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Zweites Kapitel Der Flug des Burak

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Der Schut fluchte und tobte. Al-Kadir antwortete knapp und harsch. Die Brüder trugen einen Zwist aus, dessen Inhalt Halef und ich mit einiger Mühe verstehen konnten, denn die wütenden Worte wurden von ihren eigenen Echos überlagert. Die Klangfetzen, die an unsere Ohren drangen, ergaben ein nur vages Bild: Al-Kadir hatte diesen Ort geschaffen, eine altertümliche Stätte magischer Macht. Doch der Schut war dagegen, dass der Bruder, den er gastfrei hielt, sich hier nach eigenem Geschmack einrichtete. Er selbst wolle ein modernes Reich auf dem Balkan schaffen – der Magier solle doch zurück in seine sandigen Weiten der Wüste gehen und dort mit Steinen seine Bauten erschaffen, er, der Schut, setze auf Eisen und Stahl. Und das kalte Herz würde ihm dabei helfen. – Damit musste der Schut jene seltsame blaue Kraft meinen, die wir in seinem Besitz erkannt hatten.

Al-Kadir entgegnete beherrscht, dass ohne die Magie der Schut sein Leben bereits ausgehaucht hätte und ohne Zauber noch immer ein Krüppel sei.

Der Schut im Gegenzug schmähte die Magie, weil sie wohl Krankheiten heilen, aber kein Leben retten könne, die alte Kiste aus Ägypten und der zerbröckelnde Mübarek hätten dies wohl deutlich gezeigt.

Al-Kadir gab zurück, dass jenes Kraut durchaus …

Da lachte der Schut. Er sprach abfällig von der Hexe, die er gedungen hatte, ihm dieses und jenes zu beschaffen, alles für die Hoffnung, er würde ihr die Gabe verleihen, sich dauerhaft zu verjüngen, statt dies nur mit einem kräftezehrenden Zauber zu erreichen.

Al-Kadir zeigte Empörung: Der Schut wolle die Hexe um ihren Lohn betrügen? Sie könne noch nützlich sein!

Der Schut lachte: Alle, die Magie wirken könnten, seien einander auf lächerlich sentimentale Weise verbunden. Aber er würde der Hexe schon geben, was sie verdiente! Er streckte die Hand aus. Der Bruder solle ihm diesen magischen Tand geben, das Amulett, das dauerhaft verjüngte. Und die Hexe rufen. Sie solle es an diesem magischen Ort erhalten – und sich dann fortscheren!

Al-Kadir übergab dem Schut ein Amulett und wandte sich zum Gehen.

Halef war neben mir schon unruhig geworden. „Sihdi“, flüsterte er. „Beide Schurken gemeinsam in unserer Sicht, und wir haben Waffen! Warum sie nicht …“

Schweren Herzens, aber mit dem gerechten Feuer der Ehre musste ich meinem Freund widersprechen. „Wir können sie nicht hinterrücks erschießen.“

„Aber wenn wir uns bemerkbar machen – wer weiß, was Al-Kadir …“

„Mir ist der Schut wichtiger. Und die Hexe!“

Ich hörte, wie Halef mit den Zähnen knirschte. Er erkannte, wie stichhaltig mein Argument war. Die Verräterin hatte uns mehr Schaden zugefügt, für den sie würde bezahlen müssen. Die Rechnung mit dem Schut war noch älter – und umso schmerzlicher, weil wir sie beglichen geglaubt hatten. Al-Kadir hatten wir bereits einmal besiegt – er war hier im Machtbereich des Schut nur ein Gast, und die Brüder waren zerstritten. Und Al-Kadir zur Strecke zu bringen, war die Aufgabe Haschims.

