Читать книгу Icecore - Alexander Stania - Страница 6

Distanz 120

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Der Großteil der Besatzung stieg in die Mil Mi26, die noch im Hangar stand. Ihre Plätze waren alle zugeteilt, und Annika saß mit ihrer Kameraausrüstung ganz vorne neben Alexander Müller am Rand. Sie hätte sehr gerne neben ihren Freunden gesessen, doch Dr. Chakalakel, Jenay und Octavian saßen ganz hinten in der letzten Reihe. Herr Müller hatte sie ganz bewusst neben sich setzen lassen, damit sie besser filmen und er wahrscheinlich Regisseur spielen konnte. Der blonde Geschäftsmann war ihr irgendwie nicht ganz geheuer, aber sie konnte nicht sagen, weshalb. Vielleicht lag es auch daran, dass sie sich irgendwie unter Beobachtung fühlte. Dieses Gefühl verstärkte auch Dr. Seeger, der mit Dr. Möree am anderen Ende der vordersten Sitzreihe saß. Den einzigen Lichtblick bildete Adrian Kolarik, der seinen Platz in ihrer Reihe gleich neben Herrn Müller hatte.

In ihren orangefarbenen Einheitsanzügen sahen sie alle aus wie Astronauten. Es fehlte eigentlich nur noch, dass sie mit den Füßen nach oben und den Köpfen nach unten hingen, bereit, in den Weltraum geschossen zu werden. Ein hydraulisches Brummen begleitete das Schließen der Laderampe. Durch ein kleines Seitenfenster konnte sie Thomas sehen, der von draußen den Hubschrauber filmte. Die Mil Mi26, der Dr. Seeger den Namen „Helena“ gab, rollte an ihrer Schwester „Leandra“ vorbei, deren achtblättrige Rotoren sich bereits drehten und ein lautes Flattern erzeugten. Thomas hielt mit seiner HDKamera ohne Unterbrechung auf Helena, die ihre Rotorblätter schon im Rollen in Bewegung setzte. Das Rotorengeräusch, das in unendlich vielen Schlägen die Luft zerriss, wurde zusammen mit den zwei aufheulenden Turbinen unter den Rotorblättern zu einem ohrenbetäubenden Lärm. Der Wind und der Lärm, den diese Maschine erzeugte, wurden immer stärker und kündigten an, dass die Hubkraft bald so groß war, um Helena in die Luft zu heben. Doch es wurde noch mal deutlich lauter, und Thomas wünschte sich, Oropax in die Ohren gesteckt zu haben. Zusätzlich war der erzeugte Wind so stark, dass er Mühe hatte, die Kamera ruhig zu halten. Einen Wackeleffekt mussten sie beim Nachbearbeiten jedenfalls nicht mehr hinzufügen, dachte Thomas vergnügt. Er fühlte sich richtig lebendig. Er hatte nicht damit gerechnet, dass ihnen solche technischen Mittel zur Verfügung stehen würden. Es war einfach fantastisch, aus so einer kurzen Distanz einen derart riesigen Hubschrauber zu filmen. Die Helena hob ab und fuhr, kurz nachdem sie den Kontakt mit dem Boden verlor, ihr Fahrgestell ein. Sie schwebte unter ohrenbetäubenden Luftschlägen über das Rollfeld und blieb in etwa fünfzig Metern Höhe in der Luft stehen. Durch den Sucher seiner Kamera konnte er Mascha und einen ihrer russischen Kollegen im Cockpit sehen. Sie lächelte und zeigte mit dem Daumen nach oben. Schnell drang der anschwellende Lärm weiterer Turbinen und Rotorschläge in Thomas’ Bewusstsein. Leandra, der zweite Helikopter, fuhr seine Motoren in Fluggeschwindigkeit hoch. Dies war das Zeichen für Thomas, seine Dreharbeiten abzubrechen und schleunigst in die zweite Mil Mi einzusteigen. Während er die Laderampe hinaufrannte, fing sie an, sich zu schließen. Im Laderaum empfing ihn der Systemadministrator Peter Wyssmann, der durch sein breites Lächeln und die dicken Plusgläser in seiner ovalen Brille die Ausstrahlung eines sehr freundlichen jungen Burschen hatte. Durch die sich gerade schließende Laderampe donnerte der Lärm der Rotoren, sodass Thomas nichts verstehen konnte. Peter gab ihm mit Handzeichen zu verstehen, dass er mit ihm nach vorne in die Maschine gehen solle. Thomas folgte ihm vorbei an den unter Plastikplanen abgedeckten Geräten und Holzkisten, bis kurz vor die Tür, die zur Bordtoilette und zum Cockpit führte. Hier waren ihre Sitze angebracht worden, auf die sie sich sofort setzten und die Gurte anlegten. Leandra hob ab. Sie saßen sich gegenüber mit dem Rücken zur Bordwand und mussten ihre Köpfe stark verdrehen, um zu den Fenstern heraussehen zu können. Thomas war innerlich so aufgeregt, dass er das Weiterfilmen völlig vergessen hatte und seine HDKamera fest auf seinem Schoß umklammert hielt. Es war nicht sein erster Hubschrauberflug, aber die Größe der Maschinen und der Aufwand an Personal und Equipment stellten alles in den Schatten, was er bisher als Journalist und Kameramann erlebt hatte. Ab jetzt hatten sie keine Gemeinsamkeiten mehr mit Touristen, die einen gefahrlosen Abenteuerurlaub machten. Die Mission hatte mit dem Abheben der beiden Hubschrauber definitiv begonnen, und nun war er buchstäblich auf dem Weg seiner finalen Suche.

Peter Wyssmann hingegen sah diese Expedition nicht ganz so dramatisch. Obwohl er in diversen Firmen gearbeitet hatte, deren Personalzahl nicht selten die Tausend überschritt, hatte er bisher seinen Job als Systemadministrator nicht unter so abenteuerlichen und körperlich anstrengenden Bedingungen verrichten müssen. Wahrscheinlich hatte seine sehr gute körperliche Verfassung ihn von den Mitbewerbern für den Job abgehoben. Vielleicht war ihm auch sein Ruf als sportbegeisterter Fußballspieler, Freeclimber und Computerfachmann vorausgeeilt. Auf jeden Fall bereute er es bis jetzt nicht, mitgekommen zu sein. Die wahren Motivationen hinter dieser Expedition interessierten ihn weniger, solange es nichts Militärisches war. Dass Dr. Seeger nicht gut auf die USA zu sprechen war, gab ihm schon mal das Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen. Er blickte von seinem Fenster zu dem ihm gegenübersitzenden Thomas und bemerkte dessen Aufregung.

„Coole Sache, was?“

Thomas drehte seinen Kopf zu Peter. „Sau cool!“

Leandra hatte ihren Platz neben Helena eingenommen, und die beiden Megahelikopter schwebten majestätisch nebeneinander in fünfzig Metern Höhe über dem Rollfeld. Fast alle Menschen, die um diese Uhrzeit auf dem Frachtflughafengelände zu tun hatten, blickten in diesem Augenblick in die Richtung der Helikopter. Dann neigte sich Helena nach vorne und beschleunigte. Leandra tat es ihr nach, und beide sausten über den Flughafen hinweg und hinterließen in den Ohren ihrer Zuschauer noch den Nachklang der gewaltigen Rotorschläge. Die Hubschrauber flogen nach Süden über die chilenische Landschaft, bis sie die Küste erreichten. Über dem offenen Meer stiegen die Helikopter auf eine Höhe von eintausend Metern. In drei Stunden würden sie auf den südlichen Shetland Islands zum Tanken landen.

Distanz 119

„Wie wäre es, wenn Sie Ihre Kamera nehmen und mal ein wenig die Leute filmen?“ Alexander Müller hatte extra eine halbe Stunde gewartet, bis er Annika darauf ansprechen wollte.

„Dürfen wir denn hier einfach herumlaufen?“, antwortete sie etwas zögerlich. Alexander wollte antworten, doch Adrian schnitt ihm das Wort ab. „Na klar, sollten wir heftige Turbulenzen erwarten, werden es uns die Piloten schon sagen.“ Adrian streckte sich ihr entgegen und hing schon fast über Alexander, der zwischen ihnen saß.

