Читать книгу Icecore - Alexander Stania - Страница 5

Distanz 130

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Die anderen waren schon längst in ihren Zimmern, als Tangatjen seinen Schlüssel in das zerkratzte Türschloss steckte. Alles hier war ziemlich heruntergekommen. Tangatjen machte sich keine Hoffnung, dass es hinter der Zimmertür besser aussah. Gerade als er in sein Zimmer gehen wollte, bemerkte er, dass eine etwa gleich große Gestalt von der Seite auf ihn zutrat. Etwas erschrocken drehte er sich um.

„Hallo Tangatjen, alter Freund! Wie geht es dir?“, erklang die Stimme der unbekannten Gestalt. Mit dem Klang der Stimme konnte er auch das rundliche, mit kleinen Fältchen übersäte Gesicht mit der knubbeligen Nase sofort einordnen. Es war sein rumänischer Freund Octavian Goga, mit dem er vor neun Jahren um den Kilimandscharo gewandert war.

„Schön, dich wiederzusehen, Octavian. Seit wann bist du denn schon da?“

„Ich bin bereits seit zwei Tagen hier. Du bist der erste wissenschaftliche Kollege, der eingetroffen ist. Jedenfalls der erste ernst zu nehmende“, fügte Octavian betonend hinzu. Dr. Octavian dozierte, wenn er nicht gerade auf Reisen in ferne Kontinente war, an der Polytechnischen Universität Bukarest.

Seine wahre Leidenschaft neben Geologie und Archäologie lag in der Quantenphysik. Es war allerdings nur sein Hobby, aber manchmal brachte er Ansätze davon in seine Vorlesungen an der Uni mit ein. Sein Beruf hatte ihn so mancher Geheimnisse über die weltlichen Religionen beraubt. Nun fiel es ihm zunehmend schwer, an einen klassischen Gott zu glauben. Aber ein Atheist wollte er auch nicht sein, und so hatte er sich in die Welt der Atome und Quarks gestürzt. Dort hoffte er, einen Anhaltspunkt für Gott und das Leben nach dem Tod zu finden.

Für Octavian wurde die Quantenphysik zur Religion, und er saugte alles auf, was für ihn irgendwie paranormal oder einfach unerklärlich war. So hatte ihn die Geschichte von Tangatjens Eiskernbohrungen vor achtzehn Jahren, welche ihm dieser bei einer KilimandscharoExpedition anvertraut hatte, bis heute beschäftigt. Sehr gerne wäre er diesem Geheimnis auf die Spur gekommen. Eine private Expedition in die Antarktis hätte er vielleicht mit viel Mühe und Kosten auf die Beine stellen können. Wie aber sollte er in eine Tiefe von eintausendsechshundert Metern kommen? Er hatte es eigentlich schon aufgegeben, bis ihn Tangatjen anrief und ihm anbot, mitzukommen. Natürlich hatte er zugesagt, lediglich seiner Frau hatte er das wahre Ziel nicht verraten. Sie ließ ihn sein Hobby zwar ausleben, aber in die Antarktis hätte sie ihn nicht gehen lassen. So befand er sich offiziell in Peru auf einer wissenschaftlichen Exkursion mit seinem alten Freund Tangatjen Chakalakel.

„Die anderen Kollegen haben entweder Hausverbot bekommen, oder sie trauen sich nicht. Wie sieht es bei dir aus, hat deine Frau dich einfach so weggelassen?“, fragte Octavian mit einem lausbübischen Grinsen.

„Ich hab noch nicht geheiratet“, antwortete Tangatjen.

„Immer noch nicht? Du bist doch bestimmt schon fünfundfünfzig!“

„Neunundfünfzig!“, korrigierte Tangatjen.

„Na, dann ist es fast zu spät. Sollte nur ein Scherz sein“, schob Octavian noch schnell hinterher, da er nicht wusste, ob der Inder das als lustig empfand. Tangatjen lächelte meistens, und diese kleine Spitzfindigkeit verursachte nicht das geringste Zucken in seinen Mundwinkeln.

„Hab es lange versucht, aber als eingefleischter Geologe sucht man meistens an der falschen Stelle. Ich habe dieses Spiel meinem Assistent Jenay überlassen, und wenn er sich nicht völlig ungeschickt anstellt, klappt es auch bald.“

„Jenay ist der junge Geologiestudent, den du schon am Telefon erwähnt hast, oder? Hast du den Deutschen auch mitgebracht?“

„Ja, ihn und sein hübsche Tochter.“ Dabei legte Tangatjen die Betonung auf hübsch und unterstrich dies noch mit einem Augenzwinkern.

Octavians Lächeln wurde breiter. „Ich verstehe!“

Distanz 129

Ein Stockwerk direkt unter Octavian und Dr. Seeger befand sich die Suite des Hotels. Sie bestand aus einem Zimmer, das etwa doppelt so groß war wie die restlichen Räume. Sie hatte ein eigenes Bad mit WC und war mit schöneren und neueren Teppichen ausgestattet.

Durch eine dünne Wand mit japanischen Mustern wurde die Suite in ein Schlafzimmer und ein Arbeitszimmer getrennt. Das Himmelbett aus hellem massiven Fichtenholz und die passenden Hirschbacher Bauernmöbelreplikate passten optisch unerwartet gut zur Trennwand aus Papier. Lediglich die dunkelbraune Tür, die wie alle anderen Zimmertüren des Hotels ziemlich heruntergekommen aussah, hob sich für ein empfindliches Auge negativ ab. Leichte Schläge ließen das alte Holz der Tür vibrieren, sodass sogar lockere Lackstücke abbröckelten.

„Kommen Sie herein!“, sagte eine Person, die in einem der zwei Ledersessel saß und lässig ihre Beine übereinander geschlagen hatte. Diese Person war eindeutig männlich, was jeder an dem markanten faltigen Gesicht ablesen konnte. Dieser Mann war auch nicht mehr der jüngste, obwohl dies der schlanke Körperbau unter dem schwarzen Anzug nicht verriet. Es lag allein an dem von tiefen Falten durchzogenen Gesicht und den Augen, von denen nur noch schwarze Schlitze zu sehen waren. Hätte jemand wie Annika einen Vergleich aus der Filmindustrie herangezogen, wäre ihr wohl Clint Eastwood in den Sinn gekommen. Allerdings hatte dieser Mann keine Haare, und an seiner rechten Schläfe zog sich eine große Narbe bis hinter das rechte Ohr.

Sein linker Arm ruhte auf der Sessellehne. Die rechte Hand lag auf dem Touchpad eines Laptops, von dessen Displayschein sein Gesicht mit bläulicher Farbe bestrahlt wurde. Auf dem Display waren mehrere Internetbrowser geöffnet. In einigen von ihnen waren Fotos von Annika und ihren Begleitern zu sehen. Der Mann widmete weiterhin seine Aufmerksamkeit dem Laptop, während sein Besuch den Raum betrat. Diese Person war nicht ganz so alt, hatte aber auch die fünfzig bereits hinter sich gelassen. Auch ihm sah man sein Alter nicht an. Sein jugendlich geschnittenes Gesicht und die glatten, blonden, halblangen Haare machten ihn jünger, als er war. Er hatte einen grauen Wollpulli an und darunter ein dunkelblaues Sweatshirt, von dem nur der Rollkragen zu sehen war. Der kahlköpfige Mann zeigte mit einer einladenden Geste zu dem noch leeren Sessel gegenüber.

„Mascha hat mir eben berichtet, dass die letzten Teammitglieder eingetroffen sind“, sagte er, während er seine linke Hand zu seiner Nase führte, um dort seine Lesebrille abzunehmen.

„Ja, die Letzten sind endlich eingetroffen ? und das noch ganz gut im Zeitplan. Ich denke, dass wir übermorgen starten können“, sagte der blonde Mann mit einem zuversichtlichen Grinsen.

„Das sehe ich auch so. Ich wollte aber mit dir über diese neuen Gäste reden. Besonders über dieses junge Mädchen!“ Er verjüngte fragend seine Augenlider.

„Wieso sollen wir sie eigentlich mitnehmen?“

„Das ist die Assistentin des Dokumentarfilmers!“, antwortete der Mann etwas unsicher.

„Sie ist die Tochter von Thomas Nowak!“ Dabei ließ er auf dem Laptop ein Bild aus der Taskleiste aufpoppen, welches Annikas Webseite und ein Foto von ihr zeigte.