Al-Kadir verschwand im Innern des Turms, der Schut blieb neben der blassen Lichtsäule stehen. Ich erkannte, dass er wahrhaftig geheilt war. Sein Körper war gerade und aufrecht. Sogar die Narben waren verschwunden. Seine frühere gelbe Gesichtsfarbe, die ihm seinen Namen verliehen hatte, war durch den natürlichen Hautton seiner persischen Herkunft ersetzt, wenn er auch bleich wirkte. Seine Kleider waren von schlichter, balkanischer Art – aber ich konnte nicht ausmachen, ob er darunter noch immer die magische Rüstung trug, die ihm bei seinem Sturz in die Schlucht das Leben gerettet hatte, dann aber mit seinem Leib verwachsen war. Nüchtern wog ich ab, dass es wohl möglich wäre, tödliche Schüsse auf den Schut abzugeben, selbst wenn die Rüstung dessen Leib kugelfest gemacht hätte. Auch war in mir nicht mehr der moralische Zwang gegeben, nicht auf einen erbarmungswürdigen Krüppel zu schießen – wenngleich ich mich sehr gut erinnerte, wie der Mübarek vor Jahren Mitleid erregte, als er in der Gestalt des Bettlers Busra an Krücken einhergestakst war und so die Güte der Menschen betrügerisch ausnutzte.

Und dann erinnerte ich mich an noch jemanden, der die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft von Menschen ausnutzte, und deren Hoffnung dazu. Die Hoffnung eines ganzen Volkes und die Freundlichkeit zweier Abenteurer, oder eher noch dreier, wobei der dritte am übelsten den Verrat gespürt hatte, denn Abdi war das Ohr vom Kopf geschnitten worden, bevor er durch die Lüfte entführt wurde, getragen von der Hexe.

Qendressa betrat den Turm, auf dem der Schut wartete.

Sie stellte sich ihm entgegen, in einer Pose, die erkennen ließ, dass sie sehr wohl wusste, dass sie ihm das Leben gerettet oder vielmehr sein altes Leben wiedergeschenkt hatte, indem sie ihn mit dem Heilkraut versorgte und dem Heiler dazu. Sie streckte wortlos die Hand aus. Der Schut hielt das Amulett in der seinen. Er begann mit kalter Stimme zu sprechen und deutete durch die Höhle. Halef und ich duckten uns hinter die Brüstung. Wir hörten, wie der Schut Qendressa schmeichelte und seinen Bruder schmähte.

Dann konnte ich unter dem Hall der Kaverne einige Sätze verstehen.

„Du willst meinem Bruder beistehen bei seinem lächerlichen Spektakel?“, rief der Schut. „Aber so sind die Hexen! Stets den Zauberern gewogen! Doch vergiss nicht, von wem du deinen Lohn erhältst!“

Qendressa schlug den schneidenden Ton an, den ich so gut kannte: „Das Amulett stammt nicht von dir!“

„Doch ich allein gestehe es dir zu!“, herrschte der Schut sie an. Und schloss höhnisch: „Oder auch nicht!“

Dann ein Schrei! Aus Qendressas Kehle. Halef und ich sprangen halb auf. In der Lichtsäule funkelte hell ein Gegenstand auf – das Amulett. Der Schut hatte seine Hand geöffnet und das magische Schmuckstück fiel, nein, stürzte – der Höhlendecke entgegen! Der Zauber, mit dem jene umgekehrte Kaverne geschaffen wurde, konnte die irdische Schwerkraft wohl nicht aufheben. Der blitzende Funke raste empor, traf auf den Fels in der Mitte des hellen Flecks aus Sonnenlicht und – zersprang! Schimmernder Staub stob auf und verschwand, noch bevor Qendressas Schrei verhallt war. Der Schut lachte. Qendressa sank beinahe in sich zusammen, schaute mit gebeugten Schultern schief nach oben, als lastete ihr magisch gezähmtes Alter mit einem Mal auf ihr – oder es war das niederdrückende Gewicht der zerplatzten Hoffnung …

Der Schut lachte: „Nun, Hexe, du musst mir noch etwas dienen, bis mein Bruder ein neues Amulett gefunden hat. Oder hat er es selbst geschaffen? Einerlei!“

„Einerlei!“, rief auch Qendressa. Und dann krallte sie mit einer Hand von unten nach dem Hals des Schut und riss ihm die Kehle auf.