„Wie wäre es, wenn du mit mir anfängst und ich ein paar wissenschaftliche Informationen über unsere Expedition in die Kamera spreche?“

„Ja, wieso nicht“, entgegnete sie ihm mit einem Anflug von Begeisterung, die Herr Müller nicht teilte.

„Ich persönlich wollte eigentlich die Rolle des Moderators übernehmen“, mischte sich Alexander ein. Für diese Worte erntete er von Adrian ein bewusst gekünsteltes Lächeln.

„Bei allem Respekt, Herr Müller, aber … ich denke, als Produzent und Regisseur haben Sie bereits alle Hände voll zu tun.“ Adrians Versuch, Alexander Müller auf schmeichelhafte Art davon abzubringen, auch noch die Moderation zu übernehmen, wurde von dem Geschäftsmann sofort durchschaut. Aber er musste ihm recht geben. Adrian hatte schon einige Bücher veröffentlicht und war sogar in der ein oder anderen Talkshow aufgetreten. Er war jedenfalls besser geeignet als er, den die Öffentlichkeit noch nie bewusst wahrgenommen hatte. Solange Adrian nicht auch noch eine prozentuale Beteiligung verlangte, sollte es ihm recht sein.

„Na, dann zeigen Sie mal, was Sie können, Mr. Kolarik.“ Alexander lehnte sich wieder in seinem Sitz zurück und ließ ihnen freien Lauf.

Adrian setzte ein Denkergesicht auf und blickte Annika mit klarem, entschlossenem Blick in die Augen.

„Ich habe eine gute Idee, wie wir beginnen können.“

Beide schnallten sich ab, und Annika folgte ihm mit ihrer Kamera in den hinteren Teil des Helikopters. Dort, wo auch Jenay saß.

Der junge Inder hatte den ersten Teil der Reise durch das kleine Seitenfenster der Maschine geschaut, bis ihm die Unterhaltung in der ersten Reihe aufgefallen war. Er konnte wegen den sich unterhaltenden Expeditionsmitgliedern zwischen ihnen nichts verstehen. Trotzdem bekam er mit, dass sich Annika und Adrian unterhielten. Dumme Eifersucht verdrängte das rationale Denken, und er verlor immer mehr die Fähigkeit, den zwei alten Freunden, die neben ihm saßen, zuzuhören. Sein Blick war permanent damit beschäftigt, sich eine freie Sicht durch den Wald wackelnder Köpfe zu suchen. Doch als die zwei von ihren Plätzen aufstanden und dann nach hinten zu ihm kamen, wandte er rasch seinen Blick an Tangatjen und Octavian und tat so, als ob er ihnen zuhörte.

„Hey, du bist doch der TonAssi. Du kannst gleich mal dein Mikro schnappen und dich bereitmachen für eine Anmoderation!“

Jenay hatte das mit dem TonAssi nicht ganz verstanden, aber er verstand doch ganz gut, was der große, breit grinsende, blonde Antarktiskasper von ihm wollte. Nicht nur er war darüber sprachlos, mit was für einer herablassenden Art er ihm Anweisungen erteilte. Annika war es sehr peinlich, und so eine Situation musste unbedingt geklärt werden. „Das ist nicht mein Tonassistent. Jenay ist Geologe und hilft uns nur.“

Adrian hatte sofort bemerkt, dass sein Auftreten bei ihr alles andere als gut ankam.

„Entschuldige, ich wollte nicht unhöflich sein. Hilfst du uns trotzdem bei den Tonaufnahmen? Wir können doch Du zueinander sagen, oder?“ Adrian redete extra etwas schnell und viel, um sein Gegenüber auszuloten, um zu merken, wie viel er von der deutschen Sprache verstand.

Jenay hatte diesmal alles verstanden und ärgerte sich darüber, dass er wieder mal viel zu schnell bereit war, einem Schlaumeier zu verzeihen. Er nickte und griff nach der Tasche mit dem Mikrofonequipment zwischen seinen Füßen.

In einem Abstand von ein paar Hundert Metern flog Leandra ihrer Schwester Helena hinterher. Sie hatten nicht ansatzweise die Flughöhe einer Linienmaschine, und der Ausblick, den Thomas aus dem Cockpit hatte, ähnelte dem eines Kreuzfahrtschiffs auf hoher See. Er hatte seine Dreharbeiten fürs Erste abgeschlossen und unterhielt sich mit den beiden russischen Piloten Stanislav Kronos und Oleg Lokeskow. Der Kapitän dieser Maschine, Stanislav Krono, war mit dreiundfünfzig Jahren für einen Piloten schon in einem sehr gehobenen Alter. Der vollbärtige Russe mit dem dichten lockigen grauen Haar und den tiefliegenden dunklen Augen versicherte Thomas in Form kleiner Flugabenteuererzählungen, dass er noch richtig fit war, was seinen Beruf anging. Sein Copilot Oleg Lokeskow übersetzte alles in einem akzentuierten, aber gut verständlichen Englisch. Thomas fragte sich, ob die dicken Siegelringe mit russischen Zeichen, welche der Kapitän um jeden Finger trug, nur protziger Schmuck waren oder eine bestimmte Bedeutung trugen. Jedenfalls unterschied es ihn stark von seinem Copiloten, der gar keinen Schmuck trug. Oleg Lokeskow war neunundzwanzig Jahre alt und wirkte durch sein rundes, freundliches Mondgesicht mit der spitzen Nase und den wenigen kurzen Haarstoppeln auch etwas älter.

In zwei Stunden würden sie ihre erste Etappe erreicht haben, und Thomas beschloss, sich noch etwas mit dem Systemadministrator zu unterhalten. Peter Wyssmann befand sich gerade im hinteren Teil der Maschine und saß in einem der Fahrzeuge, die von der grauen Plastikplane abgedeckt waren. Thomas konnte außer der massiven Metalltür, die nach oben aufklappte, auch nicht viel von dem Fahrzeug erkennen. Es schien auf jeden Fall kein Auto zu sein, eher so etwas wie ein Panzerwagen.

„Darf man fragen, was Sie gerade machen?“, fragte Thomas den Computerfachmann, dessen Laptop auf seinen Knien ruhte. Thomas konnte zwar keine Kabel sehen, die den Laptop mit dem Bordcomputer des Fahrzeugs verbanden, aber er verstand genug von Computern, um zu erkennen, dass irgendeine kabellose Verbindung bestand. Peter war die Freundlichkeit und Offenheit in Person und hatte somit keine Probleme, über seine Tätigkeit zu reden.

„Ich mache nur ein paar SoftwareUpdates bei den Fahrzeugen. Wir haben gestern Nacht noch die neuesten geologischen und geografischen Vektorkarten von unserem Zielgebiet bekommen. Thermografische Schichtenmessungen als Voxeldateien für unsere 3DGeonavigationssysteme. Sehen Sie.“ Peter drehte den Laptop so, dass auch Thomas das Display studieren konnte. Die grafische Benutzeroberfläche ähnelte dem Programm, das seine Tochter für ihre Arbeit benutzte, aber für ihn als Laien sahen sich wahrscheinlich alle 3DProgramme ähnlich. Zu viele Knöpfe und meistens ein Fenster, in dem etwas Räumliches dargestellt wurde. In diesem Fall war es ein Querschnitt durch den Gletscher. Es entsprach einer dieser 3DGrafiken, die er aus der Kernspintomografie her kannte. Nur war diese Darstellung nicht so grobkörnig. Thomas konnte sogar die verlassene McGriffinStation erkennen. Ihr kuppelartiges Hauptgebäude, von dem sich fünf Röhren in jede Himmelsrichtung wegstreckten, ein kurzarmiger, dickbauchiger Seestern. Auf Basis dieser Voxelgrafik hatte er Probleme, die richtige Größe einzuschätzen, da Details wie Fenster und Türen fehlten. Peter fuhr mit seinem Zeigefinger dicht über das Displayglas und kommentierte:

„Diese Risse hier sind Gletscherspalten. Es können immer wieder neue hinzukommen, daher habe ich mir die neuesten Bilder noch schnell vom HotelHotspot runtergeladen. So sind wir zwar nicht zu hundert Prozent aktuell, aber ich denke, dass sich innerhalb eines Tages nicht gleich eine neue Gletscherspalte auftut.“

„Könnt ihr nicht über direkte Satellitenverbindung die neuesten Updates direkt vor Ort runterladen?“, fragte Thomas verwundert.

