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ICECORE

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Distanz 148

In Photoshop sahen die Texte noch sauber aus, aber jetzt, als sie die TIFDatei in ihrem 3DProgramm öffnete, war die Schrift kaum mehr zu lesen. Diese Verarbeitungsfehler zwischen den Programmen traten immer dann besonders massiv auf, wenn man kurz vor einer Kundenpräsentation stand. Die sechsundzwanzigjährige Grafikerin fragte sich, ob ihre Berufswahl wirklich so klug gewesen war. Letztendlich war der Arbeitsmarkt im Computergrafikbereich hart umkämpft. Ihre verkrampfte Hand lockerte sich und ließ die bereits schweißige Maus los. Wenigstens konnte sie bei diesem Projekt von zu Hause aus arbeiten. Bei ihrem letzten Projekt, einem FullCGFeatureFilm, musste sie monatelang auf billigen IkeaStühlen sitzen und schlechten Kaffee trinken. Außerdem erntete sie böse Blicke, wenn sie mal vor zehn Uhr abends nach Hause ging. Aber dafür war man schließlich beim Film. Hier, zu Hause, würde sie sich diese Nacht sicherlich auch um die Ohren schlagen müssen, aber sie saß auf einem AeronBürostuhl und trank Tee. Trotzdem brauchte sie Sport zum Ausgleich, und sie freute sich auch schon auf ein verlängertes Skiwochenende mit ihren Freundinnen. Sie setzte sich auf, lief aus ihrem Schlaf/Arbeitszimmer zur kleinen Einbauküche, um heißes Wasser für ihren Earl Gray aufzusetzen. Das Verlangen nach einer Zigarette hatte sie seit dem Filmprojekt nicht ganz ablegen können, aber sie gab ihm nicht nach. Gerade wenn ein Projekt in Nachtarbeit und Stress überging, wurde das Verlangen sehr stark. Sie musste sich eingestehen, dass es in ihrer Zeit als 3DArtist beim Feature Film recht ungesund zugegangen war.

Die Türklingel läutete zweimal kurz und einmal lang. Das alte Zeichen, um zu signalisieren, dass es ein Familienangehöriger war. Da ihre Mutter nicht mehr lebte und sie keine Geschwister hatte, konnte es nur ihr Vater sein. Sie öffnete ihm die Tür, und der große Mann im dunkelbraunen Pelzmantel trat auf sie zu und umarmte sie. Da es draußen schneite und die Straßen ganz matschig waren, zog er gleich seine Stiefel aus und stellte sie vor die Tür. Annika hatte bereits einen Kleiderbügel in der Hand und wollte Thomas den Mantel abnehmen, doch der winkte ab: „Schon okay, ich bleibe nur ganz kurz.“

Er ging geradewegs in ihr Wohnzimmer und blieb vor dem Fenster stehen. Seine angespannte Haltung verriet ihr, dass ihrem Vater etwas auf dem Herzen lag, und sie hoffte, dass es sich nicht wieder um das alte Thema drehte. Zu viel hatte sie deswegen durchgemacht. Thomas drehte sich zu ihr um, blickte ihr aber nicht in die Augen.

„Ich werde eine Zeit lang verreisen.“ Bevor Annika ihm aufgebracht ins Wort fallen konnte, sprach er schnell weiter:

„Nicht in die USA, nicht mal in die Nähe davon. In die Antarktis.“ Annika neigte fragend ihren Kopf und verengte ihre Augen:

„Und das soll mich beruhigen? Du kommst mit dieser typischen Art an, die mir klar sagt, dass es wieder um Mutter geht.“ Ihre Enttäuschung und ihre damit verbundene Sorge konnte Thomas nicht ignorieren.