Blut sprang hervor, in einem Strahl von Armesstärke, der im Lichtstrahl des Turms grell aufleuchtete. Der rote Schwall stürzte in der hellen Strahlensäule nach oben, folgte dem Pfad, den das schimmernde Amulett vor ihm genommen hatte. Jegliches Blut, das sich im Körper des Schut befand, wurde aus der klaffenden Wunde gerissen, wie aus einem zweiten Mund strömte das Leben aus dem Schurken, während sich seine Lippen darüber in lautlosem Schrei öffneten und erstarrten. Als der tote Leib des Schut auf die Plattform des Turms sackte, färbte das Blut hoch oben am Scheitel der Kuppel den Lichtkreis in den Basaltzähnen wie Purpur und Scharlach.

Qendressa blickte vom Leichnam des Schut auf und betrachtete ihre rotgefärbte rechte Hand – da riss sie den Kopf herum und sah in unsere Richtung. Ich spürte das Brennen in meinem Magen, und in meinen Ohren schwoll ein drückendes Summen auf. Qendressa hob die rote Hand und deutete auf mich.

Da bewegte sich etwas auf der Treppe hinter mir – nein, jemand! Haschim war plötzlich aufgetaucht – er war die Stufen heraufgehastet, ohne dass ich es vernommen hatte! Dann hörte ich Qendressas Fauchen. Sie hatte Haschim zum ersten Mal mit eigenen Augen gesehen – und sogleich als Magier erkannt. Und zudem als einen, der ihr überlegen war. Qendressa warf mir einen furchterregenden Blick zu, den ich trotz der weiten Entfernung sah, vielmehr aber spürte, dann sprang sie in den Lichtstrahl – und anders als das Amulett und der Blutschwall aus Hand und Hals des Schut, stieg sie nicht zur Höhlendecke hinauf, sondern fiel in den Turm hinein. Ihr Schatten verfinsterte den Kern der Lichtsäule und der grelle rote Fleck auf dem Basalt wurde für einen Augenblick dunkel. Dann verschwand der Schatten, die Lichtsäule schien hell und still. Qendressa war verschwunden. Ich wandte mich um und sah Haschim mit der Armbrust im Anschlag.

„Wolltet Ihr die Hexe …“

„Nein“, rief Haschim, doch sein nächstes Wort ging in einem gewaltigen Rauschen unter. Halef schrie erstaunt auf, ich wirbelte herum, sah nach oben und erkannte ein schwarzes Ross, das auf gewaltigen Schwingen die Luft der Höhle durchmaß. Das Windpferd! Und im Sattel, der ungewöhnlich hoch auf dem Widerrist, also nahe am Hals des Pferdes, angebracht war, damit die Flügel ungehindert schlagen konnten – saß Al-Kadir, mit wehenden Gewändern.

Woher waren das Flügelross und sein Reiter so plötzlich erschienen? Doch warum sollte ich rätseln, zumal auch Haschim so unvermittelt aufgetaucht war! Ich glaubte aber nicht, dass Al-Kadir durch den Tod des Schut oder den Schrei der Hexe herbeigerufen worden war – Al-Kadir wollte wohl mit diesem Auftritt seinen Forderungen gegenüber seinem Bruder Nachdruck verleihen oder ihm schlichtweg drohen. Wie auch immer, jetzt erkannte Al-Kadir den Leichnam des Schut auf dem großen Karaul, begriff wohl, wer dies getan hatte – sah im gleichen Moment aber auch uns drei auf dem kleinen Karaul des Turmrings. Das Windpferd schlug mit den Schwingen und flog eine weite Kurve, dann schwang es sich von der Luft getragen uns entgegen. Im Instinkt hob ich den Henrystutzen und zielte.

„Halt, erinnert Euch!“, rief Haschim und hob selbst die Armbrust mit dem eingelegten Pfeilbolzen, dessen Spitze heller schimmerte, als es blanker Stahl im Licht der Fackeln tun würde. Richtig: Nur das Gift des Thrakerwurms würde das Windpferd töten. Aber ich …

Jetzt zögerte Haschim! Und ließ die Armbrust sinken.

„Was …!“, schrie ich, verzweifelt und erleichtert zugleich.