„Wir betreiben hier doch keine Vetternwirtschaft, oder?“

„Ich weiß, sie ist noch recht jung, aber sie hat einige Projekterfahrung, was das Medium Film angeht. Sie war auf der Filmhochschule in Ludwigsburg, und da dachte ich mir, dass jemand wie sie unserem Dokumentarfilm sicherlich nicht schaden kann. Ein dramaturgischer Aufbau und spannende Bilder sind heutzutage auch bei Dokumentarfilmen sehr wichtig. Darüber hinaus kennt sie sich mit digitalen Spezialeffekten aus.“

Alexander Müller war gerade im Begriff, die junge Frau noch weiter in den Olymp zu heben, als der dunkel gekleidete Mann seinen Redefluss sehr unsanft unterbrach.

„Das mit dem Dokumentarfilm ist auf deinem Mist gewachsen! Ich möchte nur wissen, ob dieses Mädchen nicht unnötiger Ballast ist!“

„Sie ist zierlich und wiegt nicht viel, was den Ballast angeht“, scherzte Müller.

„Ich plane diese Mission seit fünfzehn Jahren, und mein Ziel war es nie, einen Film zu drehen. Diese Expedition ist in keiner Weise zum Vergnügen gedacht.“ Je länger der dunkle Mann sprach, umso härter wurden die Worte.

„Falls du es vergessen hast: Jeder, der hier mitmacht, kommt vielleicht nicht wieder lebend zurück. Wissen die das auch?“

Alexander Müller fühlte sich ziemlich überrollt von der Art seines Chefs, besonders weil er gedacht hatte, dass dieses Thema abgehakt sei.

„Dieser Doktor hatte mir die Pistole auf die Brust gesetzt, und Thomas Nowak wolltest du doch auch dabeihaben!“

„Mag sein, Alex. Ich möchte nur von dir wissen, ob dieses Mädchen ein Risiko darstellt?“

„Okay. Du vertraust Thomas. Ich denke, dass wir seiner Tochter auch vertrauen können. Aus dem Grund ist sie die geeignetste Assistentin. Und wir brauchen eine Assistentin. Thomas braucht sie. Für einen Dokumentarfilm reicht nun mal nicht nur einer.“ Der Mann im dunklen Anzug hörte geduldig den etwas unbeholfenen Erklärungen von Alex zu.

„Sag mir einfach einen Grund, wieso ich sie mitnehmen soll.“

Alex war selbst über sein planloses Gestammel verwundert. Er war in Erklärungsnot geraten und versuchte, sich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren. Das Wesentliche war das Finanzieren dieses Unternehmens oder der letztendliche materielle Gewinn. Alex hatte sich wieder gefangen. „Wir brauchen einen ordentlichen Dokumentationsfilm, Bernhard. Die Entwicklungskosten für diese äußerst speziellen Maschinen haben ein erhebliches finanzielles Loch in dein Unternehmen gerissen. Die Auswertung des völlig unbekannten Objekts lässt keine kalkulierbaren Gewinne erwarten. Wenn überhaupt ein Gewinn aus dem Fund gemacht werden kann. Deshalb sollten wir doch wenigstens dafür sorgen, dass wir etwas nach Hause bringen, was uns wenigstens etwas Geld einbringt.

Und wenn ich dich daran erinnern darf: Ein gut gemachter Dokumentarfilm kann gewaltig viel Geld einbringen. Er sollte allerdings von Profis gemacht werden. Vielleicht beruhigt es dich ja, dass ich mit Korbinian und Pilot Stanislav Kronos gesprochen habe. Und sie gaben mir ihren Segen.“

„Wäre nur schön gewesen, wenn du dir auch meinen Segen geholt hättest. Du trägst jedenfalls die volle Verantwortung für sie!“, sagte der kahlköpfige Mann, während er mit seinen rechten Fingerspitzen seine Schläfe berührte, als hätte er Kopfschmerzen.

„Bernhard, ich weiß, dass die Planung dieses Projekts dein einziger Lebensinhalt in den letzten neunzehn Jahren war, aber irgendwann ist es zu Ende, und dann sollte man einen Plan für die Zukunft haben.“ Alex versuchte, seine Stimme so verständnisvoll wie möglich klingen zu lassen, da Bernhard meistens sehr empfindlich auf seine wahren Beweggründe reagierte.

„Dafür hab ich ja dich“, musste er zugeben, denn er wusste, dass letztendlich nicht alles er zu entscheiden hatte. Besonders, was die Finanzierung seiner Mission anging.

Distanz 128

Ein Stockwerk darüber befand sich Thomas’ Quartier. Er hatte sich so lange damit beschäftigt, welche seiner Sachen er in die Hotelschränke einräumen sollte, dass er es aufgegeben hatte, sich über ein Nickerchen Gedanken zu machen. Normalerweise räumte er seinen Koffer sofort aus, oder er ließ alles drin. Das hing davon ab, wie lang er blieb. Doch hier war ihm nicht klar, wann die Reise weitergehen sollte. Es war nicht mal klar, wie es weitergehen würde und ob sie vielleicht dieses Hotel als Basis verwendeten. Denn wenn sie von hier direkt in die Antarktis aufbrachen, sollte er noch mal genauestens über die Ausrüstung nachdenken. In der Antarktis war jedes Gramm zu viel Gewicht, und er hatte jede Menge schwere Akkus für die Kameras dabei. Zwei externe TerabyteFestplatten für das ganze HDBildmaterial, welches in einer progressiven Auflösung von 1920 x 1080 schnell viel Speicherplatz fraß. Einen Koffer für verschiedene Objektive, Lichter und Mikrofone. Diese brauchten wiederum Akkus und Netzgeräte zum Anschließen an einen mobilen solarbetriebenen Stromgenerator. Überhaupt fühlte er sich von einer Netzteillawine überrollt. Laptop, PDA, Camcorder, Digitalkameras, Lichter, Elektrozahnbürste, MP3Player, PSP und das Mobiltelefon brauchten jeweils eines. Auf das Handy und ein paar weitere Geräte konnte er im Ewigen Eis verzichten. Aber konnte er es hier lagern? Auch bei der Bekleidung konnte er etwas abspecken.

Er entschloss sich dazu, das KickoffMeeting abzuwarten, welches allerdings erst für morgen angekündigt war. Für den heutigen Abend reichten frische Kleidung und sein Kulturbeutel. Er kramte in seinem Koffer ziellos herum. Irgendwann hielt er das Bild von Verena und Annika in seinen Händen. Es stand normalerweise in seiner Wohnung, neben seinem Bett. Es zeigte die beiden an dem Tag am Flughafen, an dem er sie gehen ließ und das letzte Mal gesehen hatte. Er machte es sich wirklich nicht leicht, sie loszulassen. Im linken Arm hielt sie die kleine, neun Jahre alte Annika umarmt, und in der rechten Hand hielt sie das rote Tagebuch. Er stellte das Foto auf das Nachtkästchen des Hotels. Thomas hätte eigentlich kein Bild von ihr gebraucht. Er hatte ein sehr gutes räumliches Vorstellungsvermögen und für Gesichter ein annähernd fotografisches Gedächtnis. Durch dieses Talent war er Fotograf geworden und seine Tochter 3DKünstlerin. Diese Gabe ließ auch Verenas Erinnerung nie verblassen.

Er war tatsächlich verrückt geworden. Ein hoffnungslos verrückter Romantiker ohne Aussicht auf ein Happy End. Er schaute dem Abbild Verenas auf dem Foto in die Augen und sprach:

„Wenn diese Reise vorüber ist, werde ich dich gehen lassen.“ Dann packte er seinen blauen Kulturbeutel und die frischen Sachen und verließ sein Zimmer, um zum Gemeinschaftswaschraum zu gehen.

Distanz 127

Ein Zimmer neben Thomas schaute Jenay aus dem Fenster von Annikas Hotelzimmer. Er blickte nicht aus Interesse nach draußen, sondern versuchte aus Höflichkeit, seinen Blick von Annika abzuwenden, während sie ihren Skianzug anlegte. Er hatte ihr versprochen, einen Blick auf dessen Antarktistauglichkeit zu werfen. Doch in seinem tiefsten Inneren wuchs eine angenehme Erregung, welche er wiederum mit seiner anerzogenen Zurückhaltung zu unterdrücken versuchte.