„Ich weiß, das mit Amerika ist damals dumm gelaufen. Ich habe viel zu unvorsichtig in Wespennestern herumgestochert.“ Zorn funkelte in Annikas Augen auf, und sie antwortete scharf:

„Du hast in Staatsgeheimnissen gestochert, schon vergessen? Den Amerikanern ist es doch egal, wonach ein Fremder sucht. Ein Land, das ständig in Angst vor Terroranschlägen steckt, ist in jeder Hinsicht paranoid. Was hast du erwartet?“ Sie schüttelte ihren Kopf, und ihre langen braunen Haare weckten Erinnerungen an Verena in ihm. Sie war fast in dem Alter wie ihre Mutter, als diese verschwunden war, nur zwei Jahre jünger. Vielleicht konnte er sie aus diesem Grund nicht loslassen. Annika wurde ihrer Mutter einfach immer ähnlicher. Achtzehn Jahre waren vergangen, aber die Sehnsucht nach ihr wollte nicht abklingen. Oder war es Besessenheit? Nachdem Annika ihn aus der Gewalt der amerikanischen Behörden freigeboxt hatte, versuchte er mehrere Jahre, wieder ein normales Leben zu führen. Verenas Platz nahm aber keine andere Frau mehr ein. Er war wohl wie eine dieser Papageienarten, die nur einen Partner haben würden und dann einsam starben. So hatte er sich gefühlt, bis sich der Inder bei ihm gemeldet hatte. Doch nun war seine Besessenheit neu entflammt, und er war fest entschlossen, sich auf dieses Abenteuer einzulassen.

„Die Geschichten, die du ausgegraben hast, sind doch nicht Grund genug, in die Antarktis zu fahren! Du bist doch gar nicht ausgebildet für so eine Reise!“, warf Annika ihm an den Kopf.

„Ich bin diesmal nicht alleine, Dr. Chakalakel kommt mit und noch ein ganzes Team von Spezialisten“, versuchte Thomas, sie zu beruhigen. „Biologen, Geologen, Antarktisspezialisten und jede Menge andere Wissenschaftler.“

„Und wieso darfst du da mit? Soviel ich weiß, sind die Aufnahmebedingungen bei einer Antarktisexpedition ziemlich hart. Dafür bist du doch nicht fit genug.“

„Ich glaube nicht, dass du beurteilen kannst, in welcher Kondition ich bin“, widersprach ihr Thomas.

„Ich habe als Dokumentarfilmer angeheuert. Dr. Chakalakel hat sie davon überzeugt, und wenn du willst, kannst du als meine Assistentin mitkommen.“ Auf dieses Angebot war sie nicht gefasst. Sie könnte bei einer Antarktisexpedition dabei sein? Er wusste, dass eins ihrer Hobbys das Reisen in exotische Länder war. Oder an abgelegene Orte, an denen man sich nicht wie ein gewöhnlicher Tourist vorkam. Ihr Zorn wich Neugierde, aber sie war immer noch sehr misstrauisch.

„Wer sind diese Leute? Das ist doch keine offizielle Expedition?“

In das ernste Gesicht des großen Mannes schlich sich ein leichtes Lächeln: „Das musst du Dr. Chakalakel fragen.“

Distanz 147

Nachdem ihr Vater gegangen war, schwirrte sein Angebot noch in ihrem Kopf herum. Es hatte für sie einen gewissen Reiz. Bisher waren die Ziele, zu denen sie gereist war, in tropischen Gefilden angesiedelt. In kalte Regionen hatte sie es außer im Skiurlaub nie gezogen. Doch die Antarktis war Abenteuer pur. Es würde auch kein Spaßurlaub werden, sondern ein Job.

Andererseits wollte sie sich nicht kopflos in solch eine Reise stürzen. Sie musste sich erst mal genauer darüber informieren, um was für eine Expedition es sich handelte und wer das Kommando hatte. Sie war vorsichtig, denn ihr Vater hatte sich nur aus einem Grund darauf eingelassen, also hatte diese Expedition auch etwas damit zu tun.

In einer Woche wollten sie aufbrechen, hatte ihr Vater gesagt. Folglich hatte sie ein paar Tage Zeit, im Internet zu recherchieren ? und morgen würde sie den Inder ausfragen.