„Technisch gesehen kein Problem. Aber direkter Satellitenkontakt, wie GPS, ist uns untersagt, da jeder andere unseren Aufenthaltsort genauso gut feststellen kann. Dr. Seeger ist da vielleicht etwas paranoid, aber wie ich gehört habe, auch nicht ohne Grund.“ Achselzuckend drehte er seinen Kopf wieder zu seinem Laptop hin und navigierte mithilfe der Maus und einem Tastenbefehl auf dem Keyboard die 3DPerspektive so, dass der Betrachter nun das Areal komplett von der Seite sah. Aus dem breiten dunklen Riss, der sich diagonal vor der Forschungsstation entlangzog, wurde auf diese Weise eine tiefe Kerbe, dessen Ende die Voxelgrafik nicht mehr darstellte.

„Ich habe etwas Probleme, die Größe einzuordnen, aber diese Gletscherspalte scheint im Verhältnis zur Station ganz schön groß zu sein. Oder täuscht das?“ Thomas fragte sich bereits, ob die Station vielleicht sehr viel kleiner war, als er dachte.

„Sehr richtig bemerkt, das ist kein Spalt mehr, sondern eher ein kleiner Canyon. An der breitesten Stelle etwa zwanzig Meter breit und etwa eine Meile tief.“ Kaum hatte Peter das gesagt, musste Thomas an die Geschichte von Dr. Chakalakel denken. Hatte er nicht auch von einer Meile gesprochen? Waren nicht alle Eiskernbohrungen in tausendsechshundert Metern auf eine unbekannte Legierung gestoßen?

„Heißt das, dass wir nicht bohren müssen, um da runterzugehen?“

„Da wir jetzt unterwegs sind, kann ich es Ihnen ja erzählen. Eine langwierige Bohraktion wird nicht nötig sein, um dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Vor vier Wochen sahen die Pläne noch ganz anders aus. Hätte sich nicht wenig später dieser Riss aufgetan, wären wir mit Sicherheit noch lange nicht hier.“

„Noch lange nicht?“, fragte Thomas in einer ausgedehnten Atempause.

„Ich arbeite seit zwei Jahren an diesem Projekt und habe jede Menge hardgecoded. Wissen Sie, Dr. Seegers Plan war es, einen Bohrer zu entwickeln, der es schafft, in weniger als sechs Stunden in diese Tiefe zu bohren. Gleichzeitig wollte er ein Fahrzeug entwickeln, das zehn Personen gleichzeitig rauf und runter befördern kann. Und alles im Ewigen Eis. Eine extrem anspruchsvolle Aufgabe, die wir erst in zwei bis drei Jahren gelöst hätten. Immerhin ist dabei dieses Baby herausgekommen.“ Peter tätschelte dabei die Armaturen des Fahrzeugs, in dem er saß. Thomas hatte sich bisher den Innenraum, der auf den ersten Blick wie die Fahrgastzelle eines Armeefahrzeugs aussah, noch nicht genau angesehen. Neben dem Fahrer waren noch zwei Schalensitze und dahinter, von einer robusten Schaltkonsole abgetrennt, noch weitere drei Sitze. Peter hatte seinen forschenden Rundumblick bemerkt.

„Dieser fasst immerhin sechs Personen, und ließe man die Laserbohrer auf Volldampf laufen, würde der Cavecrawler drei Meilen pro Stunde schaffen. Der Haken wäre nur, dass er nie wieder zurückkäme, jedenfalls nicht aus eigener Kraft. Der Energieverbrauch und die dementsprechende Versorgung waren unser größtes Problem. Ich habe unzählige Routinen geschrieben, damit die Maschine möglichst effizient mit den vorhandenen Energieressourcen umgeht.“

Während Peter noch mehr von seinen technischen Leistungen erzählte, waren Thomas’ Augen bei der Gletscherspalte hängen geblieben. Er hatte die ganze Zeit die Vorstellung verdrängt, in einen eintausendsechshundert Meter tiefen Schacht hinabsteigen zu müssen. Eigentlich behauptete er von sich, kein Kandidat für Klaustrophobie zu sein, aber wer bekam kein ungutes Gefühl, so tief auf engstem Raum zu sein? Vielleicht wäre es halb so wild, wenn er erst mal unten war, aber der Gedanke, in eine breite Gletscherspalte hinabgelassen zu werden, empfand er als wesentlich angenehmer.

Adrian hatte fast zwei Stunden Informationen, Kommentare und Interviews vor laufender Kamera gegeben. Annika hatte nach kurzer Zeit ihre Stative ausgepackt. Jenay konnte weder stehen noch zuhören. Aber nichtsdestotrotz konnte der Antarktisspezialist sich gut vor der Kamera verkaufen. Auf Annika wirkte er etwas selbstverliebt, und auch seine unerschütterbare Selbstsicherheit gefielen ihr nicht so gut. Jenay ging er sogar ziemlich auf die Nerven. Wie gut, dass sie dann auch ihr Ziel erreichten und Korbinian alle bat, sich wieder anzuschnallen. Die zwei Helikopter befanden sich im Landeanflug auf die südlichen Shetland Islands.

Distanz 118

Immer lauter werdende Schläge knallten durch die Luft. Da es gleich zwei dieser gigantischen Hubschrauber mit ihren noch gigantischeren achtblättrigen Rotoren waren, knallte es gleich doppelt so laut. Alfons Sergo, ein kleiner dürrer Mann, der nie Zahnersatz bekommen hatte und daher keine Schneidezähne mehr besaß, hielt sich bei dem Lärm die Ohren zu. Er hätte sicherlich in seiner kleinen, schiefen Wellblechhütte warten können, bis die Hubschrauber gelandet waren, aber durch die nie geputzten Fenster hätte er alles verpasst. Er wäre am liebsten selbst Pilot geworden, hatte aber wegen seines Glasauges nie einen Flugschein machen können. So gründete er eine kleine Außenpostentankstelle für kleine Transportmaschinen und Hubschrauber, die auf dem Weg zur Antarktis waren. Doch diese zwei MilMi26Helikopter gehörten zweifelsohne zu den größten Fluggeräten, die seinen Außenposten je besucht hatten. Alfons wollte gar nicht wissen, wieso seine Gäste nicht auf dem offiziellen Flughafen der südlichen Shetland Islands gelandet waren. Ab einem bestimmten Geldbetrag stellt man einfach keine Fragen mehr.

Leandra und Helena fuhren fast synchron ihre Fahrwerke aus und setzten auf dem sehr unebenen Kiesrollfeld auf. Alfons humpelte, so gut es mit seinem Holzbein ging, der sich öffnenden Seitenluke aufgeregt entgegen. Wie gut, dass die Mil Mi26 über eine eingebaute Treppe verfügte, denn Alfons hatte keine. Bisher war es bei den kleinen Hubschraubern und Flugzeugen auch nicht nötig gewesen. Nachdem alle Scharniere der ausfahrbaren Treppe mit einem lauten Rasseln eingerastet waren, kamen auch schon die ersten Menschen aus dem Helikopter.

Langsam nahm der Wind ab, den die herunterfahrenden Rotorblätter verursachten.

Thomas war der Erste, der die Laderampe herunterlief, sobald sie ganz offen stand. Mit seiner Kamera und dem Stativ bewaffnet, entfernte er sich von den Hubschraubern, sodass er die Brandung am nahe liegenden Kiesstrand deutlich hören konnte. Mit routinierten Handgriffen war das Stativ schnell aufgestellt und die Kamera eingerastet.