Etwas jenseits der Hauptstraße half ihm dabei, seine Konzentration aufrechtzuerhalten. Gegenüber dem Hotel lag der kleine Transportflughafen, an dem sie angekommen waren. Davor erstreckte sich die Straße, die der dreiste Taxifahrer mit ihnen entlanggefahren war. Gerade jetzt fuhr dort ein Sattelschlepper mit einem etwa acht bis zehn Meter langen Anhänger. Das Besondere dieses Fahrzeugs bildete die Fracht, welche unter grauen Planen auf dem Anhänger mit Sicherungsgurten festgeschnallt war. Jenay schätzte aufgrund der Umrisse, dass sich größere Geräte unter den Planen befanden. Vielleicht irgendwelche Baustellenarbeitsgeräte wie Bagger oder Planierraupen. Er schaute dem Transporter hinterher. Zwischen dem Hauptgebäude und den großen Hangars verschwand das Fahrzeug mit seiner geheimnisvollen Fracht. Irgendwie wirkte dieser Transport leicht verstohlen auf Jenay.

„Du kannst dich umdrehen“, erklang Annikas angenehme Stimme.

Er drehte sich langsam um und blickte Annika in ihrem enganliegenden Skianzug an. Der Schnitt betonte ihre weiblichen Rundungen auf natürliche Weise, ohne sie beim Betrachter als gewollt aufdringlich wirken zu lassen.

„Sehr schön“, holperten verlegen die zwei Worte über Jenays trockene Lippen.

„Und findest du, das reicht für die Antarktis?“, fragte Annika, während sie ihren Kopf leicht zur Seite kippte und ihn mit ihren großen grünen Augen kritisch ansah.

„Ich hoffe doch“, sagte er mit noch trockener Kehle, als würde er gleich verdursten.

Distanz 126

Tangatjen hatte ein sehr ähnliches Zimmer wie die anderen. Lediglich der Grad der Abnutzungserscheinung und das Muster des Teppichs verliehen dem Zimmer etwas Individuelles.

Den einzigen Stuhl im Raum hatte Tangatjen seinem alten Freund Octavian angeboten. Er selbst saß auf dem Bett. Beide tranken aus Plastikbechern einen Balvenie Double Wood, den Tangatjen noch am Flughafen von Puerto Montt gekauft hatte. Leider hatte er keine vernünftigen Whiskygläser mehr bekommen und musste zu diesem Kompromiss greifen. Octavian hatte damit keine Probleme, und so unterhielten sie sich entspannt und genossen den zwölf Jahre alten Whisky.

Sie redeten viel über vergangene Reisen, lästerten über Kollegen und deren Vorträge sowie Veröffentlichungen. Natürlich rätselten sie über die bevorstehenden Ereignisse. Octavian schimpfte über einen in seinen Augen nicht anerkannten Wissenschaftler, Adrian Kolarik, der sich hier als MöchtegernAntarktisspezialist ausgab. Dieser junge Mann war in seinen Augen höchstens Skilehrer gewesen. Er hatte aber des Öfteren den Süd und Nordpol bereist und anschließend langweilige Reiseberichte verfasst. Da bis jetzt kein anderer ernst zu nehmender Wissenschaftler anwesend war, musste er sich mit diesem aufgeblasenen Wichtigtuer herumärgern. Octavian erzählte seinem Gegenüber auch von den Missionsteil¬nehmern, die er sonst noch kennengelernt hatte, und Tangatjen hörte aufmerksam zu. Doch seine Gedanken, leicht vom Alkohol vernebelt, schweiften langsam von den Worten seines Freundes ab. Sie zogen ihre Bahnen zu tiefer liegenden Sorgen und vergrabenen Ängsten. Ängste, die er unter anderen Umständen immer gut verdrängen konnte.

„Die Zeit vergeht wie im Flug, alter Knabe. Viel haben wir gesehen, aber das wird wahrscheinlich mein letzte Reise werden“, sagte Tangatjen in einer neuen, schwermütigeren Tonart.

„Wie alt bist du noch mal? Ein Geologe wie du wird sich doch erst zur Ruhe setzen, wenn ihm jemand die Beine abhackt“, entgegnete Octavian, der die Melancholie in Tangatjens Stimme nicht bemerkt hatte. Der Inder blickte gedankenverloren in seinen Plastikbecher voller Whisky. Niemanden außer seiner Haushälterin in Indien hatte er bisher davon erzählt. So war er nun mal. Die zwei Becher Whisky ließen ihn melancholisch werden.

„Du darfst es den anderen nicht verraten, es würde sie nur unnötig verunsichern. Außerdem hätte es für diese Expedition keine Bedeutung.“ Octavian ahnte bereits, was Tangatjen sagen wollte, und setzte schon mal eine sehr besorgte Miene auf.

„In meinem Kopf wächst schon seit längerer Zeit ein Karzinom, das nicht entfernt werden kann. Die Ärzte geben mir noch höchstens ein Jahr. Dann ist es vorbei.“ Ein kurzes Schweigen und ein verständnisvoller Blick ohne falsches Mitleid begegneten Tangatjen.

„Es tut mir sehr leid, alter Freund. Wie du gesagt hast, wir haben viel erlebt, und diese Reise wird nicht nur der Höhepunkt deines Leben sein, sondern auch der meines. Ich bin sehr stolz darauf, diese Expedition mit dir machen zu können.“ Mit diesen Worten hob Octavian seinen Becher Tangatjen zum Prost entgegen.

Distanz 125

Um halb acht trafen sie sich wieder zum Abendessen im Speisesaal. Zu ihnen an den runden Plastiktisch, der mit einer minderwertigen Tischdecke bedeckt war, hatte sich Octavian Goga gesellt. Der Biologe war Jenay, Annika und Thomas auf Anhieb sympathisch. Sie unterhielten sich sehr angeregt, während sich am Buffet eine lange Schlange gebildet hatte. In dem rechteckigen, zwanzig mal zwanzig Meter breiten Raum hatten sich schon vor ihnen einige Leute eingefunden. Grob geschätzt waren es etwa zwanzig bis dreißig Menschen. Annika fragte sich, ob das alles Expeditionsteilnehmer waren. Auf jeden Fall war sie die einzige weibliche Person, da die Russin Mascha nicht anwesend war. Sie fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut, da sie permanent das Gefühl hatte, angestarrt zu werden. Besonders fiel ihr eine große, dunkel gekleidete Person auf, die sie leicht an Clint Eastwood erinnerte. Er saß etwa zehn Meter weit von ihrem Tisch entfernt, dennoch hatte sie den scharfen Blick bemerkt. Annika versuchte, sich wieder auf ihre Tischrunde zu konzentrieren. Sie hatte nicht das Gefühl, hier willkommen zu sein. Das sanfte Lächeln von Jenay, der ihr gegenüber saß, ließ sie sich schnell an das angenehme Gefühl erinnern, als es offensichtlich zwischen ihnen geknistert hatte. Es war kaum eine halbe Stunde her, als sie sich beide ihrer Gefühle zueinander bewusst geworden waren. Bevor sie diese Tatsache aussprechen konnten, waren sie allerdings unsanft vom Klopfen ihres Vaters gestört worden. Annika hatte mit solch einem emotionalen Sturm nicht gerechnet. Aber wieso auch nicht.

„Ich denke, wir können uns auch mal anstellen“, sagte Dr. Chakalakel voller Vorfreude auf das Essen.

„Das finde ich auch, die Schlange hat sich schon fast aufgelöst. Na, hoffentlich ist noch was übrig geblieben“, unterstützte ihn sein alter Freund, Dr. Goga. Doch gerade als sie sich alle in Bewegung setzen wollte, wurden sie wieder ausgebremst.

Eine tiefe Männerstimme setzte sich über den Lärm im Speisesaal hinweg. Sie war so markant, dass in wenigen Sekunden Ruhe im Raum eingekehrte. Denn jeder wusste sofort, wer da sprach. Der dunkel gekleidete Mann, der Annika gemustert hatte.

Das Quietschen von Scharnieren, die seit Jahrzehnten nicht geölt worden waren, zerschnitt die gerade erst eingekehrte Stille. Die Türen des Speisesaals wurden von zwei Angestellten des Hotels geschlossen.

Der kahlköpfige Mann blickte ohne das geringste Lächeln in die Runde.

„Heute Nachmittag sind die letzten Expeditionsteilnehmer eingetroffen. Das Team ist nun komplett. Da ich kein Freund von unnötigen Leerlaufzeiten bin, nutze ich dieses Abendessen gleich dazu, die weiteren Schritte der Expedition anzukündigen.“ Er legte eine Pause ein, um sich der ungeteilten Aufmerksamkeit seiner Zuhörer zu vergewissern. Tangatjens und Octavians Blicke trafen sich fast gleichzeitig. Keiner sagte etwas, aber in ihren Gesichtern lasen sie dieselbe Frage. Thomas, Annika und Jenay warteten unbeeindruckt darauf, dass sich diese Person als Alexander Müller, Geschäftsführer von DDC, vorstellen würde. Doch Tangatjen und Octavian hatten einen anderen Verdacht.