Distanz 146

Den halben Nachmittag hatte Annika damit verbracht, Schlaf nachzuholen. Sie hatte noch bis fünf Uhr früh gearbeitet und dann die finalen Daten per FTPZugang auf den Kundenserver hochgeladen. Das war jetzt die zweite kostenlose Änderung, und ab der dritten würde es teuer werden. Eine alte Regel, die mittlerweile auch der Kunde kannte. Daher rechnete sie nicht damit, dass noch weitere Änderungen kommen würden. Es war schon halb sechs, als sie mit ihrem Ford Ka in den Garagenhof eines Wohnblocks hineinfuhr. Im dritten Stock bewohnte ihr Vater eine Mietwohnung, in der sie aufgewachsen war. Es war sozusagen ihr Elternhaus. Ab dem neunten Lebensjahr lebte sie mit ihrem Vater alleine dort. Manch einer hätte nach dem Verlust seines Lebenspartners die Wohnung gewechselt, aber ihr Vater nicht. Er klammerte sich an alle Dinge, die ihn an Verena, ihre Mutter, erinnerten. Das fünfstöckige Gebäude war ein Altbau aus dem neunzehnten Jahrhundert. Ihre Mutter wollte wenigstens den Charme eines Altbaus haben, wenn sie sich schon kein Eigenheim leisten konnten. Dafür gab es keinen Aufzug, nur ein breites Treppenhaus, welches Annika, ohne in Atemnot zu gelangen, hochstieg. Das Quietschen und Ächzen der alten Holzstufen ließ Erinnerungen an ihre Kindheit wach werden. Ihre Kindheit war sehr kurz gewesen. Mit fünfzehn Jahren schmiss sie fast alleine den Haushalt, während ihr Vater arbeiten musste. Vielleicht war sie deshalb so schnell mit ihrem Studium fertig gewesen. Jetzt, mit sechsundzwanzig, hatte sie auch schon so einiges erlebt, war viel gereist und hatte sogar an einem Spielfilm mitgewirkt.

Mit dem Zeigefinger drückte sie rhythmisch das Familienklingel¬zeichen an der Wohnungstürglocke. Sie hatte zwar noch einen Wohnungsschlüssel, aber sie wollte nicht einfach hineinplatzen und vielleicht einem halbnackten Dr. Chakalakel überraschen. Diesen Mann, den Thomas in Indien entdeckt hatte, kannte Annika nicht, und sie hatte auch nie ein Foto gesehen. Sie war gespannt auf ihn.

Ihr Vater öffnete die Tür und wirkte weniger ernst als gestern. Er sah irgendwie zufrieden aus. Er bat sie herein und machte eine einladende Geste ins Esszimmer, an dessen Esstisch ein Inder saß. Sollte das Dr. Chakalakel sein? Hatte ihr Vater nicht gesagt, dass er dreiundfünfzig wäre? Doch jetzt, im Jahr 2012, musste er mittlerweile neunundfünfzig Jahre alt sein. Sie erinnerte sich noch genau, als ihr Vater Tangatjen Chakalakel vor sechs Jahren kennengelernt hatte. Da war er bereits dreiundfünfzig Jahre alt. Doch der attraktive Inder, der sie mit seiner großen Nase und den tiefliegenden Augen an den Bollywoodstar Shah Rukh Khan erinnerte, konnte unmöglich neunundfünfzig Jahre alt sein. Höchstens dreißig, oder hielten sich Inder so gut? Er stand auf, reichte ihr die Hand und nannte dabei in gebrochenem Deutsch seinen Namen:

„Hallo, Sie sind sicher Thomas Tochter? Mein Name ist Jenay Chochin, ich bin der wissenschaftliche Assistent von Dr. Chakalakel.“

Auch seine Mimik ähnelte dem des Bollywoodstars. Sie erwartete nur noch, dass sich seine Augen mit Tränen füllen und er anfangen würde zu tanzen.

„Stimmt etwas nicht, Miss Annika?“ Seine Frage war wohl auf ihren erstaunten Blick zurückzuführen. Blut schoss ihr in die Wangen. Hatte sie ihn so lange erstaunt angesehen?

„Ach, wollen wir uns nicht einfach duzen?“

„Duzen?“, fragte Jenay, während er seine rechte Augenbraue hochzog.

„Du zueinander sagen, statt Miss Annika. Annika reicht, und ich nenne dich Jenay. Okay?“ Hoffentlich hatte er nicht das Gefühl, wie ein Behinderter behandelt worden zu sein, schoss es ihr danach noch durch den Kopf.

„Okay, Annika“, sagte er und legte ein charmantes Lächeln à la Shah Rukh Khan auf. Aus dem Wohnzimmer, welches an das Esszimmer grenzte, kam nun ein älterer Inder. Diesmal war es Dr. Chakalakel, und er sah auch so aus, wie sie ihn sich vorgestellt hatte.