„Schaut!“, sagte der Scheich, leise und ergeben. „Es ist kein Windpferd! Es ist, wie ich befürchtete. Es ist ein Burak! Schaut sein Haupt!“

Und tatsächlich! Mit Ehrfurcht und Staunen erkannte ich jetzt, als sich das Tier näherte, dass es zwar den Kopf eines Pferdes besaß – aber das Gesicht eines Menschen! Wie könnte ich je diesen Anblick beschreiben! Es war keine groteske Schimäre, kein Mischwesen aus Pferdehaupt und Menschenantlitz, sondern ein flackerndes Doppelbild, von welchem meine Augen stets nur einen Aspekt erkennen konnten, wenngleich unscharf, und wenn ich mich konzentrierte und genauer zu schauen versuchte, legte sich der gegenteilige Eindruck darüber.

„Den Burak kann das Gift nicht töten“, erinnerte mich Haschim.

„Aber ich Al-Kadir!“, rief ich und zielte mit dem Henrystutzen „Wenn er den Burak nicht lenkt, vielleicht …“

Haschim legte hart die Hand auf meine Schulter. „Es ist Euch nicht erlaubt, auf den Burak zu schießen. Und ich frevle, wenn ich Euch nicht daran hindere. Und Al-Kadir ist mein!“

„Sihdi! Er wird uns vom Turm fegen“, schrie Halef. Er schaute mich an und ich nickte. Halef sprang zur Treppe hin und ich folgte ihm, nach einem bitteren Blick zu Haschim.

„Al-Kadir ist Euer.“

Ich sah, wie Al-Kadir den Burak hoch über und vor uns auf der Stelle schweben ließ, die Schwingen schlugen machtvoll und wirbelten einen Strom eisiger Luft auf uns herab. Al-Kadir hob eine Hand.

Halef schrie! Hart war er auf blankem Fels aufgeschlagen – die Öffnung zur Treppe war verschwunden! Die Fackeln um uns begannen zu fauchen und ihre Flammen blähten sich auf. Im grellen Schein sah ich Haschims Augen aufleuchten.

„Al-Kadir ist mein!“, rief er und legte eine seltsame Betonung in den Satz. Er lächelte mich an – hob die Armbrust und drückte ab. Schwirrend sandte die Sehne den Pfeilbolzen durch die Luft – und traf Al-Kadir!

Es war seltsam zu sehen, wie zunächst der Körper des Zauberers zusammensackte und dann erst seine erhobenen Arme niedersanken, als habe die Magie ihnen Auftrieb verliehen wie die Luft den Schwingen eines Vogels. Ob der Burak jedoch tatsächlich den Auftrieb der Luft nutzte oder ebenfalls auf magische Weise flog – wie konnte ich dies wissen?

Was ich jedoch mit meinen eigenen Augen sah, war eindeutig: Ohne den Befehl oder die Führung seines Reiters besann sich der Burak oder besaß wieder seinen eigenen Willen. Er drehte ab, schlug mit den Flügeln, stärker als bei seinem Flug zuvor, als wolle er den Sattel und Al-Kadir abschütteln, doch es gelang ihm nicht. Der Flügelschlag wurde noch heftiger, das Rauschen in der Höhle ohrenbetäubend, ich spürte den Wind bis auf unseren Karaul herab – und dann erloschen alle Fackeln auf einen Schlag. Zwischen jenem Wimpernschlag, in dem meine Augen von der plötzlichen Dunkelheit blind wurden, und jenem, in dem ich die Höhle allein in der Helligkeit der Lichtsäule sah, war der Burak verschwunden.

Ich hörte Halef erschrocken rufen – beinahe wäre er in den wieder offen gähnenden Treppenschacht gestürzt. Im Zwielicht der Höhle fand ich den Blick Haschims. Ich nickte.

„Al-Kadir ist tot. Ein famoser Schuss, Haschim. Und unser aller Sieg.“

Halef murmelte Zustimmung und rieb sich die Knie.