„Mein Name ist Dr. Seeger, Leiter dieser Expedition, Oberhaupt und Gründer von Blizzard.“ Dr. Seeger deutete mit einer Geste zu der blonden Person, die rechts neben ihm saß.

„Mit meinem Geschäftspartner und Geschäftsführer von Deep Digging Constructions, Herrn Alexander Müller, haben die meisten schon telefonisch Kontakt gehabt. Er wird auch in diesem Projekt alles Finanzielle regeln und ein Auge auf unser Budget haben.“ Dabei huschte Dr. Seeger ein leicht angedeutetes Lächeln über die Lippen. Annika wurde dieser Mann dadurch nicht unbedingt sympathischer.

Dr. Seeger war gerade dabei, den Mann zu seiner Linken vorzustellen. „Sollten Sie Fragen zum Ablauf und zur Koordination haben, dann fragen Sie ihn hier. Das ist Korbinian Regenfus, unser Missionssupervisor.“ Der Durchschnittseuropäer, dessen einzige Auffälligkeit sein permanent verschlafener Blick bildete, stand auf. Die verstrubbelte Frisur und das zu große, zerknitterte Hemd verstärkten den Eindruck einer Person, die gerade in ihren Sachen aufgewacht war. Korbinian nickte Dr. Seeger kurz zu, und er erwiderte das Zeichen ebenfalls mit einem Nicken. Nun übernahm der Supervisor das Wort. In seiner Simme erklang zur Verwunderung derjenigen, die ihn nicht kannten, ein frischer, aufgeweckter Ton.

„Wie Dr. Seeger bereits gesagt hat, ist er keine Person von langen Leerlaufzeiten. Aus diesem Grund gab er mir vor ein paar Stunden grünes Licht für den Start unserer Mission. Am liebsten wäre ihm, wir würden sofort nach dem Abendessen aufbrechen.“ Mit seinem müden Blick lächelte er Dr. Seeger an, im Glauben, dass dieser seinen kleinen Witz humorvoll aufgenommen hatte. Doch in dem Gesicht des kahlköpfigen Mannes war keine Spur einer Emotion zu entdecken. Durch Dr. Seegers schmale Augenschlitze konnte er dessen Augen fast gar nicht sehen. Schnell und etwas verunsichert wendete sich Korbinian wieder seinen Zuhörern zu.

„Da einige von Ihnen bisher noch keine Antarktiserfahrungen gemacht haben, können wir erst übermorgen aufbrechen. Wir nutzen den morgigen Tag, damit kleidungs und ausrüstungstechnisch alles auf den richtigen Stand gebracht werden kann. Morgen früh werden nacheinander alle von uns mit neuer Ausrüstung eingedeckt. Hierfür haben wir extra für uns alle einen Container voller Ausrüstung einfliegen lassen, der drüben im Hangar steht. Sollten Sie allerdings noch spezielle Fragen haben, dann wenden Sie sich an unseren Antarktisspezialisten.“ Er streckte seinen linken Arm aus und wies mit offener Handfläche in die Richtung eines gut aussehenden, sonnengebräunten Mannes Mitte dreißig. Dieser Mann stand ebenfalls auf und schickte ein strahlendes Lächeln durch den Raum. Obwohl er wie Korbinian weite Kleidung trug, wirkte er eher sportlich und agil. Korbinian wollte gerade mit seinem Vortrag fortfahren, als der sportliche Mann ihm das Wort abnahm.

„Mein Name ist Adrian Kolarik. Vielleicht kennen einige von Ihnen mein Gesicht bereits aus dem Fernsehen oder haben vielleicht ein Buch von mir gelesen. Sollte einer von Ihnen eine Frage haben, dann stehe ich jederzeit bereit, sie zu beantworten. Schließlich ist unser Zielort alles andere als ein Ferienparadies!“ Mit diesen Worten setzte sich der große durchtrainierte Mann. Korbinian mochte es eigentlich gar nicht, wenn ihm jemand einfach ins Wort fiel. Vor so vielen Leuten konnte er aber nicht den Beleidigten heraushängen lassen. So schluckte er seinen Ärger herunter. Er setzte gerade wieder an, seine Rede weiterzuführen, als ihm Dr. Seeger über den Mund fuhr.

„Übermorgen, um sechs Uhr früh, werden wir aufbrechen. Jeder, der dabei sein möchte, sollte spätestens um fünf Uhr früh im Hangar neben dem Flughafenhauptgebäude sein. Etwas zu essen und genauere Informationen gibt es unterwegs.“ Dr. Seegers Blick blieb an dem Tisch haften, an dem sich Thomas und seine Begleiter befanden, wobei Annika das Gefühl hatte, er würde nur sie ansehen. Dann sprach er weiter.

„Und das Dokumentationsfilmteam möchte ich mindestens eine Stunde früher mit kompletter Ausrüstung dorthaben. Herr Müller wird dann mit Ihnen alles Weitere besprechen. Wir sehen uns in zwei Tagen.“ Dr. Seeger verließ seinen Platz. Er lief zwischen den Tischen hindurch und verschwand durch die Eingangstür des Speisesaals.

Alle schauten ihm verdutzt nach. Hatte er überhaupt etwas gegessen? Dr. Chakalakel beugte sich fast bis zum Zentrum des runden Tisches.

„Wisst ihr, wer das war?“, fragte er, obwohl er die Antwort bereits kannte.

„Ich würde sagen, das war unser Boss“, sagte Jenay unbeeindruckt und lächelte Annika frech an.

„Ich weiß es“, sagte Thomas mit ernster Mine. „Dr. Seeger ist der ehemalige Geschäftsführer von Seeger Bergbau. Den alle für tot halten. Das erklärt einiges.“

„Ach ja? Was erklärt es überhaupt?“ Annikas Frage kam etwas ruppig, aber sie wollte jede Art von Mystifizierung im Keim ersticken.

„Auf diesen Namen bin ich bei meinen Recherchen öfter gestoßen. Hat mir auch Ärger eingebracht. Tangatjen hat es uns schon einmal erzählt. Diese Firma entwickelte wie die DDC sehr fortschrittliche Maschinen für den Bergbau, und sie haben für die amerikanische Regierung Aufträge angenommen, weswegen sie pleitegingen. Jedenfalls ist die Familie kurze Zeit später verunglückt. Man sagte, dass niemand überlebt hat. Und nun …“ Thomas unterstrich seine Aussage mit einer schwungvollen Handbewegung. Annika erinnerte sich wieder an die Erzählung in der Wohnung ihres Vaters. Der Mann hatte scheinbar über zwanzig Jahre lang seine Existenz verborgen und im Untergrund an diesem Projekt gearbeitet. Was steckte in solch einem Mann, der so lange auf solch konsequente Weise ein Ziel verfolgte? Er war bereit, ein Vermögen und ein Viertel seines Lebens zu opfern. Annika war auf tiefster Gefühlsebene völlig verwirrt. Einerseits hatte sie plötzlich ein gewisses Entdeckerfieber gepackt, andererseits aber war ihr das alles nicht ganz geheuer.

Seitdem der dunkel gekleidete Mann den Saal verlassen hatte, hatte Alexander Müller das Reden übernommen. Er informierte seine Zuhörer noch darüber, dass alle Zimmer bis zu ihrer Rückkehr in zwei Wochen belegt blieben und dass diese Unkosten die DCC übernahm. Danach hatte Korbinian das Wort und fing an, alle Personen und deren Funktion im Raum von einer Liste vorzulesen. Jeder Aufgerufene stand auf und lächelte kurz in die Runde:

Arzt Dr. Knut Möree, Systemadministrator Peter Wyssmann, GSAOperator Akira Kyato, Bohrer Operator Oswald Wolle, Helikoptertechniker Sascha Russlov, Fahrzeugtechniker Arnold Flußlager, Bohrtechniker Sevrem Pajak, Bohrtechniker Karlos Beretta, Dokumentarfilmer Thomas Nowak, Assistentin Dokumentarfilm Annika Nowak, Geologe Dr. Tangatjen Chakalakel, Geologieassistent Jenay Chochin, Biologe Octavian Goga, Verpflegungssupervisor Felix Armarkt, Sprengstoffexperte Bronko Hanse, Kommunikationsexperte Benedikt Welle, Allrounder Otto Klotz, Allrounder Viktor Klotz.