Distanz 145

Thomas hatte eine Menge Wurst, Käse und Schinken aufgetischt, und an Tomaten, eingelegten Oliven und sonstigen Leckereien fehlte es nicht. Sie saßen zu viert um den Esstisch herum, und Dr. Chakalakel erzählte auf Englisch, wie er Thomas in Indien kennengelernt hatte. Es war im Jahr 2006 gewesen, als er mit dem fremden deutschen Mann in Varakulam zusammenstieß. Im wahrsten Sinne des Wortes war Thomas mit seinem Leihwagen in das kleine dreirädrige Ottokar von Dr. Chakalakel gefahren. Aber diese Geschichte kannte Annika bereits von ihrem Vater. Sie versuchte, das Gesprächsthema auf die bevorstehende Reise zu lenken, was auch kein Problem war. Der kleine alte Inder war Feuer und Flamme. Thomas genoss es, dass einmal ein Verbündeter seine Tochter mit diesem Thema konfrontierte. Da sie gut Englisch verstand und der indische Dialekt nicht völlig unverständlich war, konnte sie ihm gut folgen.

Der Doktor holte weit in die Vergangenheit aus:

Distanz 144

Es war im antarktischen Sommer 1988, als er das erste Mal in Wilkesland war. Als Geologiestudent kam er über viele Umwege und Beziehungen zu einer norwegischen Antarktisexpedition. Das Ziel dieser Forschungsreise sollte es sein, Eisproben aus sehr tiefen Eisschichten der Antarktisgletscher zu bergen. „Eiskernbohrungen“ nannten die Forscher diese Tätigkeit. Tangatjen Chakalakel war schon immer fasziniert von diesem eingefrorenen Kontinent, der in einem extremen Kontrast zu Indien stand. Eine kilometerdicke Eisdecke hatte sich seit dreizehn Millionen Jahren über ein Land gelegt, das zuvor in manchen Teilen dem Klima Indiens sogar ähnlich gewesen war. Am Rande des transantarktischen Gebirges hatten sie eine Containerstation errichtet. Drei Monate hatte er dort mit den Norwegern verbracht, die ihm den einfallsreichen Spitznamen „Ghandi“ verpasst hatten. Sie waren in der Einsamkeit schnell zu Freunden geworden. Mit Hektor Amundsen verstand er sich besonders gut. In der letzten Woche seines Aufenthalts stießen sie beim Bohren in etwa eintausendsechshundert Metern Tiefe auf etwas, das ihren Bohrkopf völlig zerstörte. Als sie ihn näher untersuchten, stellten sie fest, dass er sich nicht nur deformiert hatte, sondern mit einer unbekannten metallischen Legierung verschmolzen war. Mithilfe der Atomspektroskopie versuchten sie, die genaue elementare Zusammensetzung des fremden Materials zu bestimmen. Dies scheiterte daran, dass sich die Legierung nicht in einen gasförmigen Zustand überführen ließ. Für dieses Verfahren war das nötig, aber das unbekannte Material ließ sich einfach nicht verdampfen. Für die meisten stand fest, dass es nicht von der Erde stammen konnte. Wilde Spekulationen machten die Runde, ScienceFictionKlassiker wurden zitiert. Es war, als hätten sie den „Goldenen Gral“ der Antarktis gefunden.

Aber so aufregend wurde es dann doch nicht. Zumindest nicht für Tangatjen Chakalakel, der wieder zurück nach Indien musste. Hector versprach ihm aber, ihn wegen des Fundes auf dem Laufenden zu halten. Tangatjen hörte jedoch nie wieder etwas von ihm. Natürlich versuchte er, Näheres über seinen norwegischen Freund herauszufinden. Er stolperte, ähnlich wie Thomas seinerzeit in den USA, über Geheimniskrämerei und Lügen, bis er mit Sicherheit sagen konnte, dass alle norwegischen Kollegen tot waren. All dies hatte er über Recherchen von Indien aus herausgefunden. Durch seine Fragen über den außergewöhnlichen Fund unter dem Eis wurden Personen auf ihn aufmerksam, die auch ihm nach dem Leben trachteten. Wäre da nicht eine Organisation aus dem Schatten getreten, die sich „Blizzard“ nannte, wäre er wahrscheinlich schon lange tot. Hinter Blizzard steckte ein deutscher Konzern. Diese Information konnte er mit der Zeit herausfinden. Wer und wieso sie ihn rechtzeitig gewarnt hatten, erfuhr er erst vor vierzehn Tagen. Kurze Zeit danach rief er Thomas an.