Haschim senkte endlich die Armbrust. „Ein Sieg? Nur für den Augenblick, Kara Ben Nemsi.“

Ich stützte den Henrystutzen auf die Brüstung und lehnte mich daran. „Tötet das Gift des Thrakerwurms tatsächlich nur Windpferde? Keine Menschen? Aber der Pfeilbolzen …“

„Al-Kadir ist tot“, nickte Haschim. „Sein irdisches Leben ist erloschen. Aber wer im Sattel eines Burak stirbt, geht sogleich ein ins Paradies. Doch Al-Kadir hatte das, was Ihr eine schwarze Seele nennt, weshalb ihm das Paradies verwehrt ist. In die Dschehennah, in die Hölle, kann der Burak ihn jedoch nicht tragen – dies ist wiederum dem heiligen Wesen verwehrt. Aber der Burak kann Al-Kadir in das Reich der Geister bringen. Und dann befindet sich dort ein teuflischer Schurke mehr.“

„Aber er ist von der Erde verschwunden“, gab ich zurück. „Das ist mir genug.“

„O Sihdi“, seufzte Halef.

Plötzlich klang ein dumpfes Grollen aus der Erde – rings um uns! Und ein Gurgeln mischte sich darunter, das aus den Türmen zu dringen schien – außer unserem.

„Ist das der Fluss?“, rief ich besorgt und dachte an meine Befürchtung zuvor, dass die Höhlenkuppel einstürzen mochte und wir in den Fluten ertränken. Aber es war kein Wasser, das plötzlich aus den Türmen schoss – es war greller Feuerschein und flammende Glut. Entsetzt sah ich Haschim an. „Das Griechische Feuer? Ihr habt es entfesselt?“

„Nein“, gab Haschim zurück. „Es muss Al-Kadir gewesen sein. Vielleicht war sein Hass auf den eigenen Bruder so groß, dass …“

Halef schnaubte. „Er ist schlicht wahnsinnig geworden. Uns alle hier zu verbrennen!“

Er schaute mich mit riesigen Augen an, die in seinem im Flammenschein leuchtenden Gesicht glänzten. Aus den Türmen sprangen die glühenden Fontänen der Höhlendecke entgegen, doch bogen sie sich nach kurzer Strecke wie der Springquell eines artesischen Brunnens und spritzten tosend und glutend um die Fundamente der Türme. Um alle zwölf, nur nicht den unseren.

Haschim ging zur Treppe. „Das Griechische Feuer wird die Magie auslöschen, und dann dürfte dieser Ort nicht mehr zu betreten sein.“

„Existiert er überhaupt?“, fragte ich eilig. „Oder besteht er nur wegen der Magie?“

„So wie Euer Zelt“, gab Haschim zurück und wandte sich sogleich an Halef. „Euer Zelt, Halef.“

Halef nickte hastig, war schon auf der Treppe – dann hatte er die gedankliche Kette vollendet. „Abdi!“, rief er. „Er muss noch irgendwo im Karaul sein – oder ist er …“

Haschim hob beschwörend die Hände – wenngleich ich so einen Begriff wohl nicht mehr im übertragenen Sinne verwenden sollte – und sagte rasch und sanft: „Abdi geht es gut. Ich habe ihn aus dem Kerker des Schut befreit, so wie Ihr mich aus Al-Kadirs Kerker befreit habt. Und ich muss sagen, dass Abdi hier in angenehmerer Umgebung gefangen war als ich selbst dort.“

„Weil die Schurken Abdi noch brauchten“, nickte ich.

Halef atmete auf, legte aber sogleich die Stirn in Falten. „Hoffentlich ist noch etwas von dem Kräutlein übrig. Und hoffentlich wirkt es gegen Brandblasen.“

„Keine Sorge“, sagte Haschim. „Aber nun lasst uns gehen. Ich habe einen raschen Weg gefunden, als ich den Sarkojasth suchte.“

Wir liefen los, folgten Haschim, der uns leitete.

„Ihr habt den Sarkojasth gefunden? Er ist zerstört?“, fragte ich.

„Er ist unbrauchbar“, nickte Haschim. „Es war einfach. Ich musste nur den schem, das Schöpfungswort, auslöschen, das in das Holz geschnitten war. “

„Ähnlich des schem auf dem Pergament im Mund des Golem, den der Rabbi Löw einst in Prag erschaffen haben soll“, nickte ich.