Bis auf die letzten zwei Namen der kräftig gebauten BudSpencerDoubles würde Annika sich sowieso keine Namen so schnell merken. Geschweige denn, diese je richtig zuordnen können. Irgendwann mitten in diesem Namengeplätscher war auch ihrer gefallen. Sie war aufgestanden, hatte alle mit ihrem Lächeln beglückt und sich wieder hingesetzt. In den Augen der Anwesenden hatte sie unterschiedliche Emotionen wahrgenommen. Einige erwiderten ihr Lächeln, andere wirkten eher verstört darüber, dass so eine junge Frau mit dabei war. Doch keiner hatte sie so sehr gemustert wie Dr. Seeger, und niemand hatte sie freundlicher angestrahlt als Adrian Kolarik. Als sie sich setzte, ging ihr nicht mehr diese Expedition oder Jenay durch den Kopf, sondern dieser äußerst attraktive Mann.

Korbinian setzte sich, und da niemand sonst das Wort ergriff, konnte endlich gegessen werden. Doch zuallererst mussten sie sich zum Buffet begeben.

Wieder wollte Tangatjen den Startschuss geben, da war auch schon Adrian Kolarik an ihrem Tisch, zog einen freien Stuhl vom Nachbartisch und setzte sich ausgerechnet zwischen Dr. Octavian Goga und Annika.

„Ich hoffe, Sie entschuldigen, dass ich Sie vom Buffet abhalte, aber Sie fünf werden die Ersten sein, die morgen früh zum Hangar gehen müssen.“

„Entschuldigung angenommen“, erwiderte Annika angetan, bevor Octavian ein schwerfälliger Seufzer herausrutschte.

„Wenn ich ehrlich bin, halten Sie uns auf. Ich habe genug Vorträge angehört.“ Mit diesem Satz erhob sich Octavian und ging zum Buffet. Alle am Tisch schauten dem kleinen, leicht untersetzten Wissenschaftler nach. Auch Adrian war überrascht, richtete seine Aufmerksamkeit aber wieder auf jene, die noch am Tisch waren. Er besprach mit ihnen die Reihenfolge, in der sie zum Containerlager gehen sollten, und beschrieb ihnen erneut den Weg. Bevor er ging, zwinkerte er Annika noch einmal zu und verschwand dann zum nächsten Tisch.

„So ein übler Bursche ist er doch gar nicht. Weiß überhaupt nicht, was Octavian hat“, stellte Annika fest.

„Ich kann Octavian verstehen. Mir gefällt der Typ auch nicht.“ Jenay hatte mit verschränkten Armen eine abweisende Trotzhaltung eingenommen, und Annika erkannte sofort, warum Jenay etwas gegen Adrian hatte. Ohne etwas zu sagen, stand Jenay auf und ging zum Buffet. Machte er ihr gerade eine Szene? Annika hätte nicht gedacht, dass Jenay so empfindlich war.

Als er nach einiger Zeit vom Buffet zurückkam, blickte sie ihm erst sehr ernst entgegen, aber als sie die zwei Schüsseln mit dem Eintopf in seinen Händen bemerkte, fiel der Schatten von ihrem Gesicht. Jenay setzte sich neben sie und schob eine der Schüsseln vor sie.

„Ist leider alles, was es noch gibt, und was es sonst noch gibt, hat die Katze.“

„Ist für die Katz’“, verbesserte Annika ihn sanft. Jenay blickte sie etwas zu lange fragend an, sodass sie unsicher wurde, ob sie ihn überhaut verstanden hatte.

„Du meintest doch das Sprichwort?“

„Sprichwort? Nein, da war eine Katze. Ach, ist nicht so wichtig. Lass es dir schmecken.“ Er lächelte sie liebevoll an.

„Danke, Jenay.“ Annika erwiderte sein Lächeln auf dieselbe Weise.

Distanz 124

Thomas fühlte sich wie in einem Raumanzug. Es fehlten nur noch ein Sauerstoffbehälter auf dem Rücken und ein Helm mit einem großen runden Sichtfenster. Beides war Gott sei Dank nicht nötig. Für die Bedeckung von Mund und Nase trug er einen Wärmeschutz, der stark an den Kragen eines dicken Rollkragenpullovers erinnerte. Über den Augen trug er eine selbsttönende Skibrille mit verbreitertem Seitenschutz. An den Bügelenden waren Stofflappen, die der Antarktisforscher bei Bedarf über die Ohren legen konnte.

„Kaum wiederzuerkennen“, sprach die weibliche Stimme hinter ihm, während Thomas sich im zwei Meter hohen Spiegel vor sich betrachtete. Er war einer der Ersten, die am nächsten Morgen zum Hangar aufbrechen mussten. Nun war er in Maschas Containerlager und durfte sich mit neuer Ausrüstung eindecken.

„Aber damit es zu keinen Missverständnissen auf dem Gletscher kommt, werde ich die Namensschilder auf der Brust und dem Rücken der Anzüge beschriften“, sagte Mascha und streckte ihm ein paar Stiefel hin, die alles andere als elegant aussahen. Thomas setzte sich auf einen Metallhocker und zog die wuchtigen Stiefel an. Sie erinnerten ihn an eine Mischung aus Militärstiefeln, Moonboots und Skistiefeln. Als Thomas wieder auf den Beinen stand, hatte er das Gefühl, ein paar Zentimeter gewachsen zu sein. In diesen Schuhen musste er sich jedenfalls keine Sorgen machen, dass er sich die Füße abfror.

Plötzlich hörte er das unangenehme Quietschen der Hangareingangstür. Er blickte zu der etwa zehn Meter entfernten Geräuschquelle. Durch das einfallende Licht konnte er die eintretende Person nicht erkennen. Erst nach ein paar Schritten erkannte er seine Tochter.

„Oh wie schön, endlich mal eine Frau einzukleiden.“ Mascha warf Thomas einen neckischen Blick zu. Thomas musste bei dem Gedanken, dass seine Tochter in diesen Raumanzug gesteckt wurde, schmunzeln.

Nachdem sich Annikas Augen an den nur spärlich ausgeleuchteten Hangar angepasst hatten, stach ihr als Erstes das große Flugzeug ins Auge. Es hatte die Größe einer Herkulestransportmaschine und war fast so groß wie die Boeing 737. Wie eine Herkules verfügte sie über eine große Heckladerampe. Über diese wurde gerade ein mit Panzerketten ausgestattetes Fahrzeuge ins Innere des Fluggefährtes geladen. Annika war kein Technikfetischist und konnte nur sagen, dass dieses Fahrzeug mit einer Pistenraupe nichts zu tun hatte. Etwa fünf dunkle Gestalten sah sie um das Flugzeug schleichen und die Maschine verladen. Zwei glaubte sie, anhand ihrer Körpergröße zu erkennen. Es mussten die KlotzBrüder sein, denn nur diese beiden waren von so wuchtiger Gestalt.

Vor dem großen Flugzeug stand der garagengroße Metallcontainer. Wie bei einem Flohmarkt lag die Ware ausgebreitet am Boden oder hing an ausrangierten Kleiderständern. Dazwischen stand Mascha und grinste ihr freundlich entgegen. Annika war bereits in der Mitte des Hangars, als ihr auffiel, dass dieses vermeintliche Flugzeug keine Tragflächen hatte. Dann sah sie die acht gewaltigen Rotorblätter, die sich unter ihrem Gewicht durchbogen. Das war mit Abstand der größte Hubschrauber, den sie je gesehen hatte.

„Beeindruckend, nicht wahr?“, interpretierte Mascha Annikas Gesichtsausdruck. „Ich bin jedes Mal erstaunt, obwohl ich schon öfter eine Mil Mi26 geflogen bin. Das ist der größte in Serie produzierte Transporthubschrauber weltweit. Made in Russia!“, sagte die Russin stolz in akzentfreiem Englisch.

„Vor Kurzem dachte ich noch, wir würden mit einem Flugzeug in die Antarktis fliegen.“ In Annikas Stimme schwang unterschwellig etwas Furcht mit, was Mascha sofort merkte.

„Das ist viel sicherer als ein Flugzeug. Bei all den Gletscherspalten wäre es total riskant, mit einem derart großen Flugzeug zu landen.“

„Könnte man denn nicht ein sicheres Stück Gletscher für eine Landebahn abstecken?“ Kaum waren diese Worte über ihre Lippen gekommen, da war Annika bereits bewusst, wie naiv ihre Frage gewesen war. „Aber wahrscheinlich wäre das viel zu umständlich, bei den Schneeverwehungen und all den unberechenbaren Wetterverhältnissen.“ Schnell hatte Annika ihre Souveränität gerettet, und Mascha nickte nur zustimmend.