Distanz 143

Dr. Tangatjen Chakalakel machte eine Pause und schaute erwartungsvoll in die Runde. Annika sah ihren Vater mit leicht offen stehendem Mund an. Thomas nickte bestätigend.

„Wie ich es dir damals erzählt habe.“

„Was hat Ihre Frau beruflich gemacht?“, fragte ihn Dr. Chakalakel. „Sie war Genetikerin, kurz vor ihrem Diplom“, antwortete Thomas mit starrem Blick, der verriet, dass er gedanklich schon woanders war.

„Dann müssen sie etwas Biologisches entdeckt haben. Wieso sollten sie damals sonst eine Genetikerin mitgenommen haben?“, warf Jenay ein.

Das ging Annika zu weit.

„Wollen Sie ernsthaft behaupten, dass dort ein Ufo gefunden wurde? Sozusagen ein Roswell der Antarktis?“ Annika hatte Probleme, an solche Dinge zu glauben, da für sie Außerirdische nur in Büchern und Filmen vorkamen. Das war irgendwie falsch.

„Was ist Roswell?“, fragte Dr. Chakalakel.

„Das soll eine UfoAbsturzstelle gewesen sein. Area 51 ist doch sehr bekannt …“, versuchte Jenay dem Doktor zu erklären, doch der schüttelte nur den Kopf. Annika fühlte eine innere Unruhe aufkommen, angeblich hatte sie diese Ungeduld von ihrer Mutter geerbt.

„Jetzt erzählen Sie doch mal von der Antarktisexpedition! Der bevorstehenden!“, fügte Annika noch schnell hinzu, damit der Doktor nicht wieder in die Vergangenheit abrutschte.

Tangatjen Chakalakel faltete seine Hände wie zum Gebet und lehnte sich seinen Zuhörern entgegen:

„Wie ich erwähnte, hat sich die Organisation Blizzard nach Jahren wieder bei mir gemeldet. Sie sind es, die alles finanzieren und organisieren. Seit Jahren beobachten sie einen speziellen Fleck in der Antarktis. Es ist der Ort, an dem ich damals meine Eiskernbohrungen gemacht habe. Seitdem die Amerikaner die Norweger vertrieben haben, besetzen sie diesen speziellen Ort mit einer amerikanischen Forschungsstation. Nur damit kein anderer auf die Idee kommen könnte, dort Bohrungen vorzunehmen. Nach Regierungswechseln und großen Haushaltslöchern in den USA musste der Betrieb dieser Station dann letztendlich eingestellt werden.“

„Antarktisstationen können sehr viel Geld verschlingen. Besonders wenn sie über so lange Zeit ständig erneuert werden müssen“, fügte Thomas ein. Dr. Chakalakel fuhr fort:

„Als die Amerikaner endlich abgezogen sind, startete die BlizzardExpedition zu diesem fernen Ort, um heimlich Bohrungen durchzuführen.“ Dr. Chakalakel machte eine Pause, die Annika nutzte, um ihm gezielt Fragen zu stellen.

„Wer steht überhaupt hinter Blizzard? Kennen Sie Namen? Und wieso sind die sich so sicher, dass dort noch etwas zu entdecken ist?“ Thomas schaute seine Tochter so verwundert an, als hätte er sich diese Frage nie gestellt.

„Vielleicht haben die Amerikaner schon alles ausgegraben und sind deshalb weg“, führte sie ihre Bedenken genauer aus.

Dr. Chakalakel schmunzelte.

„Es ist noch da. Das bestätigte mir Herr Müller. Das ist der Mann, der mich übrigens anrief und zur Expedition einlud. Er sagte mir, sie haben bereits mehrere Testbohrungen in Umkreis von fünfhundert Metern gemacht und sind immer auf das gleiche Ergebnis wie ich vor vierundzwanzig Jahren gekommen: mit einer unbekannten Legierung verschmolzene Bohrköpfe. Das bedeutet, dass es mindestens einen Durchmesser von einem Kilometer hat. So etwas können auch die Amerikaner nicht abtransportieren. Besonders, wenn es unter einer Meile Eis liegt.“ Er spülte seine Worte mit einem großen Schluck Wasser hinunter.

