Читать книгу Rote Tulpe - Alexander Sandmann - Страница 9

Distanzierte Nähe

Оглавление

Frühjahr 1997

Die abgenutzten Bremsen seines Fahrrades quietschten unangenehm, als Thorsten vor dem Tor zum Gelände des Segelvereins anhielt, um seinen Schlüssel aus der Tasche zu kramen. Dass dieses rostige Schloss im Tor überhaupt noch funktionierte, wunderte ihn von Mal zu Mal mehr. Hier lag so einiges im Argen, obgleich es dem Verein finanziell wirklich gut ging. Teilweise sogar so gut, dass Ausflüge auf Kosten der Vereinskasse vorgenommen werden konnten. Aber um das Tor kümmerte sich niemand. Eines Tages würde dieses ächzende Stück Metall einfach aus seiner Verankerung brechen. Kopfschüttelnd schloss er es hinter sich und stieg wieder auf sein Rad. Er mochte es, den knirschenden Kies unter seinen Reifen zu hören und genoss dabei den Ausblick auf den kleinen See und einige Angler, die bei jedem Wetter tapfer am Ufer saßen und auf den großen Fang warteten. Nachdem er den Kiesweg hinter sich gelassen hatte, rollte er zwischen einigen Rosenbüschen hindurch und stellte sein Fahrrad in den Ständer am Kopf der steinernen Treppe, die einige Meter zum Clubhaus hinunter führte.

Er war noch allein auf dem Gelände, lediglich die sich im Wind raschelnden Pappeln durchbrachen die Ruhe. Thorsten setzte sich vor das Clubhaus auf eine wackelige, schwarz gestrichene Bank und blickte auf den See hinaus. Heute würde er Katharina wieder sehen. Schmetterlinge tanzten durch seinen Bauch. Noch vor wenigen Monaten hatte er nicht einmal von ihrer Existenz gewusst. Wie schnell er ein wohliges Bauchkribbeln gefühlt hatte, wenn sie in seiner Nähe war. Es hatte keinen Monat gedauert und er schlief abends mit Gedanken an sie ein und wachte morgens mit Gedanken an sie wieder auf. Sie war zu seiner Sonne geworden und er war die Erde, die sich um diesen Mittelpunkt drehte. Kam sie einmal nicht mit zum Unterricht, fiel er schlagartig in ein dunkles Loch, als hätte man ihm das Tageslicht geraubt.

"Ob sie wohl etwas davon ahnte?" fragte er sich oft, beinahe täglich. Und noch häufiger grübelte er darüber nach, was sie wohl für ihn empfand. Mochte sie ihn? Oder nicht? Die nun im Garten sprießenden Gänseblümchen hatten wirklich zu leiden. "Sie liebt mich! Sie liebt mich nicht! Sie liebt mich..."

So betete er sie förmlich an, hätte alles für sie getan. Ihr von seinen Gefühlen zu erzählen, wäre ihm jedoch niemals in den Sinn gekommen. Er war schlicht zu feige und hasste sich Jahre später für seine Feigheit. Alles hätte anders sein können. Wenigstens Klarheit hätte er erlangen können. Doch heute, ja heute würden sie zusammen segeln, wenn der Unterricht vorüber wäre. Jedenfalls hoffte er das inständig.

Die Bank drückte, der Junge stand auf und ging zum Schuppen, in dem er noch Restbestände Coka Cola vermutete, die von der letzten Club-Feier übrig geblieben waren. Das Vorhängeschloss klemmte und ließ sich erst mit kräftigem Ruckeln zum Aufspringen bewegen. Ein muffiger Geruch von feucht gewordenen Segelutensilien zog an ihm vorbei und er rümpfte die Nase. Hier bestand definitiv Renovierungsbedarf!

Er schaute sich um und suchte die Getränkekisten. Nichts. Alle waren verschwunden. Grummelnd hing Thorsten das Schloss wieder ein und drückte es zusammen, bis es einrastete. Im selben Augenblick hörte er Schritte hinter sich die Treppe hinabkommen und drehte sich um. Kilian kam auf ihn zu.