„Ihr kennt die Legende.“

„Die nur eine Legende ist.“

„Wie Ihr meint, Kara Ben Nemsi“, gab Haschim zurück. „Wichtig ist, dass der Sarkojasth nun im Griechischen Feuer gänzlich verbrennen wird.“

Halef keuchte im raschen Lauf, der uns durch die Felsengänge führte. „Und wenn wir uns nicht eilen, verbrennen auch wir! Die Herren mögen ihre gelehrten Dispute unterlassen und rennen! Ich spüre schon das Feuer!“

Tatsächlich drang ein wabernder Schein durch die Gänge, der von den Wänden selbst herrührte. Es war, als bestünden sie nicht aus Felsen, sondern aus dunklem Glas, durch welches man ein grelles Feuer als mattes Leuchten erkennen konnte. Ob dies eine Wechselwirkung des Griechischen Feuers mit der Magie war – es mochte sein. Mir war nur wichtig, dass wir unseren Weg erkennen konnten. Denn die blauen Lichter an den Wänden der Felsengänge hatten einige Male geflackert und waren dann erstorben.

Um uns glommen die Wände – jedoch ohne dass die geringste Hitze zu empfinden war. Einzig unsere eiligen Schritte, das hastige Laufen trieben uns den Schweiß aus den Poren. Bald vernahm ich nur noch das Schlagen unserer Sohlen und das eigene Schlagen meines Herzens – der Lärm des Karauls war verstummt.

Und endlich schien ein Licht auf, ein natürliches Licht, das Licht des Tages!

Dann standen wir unvermittelt wieder an der Pforte am Flussufer, neben unseren Pferden.

Über uns drangen rauschende, brodelnde Laute aus dem Wald über der Schlucht, und über den Wipfeln waberte die Luft in der Hitze. Schon konnte man erste Flammenzungen sehen.

Doch bald mussten wir unsere Aufmerksamkeit von den Höhen abwenden, denn von jenseits des Flusses, dort, wo sich hinter der Brücke das Dorf befand, peitschten Schüsse auf, und weitere hörten wir von dem Weg, der durch den Wald hinauf zum Karaul führte. Ein Stakkato von Hufschlägen drang ebenfalls von dort herunter, dann sahen wir eine Staubwolke, und als sich diese lichtete, standen Reiter vor uns. Es waren die Skipetaren – sowohl die Brüder Bellios mit ihren blauen Filzkappen als auch die Löwinnen, die früheren Leibwächterinnen der Hexe Qendressa. Hinter ihnen ritten weitere Skipetaren heran. Auch vom Dorf her näherte sich eine Gruppe, zu Fuß und zu Pferde. Niemand hielt die Waffen im Anschlag, doch auch nicht völlig gesenkt – auch wir nicht. Mein Henrystutzen wog seltsam schwer, ich spürte einen ungewohnten Zweifel. Die Schüsse zuvor hatten zweifellos bedeutet, dass die Skipetaren sich ein Feuergefecht mit den Schergen des Schut geliefert hatten – oben vor dem Karaul und unten im Dorf. Und sie schienen siegreich gewesen zu sein, denn es war still, außer dem Brodeln des brennenden Karaul. Vor diesem Brand waren die Skipetaren den Berg hinunter geflohen, nicht etwa vor einer Übermacht an Söldnern mit der Koptscha, dem silbernen Signet des Schut: einem Kreis mit dem Czakan, dem Wurfbeil, darin.

Jetzt standen wir uns gegenüber, Blicke wurden ausgetauscht, die nicht feindselig waren, aber doch skeptisch, unsicher. Ich wusste nicht, wie Haschim die Skipetaren benachrichtigt hatte, noch weniger, mit welchen Worten er sie überzeugt hatte, zum Karaul zu kommen. Dies hatten sie rechtzeitig getan, und sie hatten zwar nicht die Freiheit von den Osmanen errungen, aber doch über jenen Mann, der sie gewiss noch grausamer unterjocht hätte. Vielleicht war es diese Erkenntnis, welche die Skipetaren trotz ihres Sieges nicht jubeln, sondern sie nüchtern und nachdenklich uns gegenüberstehen ließ.