„Dieser Hubschraubertyp ist bestens für die Antarktis geeignet. Die Mil Mi26 wurde für Einsätze in Sibirien und bis hoch zum Nordpol entwickelt. Sie besitzt beheizbare Rotorblätter, Cockpitscheiben und Turbineneinlässe. Sie kann zwanzig Tonnen Nutzlast in über viertausend Meter Höhe befördern. Diese spezielle Mi26T verfügt über zwei Triebwerke à 8.350 Kilowatt. Mit einem antarktischen Sommer wird sie also spielend fertig.“ Maschas Augen leuchteten vor Begeisterung, und mit den Sommersprossen auf ihrer Stupsnase wirkte sie fast wie ein zu groß geratenes Kind. „Entschuldige, aber ich freue mich einfach schon sehr, mit einem dieser Babys über das Transantarktische Gebirge zu fliegen.“ Sie machte eine schwungvolle Geste zu dem Kleiderflohmarkt hinter ihr. „Wir sollten dir lieber was Schickes aussuchen, bevor ich noch anfange, dir ein paar alte Fliegergeschichten zu erzählen.“

Zwischen den Kleiderständern und Kisten erhob sich Annikas Vater, den sie zuvor gar nicht bemerkt hatte. Er trat auf sie zu und hielt in einer Hand eine der großen blauen Tragetaschen von Ikea. In dieser hatte er seine neue Ausrüstung verstaut.

„Versuch erst gar nicht, etwas Figurbetonendes zu finden.“ In Thomas’ Worten lag eine gewisse Bissigkeit, die ihr gar nicht gefiel. Sie überlegte krampfhaft, ob sie ihm vielleicht gestern Abend auf den Schlips getreten war. Vielleicht hatte er bemerkt, dass sich etwas zwischen ihr und Jenay entwickelte, und das gefiel ihm nicht. Sie blickte ihm verwirrt nach.

„Na, wie gefällt dir das? Sollte deine Größe sein.“ Mascha hielt ihr die erste Schicht vor die Nase, welche aus einem enganliegenden Polypropylenanzug bestand. Er war schwarz und hatte weiße Streifen über die ganze Länge der Ärmel. Die Hose hatte einen Eingriff.

„Etwas Schickeres gibt es nicht?“, fragte Annika ironisch.

„Dieses Ding wird niemand unter den anderen Schichten sehen. Lass mich kurz die Funktion erklären, damit du diese Mode mehr zu schätzen weißt.“

„Wie viel Schichten werden es denn?“, fragte Annika entsetzt. Marscha grinste. „Das hat alles seine Berechtigung. Dieser tolle Stoff zum Beispiel nimmt deinen Schweiß auf und verhindert das Auskühlen des Körpers. Er stoppt den Wärmeverlust. Darüber bekommst du dann noch eine Schicht, bestehend aus einer Baumwolljacke und Hose, die eine vom Körper erwärmte Luftschicht zwischen der Unterwäsche und der Außenschicht einschließen soll. Darüber kommt dann noch …“ Mit diesen Worten verschwand sie hinter den Kleiderständern, sodass Annika nur noch ihre blonden Lockenkopf herumspringen sah. Umkleidekabinen gab es nicht, dafür bildeten zwei Kleiderständer einen Vförmigen Sichtschutz. Davor stand ein Heizlüfter, der surrend warme Luft hineinblies. In der Spitze des „V“ stand ein großer Spiegel. Annika begab sich mit dem neuen Kleidungsstück dorthin und legte die lange Unterwäsche über einen der Ständer. Sie zog ihre Lederjacke, Pulli und Jeans aus. Trotz des Heißlüfters beeilte sich Annika, in die Polypropylenunterwäsche zu schlüpfen. Mascha hat wirklich ein gutes Auge, dachte sich Annika. Passt wie angegossen.

„Was für eine Schande! Unter dem Rest wird man deine weiblichen Rundungen nicht mehr sehen“, sagte Mascha, die mit jeder Menge Kleidung in den Armen zurückgekehrt war.

Annika war es etwas unangenehm, wie die Russin sie mit ihren Blicken von oben bis unten musterte. Im Spiegel trafen sich dann ihre Augen einen Moment zu lange. Annika blickte verlegen zur Seite.

„Wärst du lesbisch, dann würde ich dich hier auf der Stelle vernaschen. So süß siehst du aus. Dein indischer Freund kann sich glücklich schätzen.“

Annika war über diese direkte Offenheit ziemlich sprachlos. Aber irgendetwas wollte sie antworten, um nicht völlig verklemmt zu wirken. „Tut mir leid“, war alles, was ihr einfiel.

Mascha fing erst an, leicht zu kichern, steigerte es aber schnell in ein ausgewachsenes herzhaftes Lachen. „So etwas brauch dir nicht leidzutun, Kleine. Ich werde schon noch fündig. Mach dir mal keine Sorgen.“ Sie reichte Annika den Rest der Ausrüstung und sagte: „Dann wollen wir mal weitermachen. Bald kommt noch mehr Kundschaft.

Annika schlüpfte in die Baumwollschicht, welche für das warme Luftpolster zuständig war. Anschließend zog sie eine mit isolierenden Gänsedaumen gefütterte orangefarbene Latzhose über, die eine Außenschicht aus wasserdichtem Nylongewebe besaß.

Annika erkannte sich im Spiegel fast nicht mehr wieder. Sie kam sich vor wie ein orangefarbener Eskimo. Dabei hatte sie noch nicht mal die Handschuhe, die Socken und Füßlinge an. Ganz zu schweigen von den klobigen Stiefeln.

Distanz 123

Vor dem Hintergrund, dass ihr Vater und sie heute schon um vier Uhr früh im Hangar sein sollten, hatte sie gestern nach dem Containerlagerbesuch nur noch zu Mittag gegessen. Danach hatte sie sofort gepackt und versucht, noch so viel Schlaf wie möglich abzubekommen. Ein neues Gefühl drängte sie, Jenay auf seinem Zimmer zu besuchen, aber sie gab dem nicht nach. Ihre Gedanken kreisten um den süßen Inder genauso häufig wie um die bevorstehende Reise zum Südpol. Das verwirrte sie, denn sie war nicht hierhergekommen, um sich in eine Beziehung zu verwickeln. Sie wollte auf keinen Fall den Eindruck eines verliebten Mädchens erwecken. Unter den ganzen Technikern und Wissenschaftlern musste sie als ernst zu nehmende Kamerafrau wahrgenommen werden. Besonders in Dr. Seegers Augen musste sie sich beweisen. Niemand hatte ihr das gesagt. Sie spürte aber, dass dieser kahlköpfige Mann von ihrer Anwesenheit nicht begeistert war. Seinen Leuten den Kopf zu verdrehen war das Schlimmste, was sie machen konnte.

Nun stand sie in ihrem Hotelzimmer, blickte an sich herunter und konnte ihre weißen Turnschuhe kaum sehen, so dick war die dreischichtige Antarktiskleidung. Sie hatte die Jacke noch offen gelassen, um nicht unnötig zu schwitzen. Die Stiefel hingen links und rechts am Rucksack auf ihrem Rücken. Sie hatte wirklich versucht, im Rucksack nur das Nötigste unterzubringen. Sechs statt drei Unterhosen hatte sie einpacken müssen. Sie konnte es sich einfach nicht vorstellen, mehr als zwei Tage in der gleichen Unterwäsche zu leben. Bei den restlichen Dingen hatte sie sich an die Vorgaben des Supervisors gehalten.

Ihr Vater trug die zwei Koffer mit der Kameraausrüstung. Sie musste lediglich die Tasche, in der das Solarladegerät und Ersatzakkus waren, tragen. Die hatte allerdings ein stattliches Gewicht.

Sie wollte gerade ihr Zimmer verlassen, als es an der Tür klopfte. Sie hatte vor, sich mit ihrem Vater im Hangar zu treffen und fragte sich, wer das wohl sein konnte. Nach dem Öffnen der Tür blickte sie in Jenays freundliches Gesicht.

„Ich dachte, dass du beim Tragen sicher Hilfe gebrauchen könntest“, sagte er mit seinem indischen Akzent, der ihr schon so vertraut war, dass sie ihn gar nicht mehr hörte. Was für ein Gentleman, dachte sie und drückte ihm gleich freudig die Tasche mit dem Solarstromgenerator in die Hand.