Annika wusste, dass ihr Vater sich sehr engagiert für die Außenaufnahmen einsetzte, daher ging sie es recht locker an und filmte entspannt, wie ihre Mitstreiter sich abschnallten und über die Laderampe nach draußen gingen. Doch dann drängte sich wieder Adrian ins Bild und wollte das Geschehen kommentieren.

„Adrian, bitte, ich wollte einfach nur die Situation einfangen!“, sagte Annika mit einem erschöpft wirkenden Lächeln und stellte dabei die Kamera in den StandbyModus. Aber er schien vor Energie nur zu sprühen.

„Du hast recht, wir sollten einen Plan, ein Art Drehbuch verfassen, um meine Moderationen gezielter einbringen zu können. Das könnten wir eigentlich gleich machen, so lange wir auftanken. An dem öden Strand verpassen wir sowieso nichts Weltbewegendes. Und ich habe Zeit.“

Annika musste sich einen lauten Seufzer stark verkneifen. Der lange Monolog von Adrian während des Fluges hatte sie schon den letzten Nerv gekostet. Leider war sie zu gut erzogen, um jemanden vor den Kopf zu stoßen, und war gerade dabei, einzuwilligen, als sie von Jenay gerettet wurde.

„Annika, dein Vater braucht dich draußen. Uns beide!“, fügte er schnell noch hinzu. Annika zuckte entschuldigend mit den Schultern und folgte Jenay aus dem Helikopter.

„Da ich der Produzent und der Regisseur dieses Projekts bin, sollten wir uns zusammensetzen und über eine sinnvolle Einbindung von Moderationen reden. Ich habe auch jetzt Zeit“, drang plötzlich die wohl vertraute Stimme von Alexander Müller in Adrians Gehör. Er war in seine eigene Falle getappt. Adrian stand normalerweise über solchen Dingen, trotzdem ärgerte er sich, dass er von diesem Inder ausgetrickst wurde.

„Wo ist mein Vater eigentlich?“, fragte Annika, während sie an Alfons Wellblechhütte vorbeiliefen und sich den zwei Tanklastzügen näherten, von denen Schläuche zu den Hubschraubern führten.

„Der rennt überall herum und filmt“, antwortete Jenay, ohne sich zu ihr umzudrehen. Sie packte ihn bei der Hand, um ihn zu bremsen.

„Ach was. Ich dachte, er sucht mich?“ Auf eine Antwort wartend, legte sie ihren Kopf in den Nacken und grinste ihn an. Jenay schaute sie an und erwiderte ihr schelmisches Lächeln.

„Danke, dass du mich von diesem Antarktisspezialisten befreit hast!“

„Mir ging er schon den ganzen Flug auf die Nerven, da dachte ich mir, dir vielleicht auch“, erwiderte Jenay.

„Das hast du sehr aufmerksam beobachtet“, hauchte sie ihm entgegen, was Jenay wegen des Motorenlärms gar nicht mehr hörte. Das brauchte er auch nicht, da ihm Annikas Körpersprache deutlich zu verstehen gab, dass jetzt ein Kuss anstand. Ihre Lippen hätten sich auch fast berührt, wäre nicht in diesem Moment Thomas angekommen.

„Tut mir leid, dass ich euch gerade jetzt unterbreche. Ich müsste mir mal Jenay und sein Mikro für ein Interview ausleihen. Dich könnte ich eigentlich auch gebrauchen.“

Annika und Jenay wechselten noch kurz einen Blick.

Aber Thomas kannte keine Gnade.

„Los, wir müssen uns beeilen ? sobald die mit dem Tanken fertig sind, geht es weiter.“

Distanz 117

Alfons Sergo konnte zum Erstaunen von Thomas, Annika und Jenay auch etwas Deutsch. Seine Aussprache war aber so undeutlich, dass sie ihn nicht verstehen konnten. Thomas wollte mit dem Interview Informationen über die südlichen Shetland Islands, aber auch die restlichen Sprachen, die der kleine Mann angeblich gut beherrschte, führten zu keinem befriedigenden Ergebnis.

Thomas hatte bereits einen anderen Kandidaten im Visier. Doch das Gespräch wollte er erst mal ohne Kamera führen. Er bedankte sich bei Alfons und entließ seine jungen Kollegen. Sein Blick schweifte zwischen den anderen Expeditionsteilnehmern umher, die sich um und zwischen den zwei Hubschraubern die Füße vertraten. Er hatte Mühe, seine Zielperson ausfindig zu machen, da sich alle in ihrer orangefarbenen Einheitskleidung sehr ähnelten. Nur Felix Armarkt stach mit seinem weißen Anzug wie immer heraus. Er konnte ihn nicht entdecken und beschloss, im Mannschaftshelikopter nachzusehen.

Distanz 116

Thomas hatte Helena über die Laderampe betreten. Sofort hatte er die gesuchte Person entdeckt. Außer Dr. Seeger waren nur Herr Müller und Adrian Kolarik an Bord. Beide waren in die Ausarbeitung eines Schriftstücks vertieft, welches Herr Müller auf seinem Schoß hatte. Dr. Seeger saß in der vordersten Reihe ganz alleine und beschäftigte sich, soweit Thomas dies beurteilen konnte, mit rein gar nichts. Aber er schien nicht zu schlafen, dafür war seine Haltung zu unentspannt. Thomas’ Gefühl sagte ihm, dass er diesen totgeglaubten Mann nicht stören sollte. Die Neugierde aber war stärker. Er ging geradewegs bis zur ersten Sitzreihe vor und kam dabei an den beiden arbeitenden Männern vorbei.

„Gut, dass Sie gerade vorbeikommen, Sie wissen wahrscheinlich noch gar nicht, dass wir einen Moderator haben.“ Mit einer kleinen Handbewegung deutete er auf Adrian, der lässig neben Müller saß.

„Wir haben gerade ein Konzept ausgearbeitet, an welchen dramaturgisch sinnvollsten Punkten meine Moderationen den Film am besten unterstützen“, sprudelte es aus Adrian heraus. Thomas schaute ihn ausdruckslos an, was den frisch gekürten Dokumentationsfilmmoderator etwas verunsicherte.

„Ich glaube, mein Gesicht würde dem Film zu mehr Erfolg verhelfen. Vielleicht haben Sie mich auch schon mal in der einen Wissenschafts oder Outdoorsportsendung gesehen. Oder vielleicht ein Buch von mir gelesen?“

Thomas rührte sich immer noch nicht. In seiner Karriere als Journalist und Kameramann war er genug aufgeblasenen Typen begegnet, die von sich behaupteten, ihr Gesicht kenne jedermann. Dabei kannte Thomas sogar Adrian Kolarik. Zwar nicht aus dem Fernsehen oder Büchern, sondern durch einen Fachvortrag über die Antarktis. Adrian konnte sein Wissen ganz gut vermitteln, aber die ständigen Versuche, etwas Humor mit in seinen Vortrag einfließen zu lassen, nagten sehr stark an den Nerven aller Zuhörer.

„Ich finde, dass ein Moderator einem Dokumentarfilm die Glaubhaftigkeit nimmt. Besonders, wenn er prominent ist.“

Adrian gefiel diese Meinung gar nicht, denn schließlich würde nicht nur der Film von ihm profitieren, sondern auch umgekehrt.

„Ich bin aber ein anerkannter Forscher in diesem Fach. Die Pole der Erde sind mein Spezialgebiet, und das wissen sehr viele Leute.“

„Ich finde, dass es eine gute Möglichkeit ist, dem Zuschauer über Adrian gezieltere Informationen zu vermitteln“, sagte Herr Müller.

„Die Zusatzinformation erledigt ein OffSprecher, und der hat den Vorteil, dass wir seinen Text auf das geschnittene Material abstimmen und dass er nicht das halbe Bild verdeckt“, antwortete Thomas emotionslos, aber in einer Lautstärke, die auch Dr. Seeger verstehen musste.

„Am besten wäre es, wenn die OffStimme vom Leiter der Expedition kommen würde.“ Damit hatte Thomas wohl die Aufmerksamkeit des kahlköpfigen Mannes erregt, der sehr viel Ähnlichkeit mit Clint Eastwood besaß. Dr. Seeger drehte sich zu den drei Männern um und fixierte ihn mit einem sehr ernsten Blick.