Haschim entbot den Brüdern Bellios einen Gruß, den diese zurückgaben. Die Löwinnen schlossen sich an. Auch Halef und ich grüßten. Doch ich musterte die Gefährtinnen der Hexe. Wussten sie um den Verrat ihrer Herrin, waren sie eingeweiht gewesen – und kannten sie das Schicksal der Hexe? Ich kannte es ja selbst nicht. Sie war geflohen – wohin, das wusste nur sie. Ob sie wiederkehren würde, war ungewiss. Ich versuchte in den Gesichtern der Frauen zu lesen, doch sie schauten so streng wie zuvor, was aber nach einem bestandenen Gefecht nicht verwunderlich war.

Die Stille begann unangenehm zu werden. Halef wechselte von einem Fuß auf den anderen. Die Pferde der Skipetaren traten auf der Stelle.

Dann ein Ruf! Heiser, krächzend, aber fröhlich!

„Herr Kara! Herr Halef!“

Auf dem Weg, der von der Schluchthöhe zu uns führte, trabten zwei Maulpferde heran, eskortiert von einigen Skipetaren. Es war Abdi! Es gelang ihm, auf dem zotteligen Tier so stolz auszusehen wie ein siegreicher Recke auf einem Araberhengst. Und auf dem anderen schwankenden Rücken saß Schimin der Schmied, seine Frau vor sich, einen Arm schützend um sie gelegt. Halef und ich liefen der Gruppe entgegen. Die Brüder Bellios und die Löwinnen führten ihre Pferde beiseite, ein wenig lächelnd, schwach und erschöpft, aber immerhin. Durch dieses Doppeltor, mit jeweils einer Löwin und einem Bellios zur Rechten und zur Linken, schritten Halef und ich, und Abdi sprang aus dem Sattel und trat uns entgegen. Er sah geschunden aus, die Wunde seines abgetrennten Ohrs war schrecklich anzusehen, aber nahezu verheilt – mochte dies an dem Kräutlein liegen? Den Beutel damit trug Abdi nicht mehr am Gürtel – die Hexe hatte es ihm genommen und dem Schut übergeben, die Ergebnisse kannten wir nun.

Wichtig war, dass Abdi lebte – und sogar Schimin und seine Frau hatte befreien können.

Wir begrüßten uns herzlich – und es mochte sein, dass diese Darstellung von Vertrauen und Freundschaft die anderen berührte: Ein verhaltener Jubel kam auf, ein Rufen und Johlen, und dann krachten die Flinten und Gewehre in den Himmel, der sich verdunkelt hatte, von grauen Regenwolken und dem schwarzen Rauch des brennenden Karaul.

Wir hatten uns für die Nacht im Khan Kolamis eingerichtet. Die Skipetaren waren davongeritten. Haschim erklärte mir, dass er einen Bann von den Löwinnen genommen hatte, der ihnen zweifellos von der Hexe Qendressa auferlegt worden war, um sie unbewusst gefügig zu machen und alles Hexenwerk nicht zu bemerken. Ein allgemeines Vertrauen zwischen Skipetaren und eine persönliche Neigung ließen die Löwinnen dann mit den Brüdern Bellios eine Allianz eingehen, die ich schon in den Rhodopen bemerkte hatte und die sich nun, des Bannes entledigt, ihre Bahn brach.

Draußen hatte die Nacht begonnen, es regnete, aber die Schauer hatten das Griechische Feuer im Karaul und der Festung des Schut nicht löschen können. Ein heller Schein zeigte sich noch immer über der Felskante der Schlucht, als würde sich dort die Morgensonne erheben. Haschim sagte, dass das Feuer noch einen Tag und eine Nacht brennen würde und sich dann selbst aufgezehrt hätte. Bis dahin würde es aber im Innern der Felsen und Gemäuer bleiben und nicht auf die Wälder übergreifen, welche durch den Regen vor dem Brand geschützt wären. Haschim lächelte. Ich ahnte, dass er genau wusste, wovon er sprach.