„Aber wieso fahren sie wieder dorthin? Um noch mehr Bohrungen zu machen? Was erwarten die sich davon? Verstehen Sie mich nicht falsch, aber als Wissenschaftslaie wundere ich mich einfach, dass diese Organisation noch mal dorthin fährt, um weitere Eiskernbohrungen zu machen. Ergibt das Sinn?“ Bei ihren letzten Worten wandte sie den Blick zu ihrem Vater.

„Sie werden dort bohren, um runterzugehen“, antwortete Thomas trocken.

Annika fühlte sich wie vom Blitz getroffen. Die Expedition, die in ihrem Kopf eine kleine Antarktisreise von Verschwörungs¬anhängern war, wuchs schlagartig zu einem Großprojekt an. Was war nötig, um in eine Tiefe von eintausendsechshundert Meter unter das Eis zu gelangen? Auf jeden Fall größere Maschinen. Diese mussten auf einen Gletscher in dreitausend Metern Höhe gebracht werden. Noch einmal fragte sie Dr. Chakalakel, wer genau hinter Blizzard steckte.

„Also, ich weiß nur so viel: Ein deutsches Bergbauunternehmen wurde seinerzeit vom amerikanischen Militär beauftragt, eine Tunnelbohrmaschine zu entwickeln, mit der man sehr tief in antarktische Gletscher bohren kann“, antwortete Dr. Chakalakel. „Seeger Bergbau war die Firma, die das richtige Knowhow hatte. Sie haben sich schon 1988 mit Bohrungen auf dem Mars befasst. Jedenfalls hatten sie damals sehr fortschrittliche Technologien entwickelt, sind aber nach dem Auftrag für die Amerikaner schnell bankrottgegangen. Damals gab es diesen Bergbauskandal, für den Seeger Bergbau verantwortlich gemacht wurde, und das gab ihnen den Rest.“

„Was ist denn da passiert?“, fragte Annika. Dr. Chakalakel musste überlegen, aber Thomas übernahm die Erklärung:

„Ende 1994 gab es im Ruhrgebiet ein Bergbauunglück in einem Tunnel, in dem die neuesten Maschinen von Seeger Bergbau eingesetzt wurden. Dem Unternehmen wurde vorgeworfen, fehlerhafte Maschinen eingesetzt zu haben. Ein paar Menschen sind gestorben, und dann war der Ruf des Unternehmens zerstört. Nach meiner Internetrecherche hatten viele amerikanische Investoren ihre Finger im Spiel, bis hin zu einer Person Namens Major Hidge vom amerikanischen Militär.“ Thomas hatte wieder diesen verschwörerischen Blick, mit dem er leidenschaftlich über die wildesten Theorien sprach.

„Der Firmenchef Dr. Seeger und seine Familie kamen kurze Zeit später bei einem Autounfall ums Leben. Als ich das alles entdeckte, wurde mir klar, dass hier mutmaßlich Menschen aus dem Weg geräumt wurden, um etwas sehr Wichtiges geheim zu halten!“

Annika bereute ihre Frage mittlerweile, denn sie konnte diese Verschwörungsgeschichten nicht mehr hören. Nach Thomas’ Wahrheitssuchaktion in Amerika hatte er die dort gesammelten Informationen zu einer riesigen Verschwörungskonstruktion zusammengesetzt. Über mehrere Jahre hatte er nicht aufgehört, davon zu sprechen. Bis sie ihm eines Tages deutlich die Meinung gesagt hatte. Dann war lange Zeit Ruhe gewesen ? bis jetzt. Und dementsprechend stellte sie ihre Frage recht schroff: „Was hat das denn jetzt alles wieder mit dieser Expedition zu tun? Ich will doch nur einfach wissen, wer das Ganze macht.“ Thomas war es sichtlich unangenehm, dass seine Tochter vor seinen Gästen so aus dem Häuschen geriet. Annika empfand ihre Reaktion im Nachhinein auch etwas als übertrieben, aber Dr. Chakalakel antwortete, als wäre es eine ganz normale Frage gewesen. „Die Firma DDC, Deep Digging Constructions, übernahm die Restbestände des zerstörten SeegerKonzerns. Deren Geschäftsführer ist Alexander Müller der Mann, der mich anrief. Am zehnten Januar starten sie von Punta Arenas in Chile. Das liegt am südlichsten Ende von Südamerika. Anfang des Jahres ist in der Antarktis Sommer, und es ist durchgehend hell, also perfekt für einen Ausflug jenseits des transantarktischen Gebirges im Wilkesland. Und wir dürfen mit.“

Annika war sprachlos, dass es der Inder endlich auf den Punkt gebracht hatte. „Und diesen Leuten können wir vertrauen?“, hakte sie noch nach.