„Mr. Nowak, setzen Sie sich doch für einen Moment zu mir, damit wir über die Sache reden können.“

Adrian schaute Herrn Müller hilfesuchend an, als er diese Worte Dr. Seegers vernahm. Thomas entschuldigte sich höflich bei den beiden, stand auf und setzte sich dann in die vorderste Reihe.

Thomas fühlte sich nicht wirklich wohl, neben dem Mann zu sitzen, der seit achtzehn Jahren seine Existenz geheim gehalten hatte und von dem er nur wusste, dass er einmal ein Bergbaumaschinen¬hersteller war und seine Familie bei einem Anschlag verloren hatte.

„Soll ich Ihnen etwas verraten, Thomas? Ich brauche diesen Dokumentarfilm nicht, und ich möchte nichts damit zu tun haben. Der von mir eingesetzte Geschäftsführer fand es äußerst wichtig, um die hohen Kosten dieser Expedition abzufangen und vielleicht auch noch einen Gewinn zu erzielen. Ich will nur wissen, wofür meine Töchter und meine Frau gestorben sind. Was danach kommt, das heißt, ob meine Firma weiter existiert oder nicht, ist mir egal.“

Thomas glaubte ihm jedes Wort. Der Einundsechzigjährige hatte es mit einer trockenen Gelassenheit gesagt, die keinen Raum für Humor oder Sarkasmus ließ.

„Und was ist mit Ihnen? Sie sind auch nicht wirklich hier, um einen Dokumentarfilm zu drehen, nicht wahr?“

Thomas wurde plötzlich klar, dass dieser Mann wahrscheinlich mehr über ihn wusste, als er gedacht hatte.

„Sie haben recht, mich treibt ein ähnlicher Grund wie Sie an, aber ich werde trotzdem die Tätigkeit, für die ich angeheuert wurde, gewissenhaft ausüben.“

„Das haben Sie schön gesagt, aber das ist mir auch egal. Mir geht es nur darum, dass Sie mit der gleichen Leidenschaft wie ich dieses Geheimnis aufklären wollen. Egal, wie viel wir riskieren müssen. Sind Sie dafür bereit?“ Dr. Seeger durchbohrte Thomas dabei mit einem sonderbar stechenden Blick. Thomas konnte nur an seine Tochter denken. Wäre sie nicht dabei, wäre er zu allem bereit.

„Ich versuche auch seit achtzehn Jahren, Antworten auf das Verschwinden meiner Frau zu finden, und bin bereit, für diese Antworten viel zu riskieren, aber ich habe noch meine Tochter, und alleine ihretwegen kann ich nicht alles riskieren.“ Thomas versuchte, genauso emotionslos wie sein Gegenüber zu sein, doch das gelang ihm nicht.

„Dass Ihre Tochter mitgeht, war nicht meine Entscheidung. Jetzt ist sie dabei, aber ich werde auf sie keine Rücksicht nehmen.“ Thomas begann sich zu fragen, wie weit sein Gegenüber wohl gehen wollte.

„Wenn es Sie beruhigt, wir haben die modernste Technik und die besten Leute, die man für Geld kaufen kann. Glauben Sie mir, die meisten bei dieser Mission sind bereit, alles zu geben. Das wird dann schon reichen.“ Wie Thomas die letzten zwei Sätze verstehen sollte, wusste er nicht. Doch an diesem Tag noch sollte er sich ein klares Bild davon machen, mit welchen Leuten er es hier zu tun hatte.

Korbinian Regenfus scheuchte den Rest der Mannschaft wieder in den Helikopter zurück. So endete Thomas’ erstes Gespräch mit Dr. Bernhard Seeger, und er nahm wieder seinen Platz im zweiten Hubschrauber ein. Wenige Minuten später, nachdem die Rotorblätter die nötige Hubgeschwindigkeit hatten, flogen Helena und Leandra wieder über das offene Meer.

Distanz 115

Annika war eine Viertelstunde, nachdem sie gestartet waren, von Mascha samt ihrer Kameraausrüstung ins Cockpit gerufen worden. Mascha war zwar nur die Copilotin, durfte aber dennoch fliegen, da ihr Kollege, Barenko Rebulsky, im Gegensatz zu Mascha nicht so versessen darauf war. Er saß ziemlich lässig in seinem orangefarbenen Schneeanzug, dessen Oberteil er einfach nach unten geklappt hatte. Der siebenundvierzigjährige, dunkelhaarige Lockenkopf qualmte eine Zigarette. Er konnte gut Englisch und quatschte ununterbrochen in Annikas Filmaufnahmen. Aber das störte sie nicht. Gewissermaßen unterstrich der russische Akzent die Atmosphäre dieser Reise. Das Einzige, was Annika beim ersten Kontakt mit dem Russen verunsicherte, war die vernarbte Haut, die unter der Thermokleidung hervortrat. Als hätte er starke Verbrennungen erlitten.

Der Grund, warum sie im Cockpit mit ihrer HDKamera gerufen wurde, zeigte sich jetzt am Horizont. Die ersten Eisberge tauchten auf. Jede Menge kleinere Eisschollen waren wie vereiste kleine Inseln schon unter ihnen vorbeigezogen. Das Auftreten der weißen Riesen, die wie Backenzähne aus dem Meer stachen, kündigte auch an, dass der antarktische Kontinent nun vor ihnen lag. Annika war vom Anblick der Eisberge beeindruckt.

Auch Thomas war fasziniert. Vor ihnen flog etwas seitlich versetzt in zweihundert Metern Abstand Helena, und vor dieser Kulisse aus Eisbergen ergab das Ganze ein fantastisches, abenteuerliches Bild. Je weiter sie in die südliche Richtung flogen, desto mehr verschmolzen die treibenden Eistrümmer zu einem Ganzen, dem antarktischen Kontinent. Irgendwann war kein Meer mehr zu erkennen, und die zwei Helikopter flogen über das völlig mit Eis bedeckte Palmerland, den halbinselartigen Ausläufer der Antarktis. Auf der linken Seite ragte der Mount Vinson, der höchste Berg der Antarktis, fünftausendeinhundert¬vierzig Meter in die Höhe. Auch er zog langsam an ihnen vorüber.

Thomas hatte nicht bemerkt, dass sie im Steigflug waren, seitdem sie den antarktischen Kontinent überflogen. Sie hatten bereits eine Höhe von zweitausend Metern über dem Meeresspiegel, aber die Höhe zum Boden schien unverändert. Vom Mount Vinson betrug die Entfernung zur Kohnen2Antarktisforschungsstation noch knapp tausend Kilometer. Etwa achthundert Kilometer im Landesinneren ruhte sie in zweitausendsechshundert Metern Höhe auf dem Rockefeller Plateau. Noch vier Stunden Flug.

Trotz einiger kleiner Luftturbulenzen, welche die Helikopter immer wieder durchschüttelten, versuchten die meisten zu schlafen. Die zwei MilMi26Hubschrauber benötigten von den südlichen Shetland Islands acht Stunden Flugzeit, um zur KohnenStation zu gelangen. Für die meisten doch zu lange, um durch die kleinen Sichtfenster die faszinierende Umgebung zu bestaunen.

Distanz 114

Mascha hatte Annika wieder in das Cockpit gerufen, damit sie den Anflug auf die Kohnen2Antarktisforschungsstation filmen konnte. Auf dem endlos weiten Rockefeller Plateau wirkte die Station nicht besonders beeindruckend. Von Nahem sah Kohnen 2 aus wie sechs gleich große, graue Würfel. Die Klötze, die hintereinander in zwei Reihen standen, zierten mehrere lange Antennenmasten und eine kleine Kuppel, in der sich wahrscheinlich eine Satellitenschüssel versteckte.

Die weiße Hochebene, die sich vor ihnen über den gesamten Horizont erstreckte, verdeutlichte im Kontrast zur vergleichs¬weise kleinen Station deren Abgelegenheit und Isolation. Kohnen 2 repräsentierte das einzige Häufchen Zivilisation im Umkreis von mehreren Tausend Kilometern Eis.

