der Lupe auf mich.
„Dhia auf Albanisch, wenn ich mich recht entsinne“, sagte ich. „Aber dies ist wohl nicht der richtige Ansatz. Wie viele Orte werden wohl in einem lokalen Dialekt einen Bezug zu Ziegen haben. Es wird hier wohl kaum anders sein als in meiner deutschen Heimat, wo die Bewohner eines jeden Dorfs einen kollektiven Spitznamen besitzen, der oft einen Tierbezug hat, so in etwa …“
Galingré seufzte. „Wir sind uns also einig: Dies ist zu weit gegriffen. Ich gehe davon aus, dass Mademoiselle Qendressa tatsächlich Ihren Besuch erwartet. Die Ortsangabe müsste also eindeutig sein. Und leicht zu enträtseln – welche Dame will schon allzulange warten …“
„Zu dumm“, brummte Fontenoy, „dass Miss Qendressa keine wirkliche Visitenkarte aus Papier hinterlassen hat.“
Wieder räusperte sich Halef. „Haben wir überhaupt nachgeschaut?“
„Natürlich“, meinte Galingré. „Da war nichts weiter. Wenn eine Karte zu Boden gefallen wäre, hätte das Mädchen sie beim morgendlichen Fegen gefunden.“
Halef schüttelte den Kopf und wies auf den Handschuh. „Ich meine, da drinnen …“
„Eine gute Idee!“, lobte ich und war verwundert, dass ich nicht selbst darauf gekommen war. Ich ergriff den Handschuh. Natürlich nicht, um ihn einfach umzukehren und zu schütteln, in der Hoffnung, es würde ein beschriebener Zettel herausfallen. Ich habe nun schon an ganz anderen Orten geheime Botschaften entdeckt, einmal sogar im Mund eines Griechen, der einen Kassiber mit Chiffreschrift bei seiner Entdeckung zerkaut und schon beinahe hinuntergeschluckt hatte. Nein, ich wies mit wissendem Nicken auf Beecher, der seine Dienstmarke als Pinkerton-Mann im Innenfutter seines Jacketts verborgen trug. In diesem Sinne tastete ich den Saum des Handschuhs ab, in dem sich ohne Weiteres ein schmaler Paperstreifen hätte finden können. Doch die Suche blieb erfolglos. Ich wendete das Innere des Handschuhs nach außen, um zu prüfen, ob vielleicht die Seide beschriftet war. Aber es fand sich nichts.
Schließlich erbat ich mir von Galingré dessen Leselupe und untersuchte den goldenen Anhänger. Aber so fein die Details des Ziegenleibs auch waren, die feinen Linien zeichneten nur das Fell nach, waren aber keine Chiffren und keine Schrift. Ich sah ernüchtert auf, legte die Leselupe ab und schaute in die Runde.
Fontenoy wechselte einen Blick mit Beecher. „Wir alle“, begann er dann, „haben in den vergangenen Tagen und Wochen ja die eine oder andere Tarnung verwendet. Wir haben uns verkleidet, verborgen …“
„Worauf wollen Sie hinaus, Mister Fontenoy?“, fragte ich durchaus neugierig. „Sprechen Sie doch nicht ebenfalls in Rätseln.“
Fontenoy lächelte, dass seine goldenen Zähne blitzten. „Ich wollte Sie nur auf Ihrem eigenen Gebiet herausfordern, Mister Shatter … Mister Nemsi. Denken Sie historisch, denken Sie literarisch. Und sehen Sie von der Ziege ab, sondern denken Sie wie der Westmann und wie der Orientale, zu denen Sie sich ja durchaus zählen können.“
Kurz blickte ich zu Halef, an dessen Blick ich erkannte, dass er nicht so recht wusste, ob der Amerikaner hier irgendeine Ironie im Sinn hatte, die man vielleicht auch als Beleidigung hätte auffassen können. Aber ich konnte meinen stolzen und manchmal etwas empfindlichen Freund beruhigen.
„Ah, Mister Beecher. Kein Rebus, sondern ein Gleichnis. Ich könnte nun scherzen und mich begriffstutzig stellen. Ich könnte sagen: Warum weisen sie mich von der Ziege zur Kuh? Denn diese schätzt der Rinderhirt der amerikanischen Prärie, der Cowboy, ebenso wie der Inder des ferneren Orients, so er denn ein Hindu ist.“
Fontenoy schüttelte lächelnd den Kopf, Halef war stolz auf seinen Sihdi und auf sich selbst, denn er wusste, wovon ich sprach.
„Also“, führte ich meine Ableitung fort, „dem Westmann und dem Orientalen ist das Pferd das liebste Tier. Und wenn ich hier eine goldene Ziege nach Geheimnissen untersuche, bringt mich eine Volte durch Historie und Epos zur Ilias des Sängers Homer und damit zu einem Pferd aus Holz. Wenn in dessen Innern sich die Danäer vor Troja verbargen, mag sich eine Botschaft in diesem Schmuckstück befinden …“
Galingré griff hilfsbereit in seine Schreibtischschublade und zog ein Federmesser hervor, welches er mir reichte. Ich erkannte, dass er es nicht mehr zum Zurechtschneiden von Gänsekielen benutzte – dies wäre in unseren Zeiten moderner Schreibfedern aus Stahl doch gar zu altertümlich –, sondern zum Schärfen von Bleistiftspitzen.
Ich hatte im Goldkorpus des Figürchens tatsächlich eine Fuge entdeckt, die vielleicht auf etwas hinweisen mochte. Ich erwartete nun keinen winzigen Öffnungsmechanismus, denn einen solchen hätte das Schmuckstück kaum beherbergen können. Wohl mochte sich im Innern aber ein Papier von geringer Größe befinden – ein schmaler Streifen, etwa befestigt an einem Draht oder Haar, was ich nun würde herausangeln müssen. Eine höchst diffizile Arbeit. Ich ging zum Fenster, um besseres Licht zu haben, nahm Figur und Federmesser zur Hand, während Galingré hilfreich die Lupe hielt.
Ich nickte.
„Nun?“ – „Und?“ – „Sihdi?“, klang es dreifach in meinem Rücken.
Ich wandte mich um.
Ich schüttelte den Kopf.
„Nichts.“