„Das sind nicht irgendwelche Fanatiker, da kommen auch noch seriöse Wissenschaftler mit. Natürlich ist es keine offizielle Expedition. Wir wollen auch nicht die Aufmerksamkeit der Amerikaner erregen“, antwortete Thomas, als gehöre er schon zu Blizzard. Jenay beugte sich etwas näher zu Annika hin und blickte sie ebenfalls verschwörerisch an:

„Da kommen nur Profis mit. Sonst wäre ich auch nicht mitgekommen.“

Jetzt verstand sie, dass alle drei Anhänger der Verschwörungstheorie waren. Und dann waren da noch diese angeblich seriösen Wissenschaftler, die mithilfe einer geheimen Organisation fanatischen Zielen nachjagten. Und das alles finanziert von einem Bergbauunternehmen? Konnte es sich ein Unternehmen leisten, fanatisch zu sein? Wohl kaum. Sicherlich standen finanzielle Gründe dahinter. Der Dokumentarfilm konnte ein Grund sein und der Fund eines außerirdischen Artefakts ein weiterer.. Aber wie weit würden sie sich dabei in legalen Grenzen bewegen? Annika musste mit Grauen an die Zeit zurückdenken, als ihr Vater in der Gewalt der amerikanischen Behörden war. Unter keinen Umständen wollte sie Gesetze brechen.

Und sie wollte auch nicht, dass ihr Vater es tat.

Distanz 142

Es war eine typische Warteschlange für Fluggäste, die ihr Gepäck am Münchner Flughafen abgaben. Genau in der Mitte davon befanden sich Thomas, Jenay und Dr. Chakalakel. Thomas schaute wieder auf die Uhr. Obwohl der Flieger erst in einer Stunde starten würde, wollte er mit allen zusammen einchecken, damit sie auch Sitzplätze nebeneinander bekamen.

Hatte es sich Annika doch noch anders überlegt? Im Laufe der vergangenen Woche hatte sie sehr unentschlossen gewirkt. Vielleicht war es von Thomas keine gute Idee gewesen, sie auf diese Expedition mitnehmen zu wollen. Aber sie hatten schon seit geraumer Zeit nichts mehr miteinander unternommen, und er befürchtete, sie könnten sich entfremden. Er könnte es nicht ertragen, noch ein Familienmitglied zu verlieren.

Thomas bemerkte in Jenays Gesicht ein breites Lächeln, und seinem Blick folgend sah er am anderen Ende des Terminals Annika auf sie zu marschieren. Annika winkte den drei Expeditionsteilnehmern zu und machte keine Anstalten, mit ihrem Trolly im Schlepptau am Ende der Schlange stehen zu bleiben. Sie hob unbekümmert das schwarzweiße Abgrenzungsband hoch und schlüpfte geschmeidig in die ZickzackSchlange zu den anderen. Dass sie ein paar Passagiere verstimmt ansahen, kümmerte sie überhaupt nicht.

Jenay war sehr angetan von ihrem Auftreten. Sie bewegte sich sehr selbstbewusst in ihrem lässigen Outfit auf sie zu. Sie trug schwarze halblange Lederstiefel, Blue Jeans, eine schwarze gefütterte Lederjacke und eine Kappe mit Fellbezug. Jenay war froh, dass er seine Kordhose gegen ein paar Jeans eingetauscht hatte. Im Heimatdorf seiner Eltern hatte er die meiste Zeit des Jahres ein buntes Hemd und ein Stofftuch um die Hüften getragen. Aber hier versuchte er, sich dem Trend der Europäer besser anzupassen.

„Schön, dass du doch noch gekommen bist! Ich hoffe für dich, dass du ein paar wärmere Sachen dabei hast“, sagte Thomas etwas spitz.