Hundert Meter neben den Stationsgebäuden hatte das KohnenPersonal mit Schneeraupen den Boden zum Landen begradigt. Am Rande der Landefläche erwarteten sie bereits mehrere Personen in Antarktisschutzkleidung, die dem Aufbau der orangefarbenen Thermokleidung stark ähnelten.

Einer dieser Personen war Oliver Tielago, ein großer, breitschultriger Mann mit Vollbart. Er war der Stationsleiter der deutschen Forschungsstation, die sich hier oben in der Mitte des Rockefeller Plateaus mit Eiskernbohrungen beschäftigte. Die meisten Antarktisforschungseinrichtungen befanden sich aus Versorgungsgründen an der Küste. Außerdem war der antarktische Sommer dort wesentlich milder als an diesem rauen Ort, der permanent mit den katabatischen Fallwinden zu kämpfen hatte.

Allerdings hatten Eiskernbohrungen im Küstenbereich wenig Sinn, und die unberechenbaren Wetterbedingungen ließen Flüge ins Inland oft zu einem Glückspiel werden. Zudem war es ein guter Ausgangspunkt für Eiskernbohrungseinsätze, weil hier das Risiko für die Höhenkrankheit nicht so groß war.

Für Dr. Seeger war es der perfekte Ausgangsort für seine Expedition.

Wie sich die beiden Männer begrüßten, zeigte allen, dass Oliver Tielago nicht einfach ein Mensch war, der auf Dr. Seegers Gehaltsliste stand. Auch der zweite Mann, dem Dr. Seeger energisch die Hand schüttelte, musste wohl ein guter Bekannter sein. Sein Name war Dieter Hase. Er war einer der ältesten Bekannten von Dr. Seeger, wie Alexander Müller Annika verriet. Dieter hatte seine Kapuze nicht über den Kopf gezogen, und so zeigte er blonde Haarstoppel, die von großen Geheimratsecken langsam verdrängt wurden. In seinen mageren Gesichtszügen waren ähnlich lange Bartstoppeln, und die dicke kleine Minusbrille verlieh ihm einen nicht geraden gesunden Gesamteindruck. Er war vierundvierzig, sah aber älter aus als Dr. Seeger.

Alle Expeditionsteilnehmer hatten über die Laderampen der Helikopter das Eis betreten. Jeder von ihnen trug seine mit Fellrand besetzte Kapuze über dem Kopf und hatte seine getönte Schneeschutzbrille auf. Ohne die aufgenähten Namensschilder konnte man die Teammitglieder nun fast nicht mehr unterscheiden. Bis auf den Verpflegungssupervisor und Annika, die deutlich kleiner war als alle anderen. Alle vom Seegerteam waren von Korbinian aufgefordert worden, in das nahe gelegene Stationsgebäude der KohnenStation zu gehen. Als Tangatjen mit seinen Füßen das Eis betrat, konnte er seine Begeisterung kaum verbergen. Thomas, Jenay und Octavian hingegen hatten das Gefühl, auf einem fremden Planeten gelandet zu sein. Noch nie hatte Annika so klare und saubere Luft eingeatmet. Sie fühlte sich fast etwas schwindelig. Ansonsten fand sie es gar nicht so kalt wie erwartet. Im Gesicht spürte sie eine Spannung, die von der Kälte herrührte, aber sie hatte in manchem deutschen Winter Schlimmeres erlebt. Am Horizont waren schemenhaft Berge zu erkennen, die sich vom klaren Himmel kaum abhoben. Ob das das Transantarktische Gebirge war?

Sie liefen alle an Oliver Tielago vorbei, der jeden Einzelnen mit Nicken begrüßte. Die russische Hubschrauberbesatzung kümmerte sich um das Betanken von Helena und Leandra.

Im Inneren des Stationsblocks C konnten sich die zweiundzwanzig Gäste ihrer äußersten Schutzkleidung entledigen. Annika fühlte sich gleich wieder wie eine Frau und nicht mehr wie ein Teddybär. Ihr fiel auf, dass sich innerhalb der Expeditionsgruppe bereits kleinere Untergruppen gebildet hatten: Sie, ihr Vater, Jenay, Dr. Chakalakel und Octavian waren eine, und zeitweise gesellten sich Herr Müller und Adrian Kolarik hinzu. Eine andere Gruppe setzte sich aus der technischen Crew zusammen, die sich darum kümmerte, wie sie nach unten kommen würden. Dann gab es noch zwei, drei andere Gruppierungen, von denen sie Fachgebiet und Namen vergessen hatte.

Ein Besatzungsmitglied der KohnenStation öffnete eine Schiebetür zu einem etwas größeren Raum, in deren Mitte sich zwei lange Metalltische befanden. Auf den Tischen standen bereits tiefe Teller und Besteck. Am Ende des Speisesaals war die Ausgabetheke zu erkennen, welche den Raum von der angrenzenden Küche abtrennte. Auf der Theke fand sich ein reichhaltiges Angebot an Speisen. Salate, Antipasti, eine Käseplatte, Chickenwings, Rollbraten, Nürnberger Bratwürste, ein großer Topf mit der Aufschrift „Gulaschsuppe“, Nudeln, Reis, Fisch, panierte Kalamariringe, Obst und noch einiges mehr. Annika war verblüfft über die Reichhaltigkeit des Buffets. Sie hatte höchstens eine Gulaschsuppe erwartet. An den erstaunten und zugleich glücklichen Gesichtern ihrer Mitstreiter konnte sie erkennen, dass es den anderen ebenso erging.

„Wegen des körperlich anstrengenden Klimas am Südpol verliert jeder schnell Gewicht, daher ist Nahrungsaufnahme sehr wichtig. Und am besten essen Mann und Frau, wenn’s schmeckt.“ Da Oliver Tielago bekannt war, dass einige der Anwesenden kein Deutsch verstanden, aber alle Englisch, hatte er sich nicht erst die Mühe gemacht, auf Deutsch zu sprechen. „Bitte bedienen Sie sich, ist alles von Blizzard gesponsert.“ Bei dem Namen „Blizzard“ wurde Thomas besonders aufmerksam. Auch Annika wunderte sich über die Vertrautheit und die Offenheit, mit der er den Namen „Blizzard“ in den Mund nahm. Dass Dr. Seegers Einfluss und Verbindungen bis in die Tiefen der Antarktis reichten, hatten sie schon mitgekriegt, aber scheinbar war die gesamte Station ein geheimer BlizzardStützpunkt. Dr. Seeger hatte die vergangenen achtzehn Jahre gut genutzt, um sich auf diese Sache vorzubereiten. Aber wo war er jetzt gerade? Wahrscheinlich weilte der ehemalige Bauunternehmer nicht das erste Mal hier und hatte sich in sein privates Quartier zurückgezogen. Sehr gesellig hatte Dr. Seeger auf Annika bisher nicht gewirkt.

Distanz 113

Nachdem sich alle etwas vom Buffet geholt hatten, wurde sogleich an den Tischen gegessen. Thomas und sein Anhang hatten sich um ein Ende der zwei Tische gesetzt. Alle außer Thomas hatten eine vertraute Person gegenüber von sich sitzen. Thomas’ Gegenüber war Sevrem Pajak, neben ihm Karlos Beretta, beides Bergbauingenieure. Thomas hätte am liebsten neben dem Systemadministrator Peter Wyssmann gesessen und sich weiter mit ihm über den technischen Ablauf der Mission unterhalten. Vielleicht konnte er den zwei Bohringenieuren auch interessante Informationen entlocken.

„Diese große Gletscherspalte erspart uns jede Menge Arbeit. Auch wenn es der Cavecrawler in sechs Stunden in diese Tiefe schaffen könnte, würde es Ewigkeiten dauern, bis wir genügend Leute und Ausrüstung da runter geschafft hätten“, sagte Sevrem Pajak, dessen polnischer Akzent keinen Zweifel aufkommen ließ, woher er stammte. Er war ein großer schlanker Mann mit dunklen langen Haaren, die er zu einem Zopf zusammengebunden hatte. Er verkörperte das genaue Gegenteil seines Kollegen Karlos Beretta. Der Italiener war halb so groß, sehr breit gebaut, und statt einem Überschuss an Haarlänge hatte er einen dicken Schnauzbart, der bei geschlossenem Mund sogar etwas seine Unterlippe verdeckte.