Distanz 122

Thomas konnte nicht warten. Zu aufgeregt war er gewesen, sodass er bereits kurz vor dem Wecksignal aufgewacht war. Er wollte seine Tochter nicht drängen, da er sie für die Positionierung der drei kleinen Stativscheinwerfer und den Aufbau der Kamera nicht brauchte. Nun stand er mit Alexander Müller in ihrer orangefarbenen Antarktisbekleidung zusammen vor einem der zwei riesigen Hubschrauber. Sie besprachen die Aufnahmen des bevorstehenden Einzugs des Teams und den Start der Mil Mi26. Das große Hangartor, das dem Flughafenrollfeld zugewandt war, stand bis zur Hangardecke offen. Draußen wartete der zweite Megahubschrauber. Fertig beladen und vollgetankt. Gestern hatten sie alle Expeditionsfahrzeuge und Bohrmaschinen in der Mil Mi26 verstaut. Die Maschine, die gestern noch draußen stand, war jetzt drinnen und wartete auf ihre Flugpassagiere.

„Woher bekommt man diese Maschinen, wenn ich fragen darf?“, wechselte Thomas das Thema, als sein Blick etwas zu lange an den Superhelikoptern hängen blieb.

„Aus Russland. Deutsche Helikopter sind viel zu teuer. Außerdem ist die Mil Mi der größte in Serie produzierte Hubschrauber der Welt.“ Alexander Müller war sichtlich stolz über ihre zwei Flugmaschinen. „Natürlich hätten die Amerikaner auch jede Menge hochmodernes Equipment, aber die sitzen auf ihrem Zeug wie die Henne auf dem Ei, und außerdem muss man noch jede Menge unangenehme Fragen beantworten“, fügte er hinzu, bevor sein Gesichtsausdruck wieder ernster wurde. „Trotzdem kostet diese Expedition noch sehr viel Geld, welches die DDC tragen muss. Und niemand weiß, ob wir etwas Gewinnträchtiges entdecken werden.“ Er schaute Thomas mit seinen graublauen Augen noch intensiver an als zuvor. „Aus dem Grund ist dieser Dokumentarfilm so wichtig. Ich hoffe, wenigstens einen Teil der Unkosten wieder hereinzubekommen.“ Sein Lächeln war schlagartig wieder zurück. „Und wenn der Film ein richtiger Kracher wird, dann umso besser. Geld kann man schließlich immer gebrauchen, nicht wahr?“ Über das Finanzielle hatten sie bisher noch nicht gesprochen. Thomas war froh gewesen, überhaupt die Möglichkeit zu haben, bei dieser Expedition dabei zu sein. Aber ab jetzt wurden sie nicht einfach mehr mitgenommen, sondern sie arbeiteten auch dafür. Damit hatten sie eine Aufgabe und würden niemandem untätig im Weg herumstehen.

„Mit was für eine Gewinn können wir denn rechnen?“, fragte Thomas sein Gegenüber. Alexander Müllers Lächeln verschwand wieder.

„Wenn wir Gewinn machen, dann sind Sie mit satten vier Prozent dabei.“

„Sagen wir acht. Meine Tochter macht Ihnen dann auch ein paar schöne 3DVisualisierungen dazu“, handelte Thomas, ohne zu wissen, ob seine Tochter überhaupt dazu bereit war.

„Okay, sagen wir sechs. Sechs Prozent können eine ganze Menge sein.“

„Und eine reguläre Bezahlung für meine Tochter. Sie ist wirklich gut auf ihrem Gebiet, und vielleicht brauchen wir noch etwas Unterstützung. Bei kinoreifen Effekten benötigt man schon ein ganzes Team von Digital Artists. Denken Sie an Herr der Ringe.“ Thomas versuchte, nicht zu übertreiben, aber der letzte Satz brachte Alexander zum Lachen.

„Ich hoffe nicht, dass wir solchen Aufwand betreiben müssen. Sie müssen mich verstehen, dass ich nicht zu viele Prozente meines Gewinns abtreten kann. Schließlich muss ich die Kosten für die Realisierung dieses Projekts vorfinanzieren.“

Thomas wusste, dass es mehr als fair war. Noch nie zuvor hatte man ihm eine Gewinnbeteiligung angeboten. Aber nie zuvor musste er seiner Arbeit an solch einem extremen Ort nachgehen.

Die zwei orangefarben gekleideten Männer schüttelten sich als Zeichen der Übereinkunft die Hand.

Jenay und Annika betraten gerade den Hangar. Nach einer kurzen Orientierungsphase entdeckten sie auch schon Alexander Müller und Thomas. Beim Näherkommen konnte Annika bereits erkennen, dass ihr Vater ein Stativ mit einer Kamera aufgebaut hatte. Auf einem Klapptisch lag ein geöffneter Hartschalenkoffer mit Objektiven und Filtern.

Alexander Müller begrüßte die zwei mit Handschlag und fing gleich darauf an, ihnen seine Vorstellungen zu unterbreiten. Die nächste halbe Stunde redeten sie über nichts anderes als den Film und die dafür geeignetsten Einstellungen. Thomas als geübter Fotograf würde die Handkamera bedienen, Annika diejenige auf dem Stativ. Jenay bot sich als Tonassistent an und nahm das Handmikrofon, welches sein Audiosignal kabellos an die Kameras schicken konnte. Thomas hatte es nur für Kommentare und Interviews mitgenommen, zu mehr war es nicht geeignet.

Da sie noch eine halbe Stunde bis zum Eintreffen der restlichen Missionsteilnehmer Zeit hatten, gingen Jenay und Thomas mit seiner HighDefinitionFestplattenkamera zu der Mil Mi26, die noch im Hangar stand. Dort waren gerade die stämmigen KlotzBrüder und der Helikoptertechniker Sascha Russlov mit den letzten Sicherheitschecks beschäftigt. Dem fünfunddreißigjährigen Russen konnte Thomas seine PunkerVergangenheit deutlich ansehen. Viele kleine Relikte aus diesem Lebensabschnitt waren noch deutlich erkennbar. Das rechte Ohr schmückte mindestens ein halbes Dutzend Ohrringe. Eine dezente rötliche Tönung in der Mitte seiner abstehenden Haare deutete darauf hin, dass hier mal ein prächtiger bunter Iro gethront hatte. Da Sascha das gleiche orangefarbene Outfit trug wie alle anderen, konnte niemand auf seinen Kleidungsgeschmack Rückschlüsse ziehen. Sein schmales Gesicht verstärkte den müden, übernächtigten Gesichtsausdruck. Trotzdem war er bereit, Thomas und Jenay ein Interview zu geben. Er erzählte ihnen in stark gebrochenem Englisch allerlei Einzelheiten über diesen Typ von Hubschrauber und führte sie durch den Laderaum. Im Gegensatz zu der zweiten Maschine war sie wie ein Passagierflugzeug ausgestattet. In der hinteren Hälfte des Laderaums befanden sich zwanzig Sitzplätze, und jeder war reserviert. Im abgetrennten vorderen Raum waren die Vorräte für den zweiwöchigen Aufenthalt im Eis untergebracht. Hier begegneten sie Verpflegungssupervisor Felix Armarkt. Sein schwarzer Lockenkopf saß wie der Hut eines Pilzes auf seinem schmalen Gesicht. Selten war Thomas einem Menschen begegnet, der größer war als er. Die langen schlaksigen Gliedmaßen erinnerten ihn ein wenig an Jeff Goldblum. Die Tatsache, dass seine Antarktiskleidung weiß und von einem anderen Hersteller war, hatte einen banalen Grund. Ihm hatten die Durchschnittsgrößen der anderen Teilnehmer einfach nicht mehr gepasst. Der Verpflegungssupervisor war gerade damit beschäftigt, eine Ladung aus eingeschweißter Trockennahrung und Dosen zu katalogisieren. Er wirkte etwas schüchtern, aber freundlich, wollte auf Thomas’ Bitte jedoch kein Interview geben.

Direkt am Ende des Frachtraums war die Tür zum Cockpit. Die Piloten waren noch nicht da.

Distanz 121

Nicht alle Expeditionsteilnehmer kamen pünktlich. Doch keiner hatte es gewagt, sich eine längere Verspätung als zehn Minuten zu leisten. Dr. Seeger hatte keinen Zweifel daran gelassen, wie ernst er seinen Zeitplan nahm.

Annika hatte ohne Unterbrechung ihre stationäre HDKamera laufen lassen und brach erst ab, als sich auch der letzte Expeditionsteilnehmer im Hangar befand. Thomas hatte einige beim Eintreten begleitet und ihre Gesichter in Großaufnahme gefilmt. Jenay war bei Annika geblieben.

Missionssupervisor Korbinian Regenfus stieg kurz vor halb sechs auf die Laderampe eines modifizierten Gabelstaplers und bat um Aufmerksamkeit. In einem sehr klaren Englisch begann er zu sprechen.