Er bot Abdi an, sich um das Ohr zu kümmern. Halef hatte Abdi das Bündel mit dem Messer und dem abgetrennten Ohr mit betretener Miene überreicht. Abdi verkündete, dass er die Wunde tragen würde, bis er sich an der Hexe gerächt hatte. Das Messer würde ihm dazu dienen – für seine Kocharbeiten würde er es nie mehr nutzen, wohl aber, um es der Hexe ins Herz zu stoßen. Schimin erzählte, er habe einem reichen Mann einmal eine Nase aus Silber geschmiedet, er könne sich so etwas für Abdi ebenfalls vorstellen, nur eben als Ohr. Abdi lehnte ab – er wolle doch keine Diebe anlocken! Schimin berichtete auch, dass er es war, der die Übersetzung auf den Plänen und Zeichnungen angefertigt hatte. Der Schut hatte sie ihm vorgelegt, auf welchem Wege er auch immer daran gelangt war, und da Schimin auch in Wien seine Kunst gelernt hatte, konnte er zumindest die deutschen Zeilen in die serbische Sprache übertragen. Abdi hob die Brauen – Wien! Da war er doch auch einmal gewesen, im Gefolge des Sultans und …

Halef unterband den drohenden Wortwechsel. Dieser Schmäh hatte ihm bereits in der britischen Botschaft in Istanbul missfallen. Ich sah ihm an, dass er, zurück bei den Beduinen der Haddedihn, den dort wirkenden Lehrer Lohse wohl bitten würde, auch ihm einige deutsche Worte und Sätze beizubringen. Guter Halef! Er mag es nicht, wenn er nicht im Mittelpunkt stehen kann, außer er überlässt diese Position großzügig seinem Sihdi.

Ich besaß nun einen Plan der seltsamen Kesselöfen, in denen das blaue Feuer, die blaue Kraft, genutzt oder gebändigt werden konnte. Aber von deren Quelle, den blau leuchtenden, kugelförmigen Steinen oder Kristallen, von denen Schimin gesprochen und die der Schut als kalte Herzen bezeichnet hatte, wusste ich nichts weiter. Falls sich ein Vorrat davon im Karaul befunden hatte, würde das Griechische Feuer sie wohl verbrannt haben. Aber in den Fabriken des Schut, in den Tälern der Gebirge, fanden sich gewiss noch Reste. Wir würden uns dieser Dinge annehmen, wenn wir erst die Sklavinnen, die in den Fabriken zur Fronarbeit gezwungen worden waren, befreit hätten. Den Lageplan der Fabriken hatten wir ja in des Mübareks Haus in Ostromdscha erbeutet.

Abdi meldete sich zu Wort, als ich Ostromdscha erwähnte. Er hatte durch mich ja auch von Nebatja erfahren, der Kräutersammlerin. Er fragte, ob wir sie aufsuchen könnten, denn mit ihrer Hilfe mochte er wohl seinen Vorrat des Kräutleins wieder auffüllen. Es bestünde nämlich nicht allein aus einem einzelnen speziellen Gewächs, sondern erhielte seine Kraft zudem durch die Beimischung allerlei anderer Blätter und Pflanzen. Dies sei auch das Geheimnis, weswegen nie jemand außer seiner Familie über das Kräutlein verfügt hatte, und alle, die davon gehört hatten, jene einzelne Pflanze vergeblich in Büchern und in der Natur gesucht hatten. Ich nickte. Es sollte ja auch Menschen jenseits des indischen Subkontinents geben, die glaubten, es gäbe eine Kari-Pflanze, aus der allein man jenes berühmte Gewürz der Hindu-Küche gewönne, wenngleich es eben doch eine Mischung aus vielerlei Spezereien ist. Abdi lachte, hier war er in seinem Element. Aber als er allzu eifrig von einem gewissen Anglo-Inder erzählen wollte, gebot ich ihm doch Einhalt. Dieser Mensch war aus meinem Leben verschwunden, und ich war zufrieden so. Die Rache an einer gewissen Menschin, nein, Hexe, würde sich irgendwann vollziehen lassen. Und es gab noch andere, um die wir uns kümmern mussten, wenngleich freundschaftlich oder zumindest – geschäftlich.

Am nächsten Morgen würden wir nach Skutari reisen, um die Amerikaner Fontenoy und Beecher sowie auch einen toten Skipetarenfürsten zu treffen.

Der Sturz des Verschwörers

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