„Außerdem ist das Bohren in einer Eisdecke noch mal eine völlig andere Herausforderung als das Bohren durch Gesteinsschichten. Und bisher hat auch niemand ein so großes und tiefes Loch in die Antarktis gebohrt“, sagte Karlos in gut verständlichem Deutsch.

„Wo liegen denn die Herausforderungen?“, wollte Thomas etwas genauer wissen.

Karlos schaute ihn etwas verwundert an.

„Die enorme Eisschicht der Antarktis ist nur aus gefrorenem Wasser.“ Karlos machte bewusst eine Pause, damit Thomas das Problem selbst erkannte. Thomas war über das breite Lächeln, mit welchem ihn der Italiener angrinste, so paralysiert, dass er nicht schnell genug antwortete.

„Hier schmilzt einfach alles verdammt schnell wieder zu. Auch die große Gletscherspalte ist in spätestens zwei Wochen Geschichte. In dieser Eiswüste hat einfach nichts wirklich Bestand, außer es ist sehr tief von der Eisschicht umschlossen. Dann wiederum ist es konserviert für die Ewigkeit. Paradox, nicht wahr?“

Trotz dessen hektischer Art versuchte Thomas, die Worte des Bergbauingenieurs zu verstehen.

„Der Cavecrawler ist deshalb nicht einfach eine Tunnelgrabmaschine, sondern er schwimmt regelrecht durch die Eisschicht. Mit seinem beweglichen Laserbohrkopf und dem Kettenantrieb kann er sich jederzeit in alle Richtungen weitergraben, während das geschmolzene Wasser hinter ihm einfach wieder zufriert. Wir hätten den Cavecrawler eigentlich Untereisboot nennen sollen“, sagte Karlos mit nachdenklichem Gesichtsausdruck.

„Zu Beginn des Projekts waren wir noch damit beschäftigt, ein Tunnelfahrzeug zu entwickeln. Die Bestrebung, ein dauerhaftes Tunnelsystem zu erschaffen, verwarfen wir erst später“, versuchte Sevrem die Namenskreation zu verteidigen.

„Außerdem ist der Energieverbrauch des Cavecrawlers noch viel zu hoch, um in einer vernünftigen Zeitspanne bis zum Zielort hin und zurück zu gelangen. Nichtsdestotrotz freue ich mich auf eine Testfahrt mit unserem Baby.“ Mit diesen Worten strahlte er Karlos an, der ihm seine Vorfreude mit einem hektischen Nicken bestätigte.

Thomas hingegen hoffte nur, dass er als Kameramann diese Fahrt nicht von innen miterleben musste.

Distanz 112

Nachdem alle gegessen hatten, erkundeten Annika und Jenay die Station. Beide hofften, ein ungestörtes Plätzchen zu finden, aber weil sie mit den vierundzwanzig anderen Reisenden die kleinen Unterkünfte dieser Station überschwemmt hatten, waren überall Menschen. Mit dem stationierten Personal kamen sie zurzeit auf über dreißig Personen. Die Anlage war für ein anspruchsloses Dutzend ausgelegt. Einige Verbindungsgänge, in denen keine Poster oder Plastikpflanzen standen, ähnelten den engen Räumen eines UBootes. Schweißnähte und dicke Schrauben stellten sich ungeniert zur Schau. Der Rest der Station, den Gäste sehen durften, erinnerte dank der Einrichtung an eine Ferienhütte. Im Aufenthaltsraum hingen sogar Gardinen.

Da die Station fast aus allen Nähten platzte und sich wegen der überall unterhaltenden Parteien ein immer lauter werdender Geräuschpegel aufbaute, beschlossen Annika und Jenay, ihren orangefarbenen Außenschutz anzulegen, um Dr. Chakalakel zu besuchen, der sich außerhalb der Station aufhielt.

Sie hatten fast zweimal die komplette Station umrundet, als sie dann endlich den Inder auf einem kleinen Schneehügel entdeckten. Trotz der orangefarbenen Schneebekleidung war Dr. Chakalakel leicht zu übersehen. Das lag zum einen an der grell reflektierenden weißen Schneelandschaft und zum anderen daran, dass sich das Wetter verändert hatte. Schneeverwehungen zogen sich wie kleine Flüsse über den antarktischen Boden, und es wurde zunehmend nebliger. Die Berge, die sie bei ihrer Ankunft noch sehen konnten, waren jetzt außerhalb nur noch graue Schemen, und die knallige Farbe der Schutzanzüge wirkte stark entsättigt. Tangatjen Chakalakel wirkte vor dieser endlosen weißen Schneekulisse wie der letzte Mensch auf Erden.

Annika und Jenay positionierten sich neben ihm auf dem kleinen Schneehügel. Trotz der atemaktiven Gesichtsmaske, die Mund und Nase vor dem eiskalten Wind schützte, und der großen Sonnenbrille konnten sie ihm seine absolute Zufriedenheit ansehen. Seine ganze Körperhaltung sprach tausend Worte. Der Fellkragen der Kapuzen tanzte aufgeregt im Wind, der nirgendwo auf der Erde so frisch und rein war wie hier im Ewigen Eis. Das Geheul des Fallwindes war das einzige Geräusch. Doch plötzlich zerstörten die scharfen Schläge der Hubschrauberrotorblätter die majestätische Atmosphäre.

Sie waren wieder bereit zum Aufbrechen.

„Wieso haben die Helikopter diese Namen?“, fragte Thomas ohne ehrliche Neugierde in seiner Stimme.

Korbinian blickte weiterhin unbeeindruckt durch seine halb geschlossenen Augen, die ihm sein müdes Aussehen verliehen.

„Meinen Sie mit den Namen Helena und Leandra?“, gab er die Frage zurück. Thomas löste seine Augen wieder vom Ladebalken und nickte Korbinian zu.

„Das sind die Namen von Dr. Seegers Töchtern. Oder das waren sie viel mehr. Sie sind ja tot“, sagte Korbinian knapp. Durch diese Information gewannen die zwei Hubschrauber plötzlich an Persönlichkeit.

Die Sekunden zogen sich subjektiv dermaßen lange hin, dass Korbinian seinen Mund bereits für eine Frage öffnete. Doch dann verschwand der Ladebalken, und die ersehnte Meldung erschien. CameraBackup complete, die Videodaten waren endlich auf der externen Festplatte gespeichert. Sofort schaltete Thomas die Camcorder aus und fuhr das Raidsystem herunter, klappte alle Koffer zu, und Korbinian verstaute die Netzgeräte in der Tragetasche.

Wie von der Tarantel gestochen, verließen sie das Stationsgebäude und verabschiedeten sich nur im Vorbeirennen von Oliver Tielago und der Kohnen2Crew, die draußen wartete. Der Lärm und der Wind der Helikopter brüllten ihnen entgegen, während sie die Heckladerampen hochrannten, die sich auch sogleich schlossen. Helena und Leandra hoben sich majestätisch vor der weißen Hochebenenkulisse der Antarktis in die Luft, kippten nacheinander nach vorne und beschleunigten. Nachdem sie ihr Trägheitsmoment überwunden hatten, schossen sie davon und hinterließen eine dichte Wolke aus aufgewirbeltem Schnee. Die KohnenCrew blickte ihnen noch eine Weile vom Boden aus hinterher.