„Ich möchte unsere Reiseroute von Punta Arenas bis hinter das Transantarktische Gebirge vorstellen.“ Alle hörten ihm gespannt zu, denn niemand außer ein paar Vertrauenspersonen wussten bis jetzt, wie sie von diesem Ort zu ihrem Ziel kommen würden. Mit einem Rundblick in die Gesichter seiner Zuhörer vergewisserte er sich deren Aufmerksamkeit.

„Da der Treibstoff dieser Hubschrauber nicht ausreicht, um ohne zu tanken unser Ziel zu erreichen und wieder zurückzukehren, werden wir zwei Zwischenstationen einlegen. Die erste wird auf den südlichen Shetland Islands sein, welche noch nicht zum antarktischen Kontinent gehören. Dort landen wir nur sehr kurz, gerade mal zum Auftanken. Also bitte nicht weit von den Helikoptern entfernen. Unser nächstes Ziel wird die Kohnen2Antarktikforschungsstation sein, welche bereits in zweieinhalbtausend Metern Höhe liegt. Auf dieser Station werden wir auch nur so lange bleiben, bis die Tanks voll sind. Der Reiseplan ist darauf ausgelegt, unser Ziel so schnell wie möglich zu erreichen. Wir wollen nicht, dass die Höhenkrankheit uns einen Strich durch die Rechnung macht. Dazu erzählt Ihnen Adrian gleich mehr.“

Annika und Jenay schauten sich fragend an.

„Ich wusste gar nicht, dass man in diesen Höhen schon die Höhenkrankheit bekommen kann“, flüsterte er ihr ins Ohr.

Korbinian fuhr fort: „Von dort fliegen wir über das RossEisschelf zum Transantarktischen Gebirge. Durch einen kleinen Pass in der KöniginMaudKette gelangen wir dann auf die Hochebene von Wilkesland. Das ist der Gletscher, auf dem die verlassene McGriffinForschungsstation steht ? unser Ziel. Nun gebe ich weiter an Adrian Kolarik, unseren Antarktisfachmann.“

Korbinian stieg von der Laderampe. Adrian schwang sich wesentlich geschmeidiger auf die ein Meter hohe Plattform als sein Vorgänger. Bevor er begann, strahlte erst wieder sein sympathisches SonnyboyLächeln in die Runde. Als es Annika traf, legte er noch ein Augenzwinkern dazu. Jenay und Dr. Octavian Goga gehörten zu den wenigen, die bei diesem Lächeln keine Sympathie empfanden. Thomas ließ es kalt.

„Ich hoffe nicht, dass unsere Sicherheit von ihm abhängt.“ Jenay hatte gar nicht bemerkt, dass der Biologe neben ihm stand.

„Kennen Sie ihn?“, wollte Jenay wissen.

„Die letzten Tage reichen mir“, antwortete Octavian.

„Erzählen Sie doch mal, was hat er Ihnen angetan?“

Octavian wollte gerade loslegen, da wurde er von einer lauten Stimme ausgebremst:

„Dürfte ich noch mal um ihre uneingeschränkte Aufmerksamkeit bitten. Es ist sehr wichtig!“, rief Adrian Kolarik von der Hebebühne.

„Wie Sie bereits erahnt haben, ist unser Reiseziel kein Urlaubsort und mit sehr vielen Gefahren verbunden. Daher muss ich auf ein paar Regeln bestehen:

Die oberste Regel lautet: Niemand entfernt sich mehr als fünf Meter von der Gruppe oder den Helikoptern. Es sei denn, eine gewisse Fläche ist von mir freigegeben.

Wenn wir mehr als fünf Meter über eine ungesicherte Gletscherregion gehen, dann tun wir das aneinandergeleint. Dass es dort bodenlose Gletscherspalten gibt, brauche ich hier wahrscheinlich keinem zu erzählen. Aufgrund der extremen Kälte und der Schneeverwehungen bildet sich allerdings in sehr kurzer Zeit eine trügerische dünne Schneedecke über jedem Abgrund. Diese macht die Spalte nahezu unsichtbar.“ Adrian vermittelte seine Worte mit einer fast schon übertriebenen Ernsthaftigkeit.

„Es müssen immer mindestens drei Personen an einer Kette hängen. Sollte einer in eine Gletscherspalte fallen, lassen sich die anderen sofort fallen, damit keiner mitgerissen wird. Am besten, Sie gehen zu viert, aber das klären wir vor Ort ab.“ Adrian hob demonstrativ seinen Arm, an dem ein Handschuh an seinem Jackenärmel hing.

„Passen Sie gut auf Ihre Handschuhe auf. Wer seinen Handschuh verliert, verliert seine Hand!

Auf dem Gletscher werden wir uns in über viertausend Metern Höhe befinden. Bedingt durch die Erdrotation, ist die Luft an den Polen noch mal dünner als am Äquator. Wir befinden uns in einer Atmosphäre, die einer äquatorialen Höhe von fünftausend Metern entspricht. Wie es bereits Korbinian vorweggenommen hat, haben wir das ganze Projekt so gestaltet, dass wir schnell dorthin gelangen, sofort die Arbeit aufnehmen und so bald wie möglich wieder abziehen. Der Grund ist die gefürchtete Höhenkrankheit. Sie kann jeden jederzeit heimsuchen. Niemand, egal, wie fit er ist, ist sicher davor. Und wir können auf niemanden verzichten.

Die Symptome einer Höhenkrankheit sind Übelkeit gepaart mit starken Kopf und Gliederschmerzen. Schwindelgefühle treten ebenfalls oft auf. Bitte geben Sie sofort Dr. Möree Bescheid, wenn einer von Ihnen diese Symptome hat.“

Dr. Knut Möree hatte sehr tiefe und lange markante Falten, die sich von jedem Auge senkrecht über die Wangen bis zum Unterkiefer zogen. Die tiefen Geheimratsecken in seinem weißen kurzen Haar und die dicken, augenvergrößernden Plusbrillengläser verliehen ihm das Aussehen eines Wesens von einem fremden Stern. Neben Dr. Seeger, der etwas abseits der Gruppe stand, ergaben sie ein äußerst unheimlich wirkendes Paar.

„Eine Person, die unter der Höhenkrankheit leidet, muss so bald wie möglich in eine tiefe Region mit höherem Luftdruck gebracht werden, ansonsten droht ihr der Tod. Für diesen Fall haben wir aufblasbare Druckausgleichskammern, in der die betroffene Person ausharren muss, bis wir sie zurück zur KohnenStation gebracht haben.“

Annika wurde es bei dem Gedanken ganz unwohl, in einer aufblasbaren Druckkammer eingesperrt zu werden. Sie dachte, dass die Kälte ihr größtes Problem war. Besonders fragwürdig erschien ihr die Unterbringung des Teams, welches mittlerweile mindestens zwei Dutzend Menschen umfasste. Da sie noch nie Angst hatte, dumme Fragen zu stellen, hob sie spontan die Hand.

„Ich hätte da eine Frage. Können Sie mit den Helikoptern jederzeit zurück zur Station?“

Adrian lächelte. „Sehr gute Frage. Natürlich ist der Treibstoffvorrat genau kalkuliert und erlaubt keine Hin und Herflüge. Von der KohnenStation begleitet uns ein Flugzeug, das jederzeit für Noteinsätze oder andere Dinge herangezogen werden kann.“ Adrian fixierte Annika mit seinen letzten Worten und zog sein Lächeln noch mehr in die Breite. Jenay kochte vor Eifersucht.

„Ein weiterer Grund, warum sich keiner von der Gruppe entfernen soll, sind Blizzards. Ein Wetterphänomen, bei dem das Licht durch aufgewirbelte Schneekristalle diffus in alle Richtungen gebrochen wird. Eine Person in einem Blizzard verliert schnell die Orientierung. Durch permanente Fallwinde können Blizzards zu sehr heftigen Schneestürmen heranwachsen.

Wir betreten eine Welt voller lebensbedrohlicher Gefahren. Also seien Sie vorsichtig und bleiben Sie beim Team.“ Adrian hatte fast das Ende seiner Rede erreicht. Er verlor nur noch ein paar Worte über die Ausrüstung und die Einheitskleidung, die sie trugen.

Er übergab an Dr. Seeger, der keine Anstalten machte, auf die Hebebühne zu steigen. Seine Worte waren kurz und trocken. Der Inhalt beschränkte sich darauf, dass er professionelle Arbeit erwarte und keine Fehler. Dann ging es los.

Icecore

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