"Hi!", begrüßte ihn Thorsten. "Hi!" gab der Neuankömmling zurück und ergänzte: "Puh, heute steht wieder trockenste Theorie auf dem Programm, oder? Bei dem Wetter würde ich lieber eine Runde über den See drehen!"

Thorsten nickte stumm und in Gedanken versunken. Ja, eine Runde über den See. Mit Katharina. Nur sie und er. Allein. Vielleicht würde er am späten Nachmittag noch die Gelegenheit haben, ein wenig Zeit mit ihr allein zu verbringen, als ihm plötzlich etwas auffiel: "Sag mal Kilian, wo hast Du denn Deine Schwester gelassen?" fragt Thorsten so beiläufig wie möglich. Er hatte da gerade ein ganz ungutes Gefühl und sein Bauch krampfte sich zusammen. Dennoch bemühte er sich, sich nichts anmerken zu lassen, obwohl er sicher war, dass mittlerweile jeder um ihn herum wusste, was er für Katharina empfand. Es war einfach zu offensichtlich.

"Die kommt heute nicht...schreibt Montag eine Klausur und lernt." gab Kilian mit etwas angewiderter Miene zurück.

Die beiden Geschwister waren so unglaublich unterschiedlich. Sie, fleißig und motiviert, etwas aus ihrem Leben zu machen. In der Schule hätte man sie damals sicher einen Streber genannt, später wohl eher Karrierefrau. Er hingegen schien das genaue Gegenteil zu sein. Schule war eine Last, Lernen sowieso unnütz und Spaß stand im Vordergrund. "Command & Conquer", ein Echtzeitstrategiespiel für den PC, stand gerade hoch im Kurs, so dass die Wahl zwischen Lernen und Spielen meist auf Letzteres fiel.

So standen die beiden nur schweigend da und Thorsten versuchte, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Offenbar erfolglos, denn nach einigen Augenblicken der Ruhe merkte Kilian beiläufig an: "Sie lässt aber Grüße bestellen." Thorsten blickte überrascht auf. "Wie meinen?" dachte er. Das kam nun wirklich überraschend. Sie ließ explizit für ihn Grüße ausrichten. Oder? Nein. Sicher an alle. Und er war nur einer von vielen. "Danke. Bestell Ihr auch einen Gruß." gab er zurück und klammerte sich an den letzten Strohhalm, um doch noch einen positiven Effekt für sich erzielen und Katharina ein Zeichen zu geben, dass er sie...mochte. Gleich überlegte er, ob - und wenn ja, wie - er ihr jemals sagen sollte, was er für sie empfand. Die verschiedensten Situationen ging er in Gedanken durch, besann sich dann aber wieder auf die Realität und schrak vor seinem eigenen Engagement zurück. Immer häufiger verglich er sich mit einer Schnecke, die sich einen kleinen Schritt aus dem Häuschen wagte, ängstlich in die Welt blickte, sich dann aber lieber wieder ins sichere Heim zurückzog.

Nicht umsonst stieß ihn Kilian mit dem Ellenbogen in die Rippen: "Hey, was ist los? Du bist so still!" Thorsten versuchte zu lächeln. "Nichts, ich war nur gerade in Gedanken. Wo bleiben eigentlich die anderen?" Die beiden blickten sich um und eine Gruppe Jugendlicher gefolgt von Jugendwart Marcel kam die Treppe hinab. Flüchtig musterte Thorsten die kleine Gruppe, immer noch die Hoffnung in sich tragend, irgendwo Katharina erblicken zu können. Natürlich war sie nicht dabei. Spontan verging ihm die Lust auf Segeln und den ganzen Segelschein. Und so fuhr er unmittelbar nach dem Unterricht ohne große Umschweife und Erklärungen gegenüber den anderen nach Hause.

Glücklicherweise waren seine Eltern nicht zu Hause, so dass er keine langatmige Diskussion über "Warum bist Du denn schon wieder zu Hause?" führen musste. So ging er hoch in sein Zimmer, drehte die Stereoanlage auf, legte sich auf sein Bett und malte sich aus, wie schön der Tag hätte werden können.

Rote Tulpe

Подняться наверх