Distanz 111

Thomas war erneut im Cockpit der Leandra und saß auf einem freien Sitz hinter den Russen Stanislav Kronos und Oleg Lokeskow. Da er in der Eile die HDKamera nicht mehr in den Koffer gepackt hatte, fing er gleich an zu filmen. Zum Glück hatte Korbinian die zweite Kamera mit in die andere Maschine genommen, sonst hätte Annika gar nichts tun können. Vor ihm aus dem Cockpitfenster konnte er deutlich Helena sehen, die vorausflog. Er schwenkte mit der Kamera am hellgrau gezackten Horizont entlang. Das mussten die Gipfel des Transantarktischen Gebirges sein. Als er mit seiner Kamera fast am rechten Seitenfenster angekommen war, schob sich eine zweimotorige Propellermaschine mit zwei großen Tanks unter den Flügen in sein Kamerabild. Thomas öffnete sein geschlossenes Auge und schaute an dem Sucher seiner Kamera vorbei, um sich zu vergewissern, dass das Flugobjekt keine Einbildung war. Er zoomte so nah er konnte an das Flugzeug heran, sodass er sogar erkennen konnte, wer sich am Steuer befand. Seine Tochter. Seine Tochter flog das Flugzeug? Sie konnte gar nicht fliegen, und wieso sollte sie plötzlich auch in einer separaten Maschine an ihnen vorbeifliegen?

„Das ist Dieter mit seiner Twin Otter. Unser Rückflugticket!“, kommentierte Oleg. Im selben Moment sah Thomas, dass Annika mit ihrem Körper eine zweite Person verdeckte, die das Flugzeug steuerte. Wieso war sie im Flugzeug der Kohnen2Station, und wieso war das ihr Rückflugticket? Wahrscheinlich hatte Alexander Müller sie kurz vor dem Start in die Twin Otter gesteckt, damit Annika beide Helikopter beim Fliegen filmen konnte. Nur zu dumm, dass ihre Kamera in der Obhut von Korbinian Regenfus war, der sich allerdings auf der Helena befand. Wieso Dieter und sein Flugzeug ihr Rückflugticket bedeuteten, musste er Oleg fragen.

„Sehen Sie die vier Tanks an den Flügeln? Darin befindet sich der Treibstoff für den Rückflug der beiden MilMi26Hubschrauber“, sagte Oleg.

„Das heißt, wenn dem Vogel was passiert, sind wir ziemlich aufgeschmissen?“

„Wir müssen jedenfalls ein paar Tage länger bleiben, bis Hilfe kommt. Aber keine Sorge, dafür wurde genügend Verpflegung mitgenommen“, antwortete der russische Copilot.

Thomas blickte wieder zur Twin Otter und sah seine Tochter winken.

Tatsächlich hatte Alexander Müller Annika kurz vor dem Start von der KohnenStation in diesen Flieger gesetzt. Lieber wäre sie bei Jenay in der Helena mitgeflogen, aber Alexander Müller dachte, dass es eine gute Idee wäre, wenn sie von Dieters Flugzeug aus die Helikopter in der Luft filmte. Leider hatte Korbinian die zweite Kamera. Irgendwie war Annika froh darüber, dass sie keine Kamera dabei hatte. Endlich konnte sie die Weiten der Antarktis aus dem Cockpit in Ruhe genießen, ohne Adrian oder Alexander Müller im Nacken zu haben. Sicherlich ärgerte sich Müller jetzt, aber es würde auf dem Rückweg noch mal die Möglichkeit geben, die zwei MilMi26Helikopter nebeneinander in der Luft zu filmen.

Außer Dieter Hase von der Kohnen2Station war sie die Einzige in diesem Propellerflugzeug. Die Twin Otter war eine kleine Passagiermaschine und hatte etwa die Größe eines Privatjets. Etwa fünfzehn Leute würden in ihr Platz finden, schätzte sie.

Im Augenblick waren alle Sitze im Passagierabteil durch Kisten und jede Menge Container ersetzt. Dieter wollte ihr erst gar nicht erzählen, was in den Containern alles drin war, aber der Geruch nach Kerosin, der sich im ganzen Flugzeug festgesetzt hatte, verriet ihr Geheimnis. Anfangs hatte Annika schon ein sehr ungutes Gefühl gehabt, in diesen treibstoffgefüllten Bomber zu steigen. Die Aussicht aus der Cockpitscheibe machte es ihr aber leicht, nicht mehr an die brennbare Flüssigkeit um sie herum zu denken. Vor ihnen erstreckte sich das Transantarktische Gebirge. Eine Gebirgskette, die sich quer durch den antarktischen Kontinent zog und dabei wie ein Staudamm, eine Eisschicht von zum Teil über viertausend Metern aufstaute. Da sie mit ihrem Flugzeug bereits über zweieinhalb Kilometer Eis flogen, bohrten sich die schwarzen Gipfel noch zweitausend Meter vor ihnen aus dem Eispanzer in den Himmel. Annika konnte an den breiten Strömen aus Schnee und Eis, die durch die Furchen und Spalten des Bergmassivs jagten, sehen, dass hier die Fallwinde besonders heftig waren.

Adrian hatte ihr auch bereits erklärt, dass diese Winde kein Produkt von Wind und Wetter waren, sondern aufgrund der Schwerkraft fielen, wie es der Name schon sagte. Schade, dass Jenay nicht mit ihr in die Twin Otter durfte, aber wäre noch ein Platz frei gewesen, wäre jetzt Adrian hier mit an Bord. Er hätte sicherlich diesen fantastischen Anblick und die tolle Atmosphäre mit seinen ständigen Kommentaren zerstört. Dann lieber alleine mit dem wortkargen Dieter Hase. Der magere Mann mit den wenigen blonden Haarstoppeln schwieg nicht aus Ignoranz, sondern aus Schüchternheit. Jedenfalls vermutete das Annika, auf die er einen äußerst harmlosen Eindruck machte. Selbst die etwas zu groß geratene Gletscherbrille mit den gelb getönten Gläsern verlieh ihm in keiner Weise etwas Lässiges. Besonders witzig sah es aus, dass sie unter der Gletscherbrille deutlich die kleine ovale Brille mit den starken Gläsern sah. Seit dem Start hatte sie immer wieder versucht, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, doch er zog irgendwie nicht mit. Vielleicht beanspruchte ihn das Fliegen auch zu sehr. Mit zunehmender Annäherung an das Gebirgsmassiv wurden die Luftturbulenzen immer heftiger.

Annika konnte erkennen, dass sie eine Unterbrechung in der Gebirgskette anflogen.

„Das ist unser Tor zu den Hochebenen der Ostantarktis. Der Flug durch diesen Canyon wird wegen der massiven Bündelung der Fallwinde etwas holprig werden, aber keine Sorge, diese Strecke bin ich schon paar Mal geflogen.“ Das war gerade der längste Satz gewesen, den Dieter von sich aus gesagt hatte. Zwischen den Gipfeln, die den höchstens dreihundert Meter breiten Canyon schlossen, konnte Annika nur einen reißenden Strom aus Schnee und Nebel erkennen, der sich zum Tal hin in unendlich viele Bäche verzweigte.

„Da wollen Sie durchfliegen?“, sagte Annika fassungslos.

„Ja, klar. Habe die Strecke oft getestet, als ich Eiskernbohrungen dort oben gemacht habe. Ich weiß, das sieht nicht gerade einladend aus, und sicherlich war das Wetter schon mal besser, aber hier in der Antarktis kann man sich nicht auf den Wetterbericht verlassen“, sagte Dieter mit einem freundlichen Grinsen, das etliche Zahnlücken präsentierte.

„Können wir denn nicht einfach drüber hinweg fliegen?“, fragte Annika, obwohl sie die Antwort bereits erahnte.

„Wir schon, aber für die Rotoren der Mil Mi26 ist die Luft dann doch zu dünn. Aber machen Sie sich keine Sorgen. Wir fliegen einfach durch, und die zwei Hubschrauber folgen ganz locker unserem Signal. Wir haben das schon getestet.“

„Und das mit so großen Hubschraubern?“

„Natürlich nicht. So, jetzt geht’s gleich los.“ Routiniert zupfte er das Mikro an seinem Headset zurecht und betätigte ein paar Schalter.

„Kohnen Twin Otter an Helena und Leandra. Leuchtfeuer ist aktiv. Bitte schließen Sie auf und geben Sie mir ein Signal, wenn Sie bereit sind, mir in den Canyon zu folgen.“

Icecore

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