„Na klar, bin bestens gerüstet. Du aber auch, wie ich sehe.“ Dabei deutete sie auf den Gepäckwagen hinter Thomas, auf dem sich neben den Koffern von Jenay und Dr. Chakalakel auch noch zwei Metallkoffer, drei schwarze große Kamerataschen und ein normaler SamsoniteKoffer stapelten. Die Kamerataschen konnte sie noch verstehen, schließlich hatte ihr Vater die Aufgabe, eine Dokumentation zu drehen. Aber was war in den Metallkoffern?

„Zwei HDCamcorder, zwei Digitalspiegelreflexkameras, zwei Laptops, jede Menge Akkus, Kabel, Objektive und ein nicht ganz leichter Solarstromgenerator. In der Antarktis gibt es nämlich keine Steckdosen. Außerdem müssen wir alles doppelt haben. Sollte ein Gerät versagen, ist die Dokumentation gestorben“, antwortete Thomas.

„Solange ich als deine Assistentin nicht alles schleppen muss …“, kommentierte Annika die belehrenden Worte ihres Vaters.

„Und habt ihr auch genug warme Sachen dabei?“, wandte sie sich von ihrem Vater an die zwei Inder und wiederholte für Dr. Chakalakel ihren Satz auf Englisch.

„Noch nicht alles“, antwortete Tangatjen.

„In Punta Arenas werden wir die nötige Kleidung für die Antarktis kaufen. Dort ist es billiger, und wir müssen nicht so viel mitschleppen.“

Dr. Chakalakel hatte sie in den letzten Tagen mehrmals darüber informiert, wie ihre Reiseroute sein würde, aber Annika konnte sich nur merken, dass sie irgendwann von Chile aus zur Antarktis reisen würden. Aber wie lange würden sie brauchen? Der Doktor wollte sich da irgendwie nicht richtig festlegen, zu viel würde wohl vom Wetter abhängen. Das Ganze würde aber höchstwahrscheinlich nicht länger als eine Woche dauern. Jenay erklärte ihr gern noch mal den Reiseplan.

„Von München nach Frankfurt dauert es nur fünfzig Minuten, wir können sogar in der Maschine bleiben, aber dann geht es über den Atlantik. Dreizehn bis vierzehn Stunden Flugdauer von Frankfurt nach Buenos Aires. Aber an Bord des Airbus 380 gibt es ein Bordrestaurant. Schon mal mit einem Airbus 380 geflogen?“, fragte Jenay nach.

„Das sind diese zweistöckigen Riesen, oder?“ Jenay nickte auf Annikas Frage zwei Mal.

„Nein, bin ich noch nicht, aber so lange bin ich schon geflogen. Ich mag das gar nicht. Aber vielleicht kann man sich in dem fliegenden Schiff ganz gut die Füße vertreten“, scherzte Annika. Jenay lächelte sie breit an, aber Annika war unsicher, ob er den Scherz verstanden hatte.

„Geht es in Buenos Aires gleich weiter, oder können wir dort eine Pause machen?“

„Ein paar Stunden werden wir dort auf unseren Anschlussflug warten müssen, aber dann geht es weiter nach Santiago de Chile, Flugzeit eine Stunde und fünfunddreißig Minuten, und von Santiago de Chile nach Puerto Montt in knapp zwei Stunden. Dort machen wir dann einen Tag oder mehr Pause.“ Die letzten Worte sprach er ganz schnell aus, als er sah, wie Annikas Augen immer größer wurden.

Distanz 141

In Frankfurt ließ Jenay Annika am Fenster sitzen. Er hatte bereits das Vergnügen, acht Stunden an einem Flugzeugfenster zu sitzen, als sie von Indien nach Deutschland gekommen waren. Er fragte sich, ob es nicht kürzer gewesen wäre, in die andere Richtung um die Erde zu fliegen oder über Australien und Neuseeland gleich zur Antarktis. Dr. Chakalakel hatte die Route geplant, und der musste sich natürlich an die DDCCompany halten, die ihren Startpunkt in Chile hatte. Sie saßen alle vier in einer Reihe sehr weit vorne im Airbus, aber nicht in der ersten Klasse. Diesen Luxus erlaubte ihnen DDC nicht. Dann beschleunigte der Airbus 380 auf der Startbahn und erhob sich zu seiner dreizehnstündigen Flugreise in den Himmel Richtung Buenos Aires.

Icecore

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