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Distanz 110

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Leandra übernahm nun die Führung der zwei Helikopter, sodass sie nun direkt hinter der Twin Otter flog. Stanislav Kronos war der erfahrendste Pilot, was Flugreisen unter solchen Sicht und Wetterbedingungen anging. Thomas hatte sich auf dem Reservesitz hinter den zwei Piloten festgeschnallt. Obwohl Stanislav Kronos betont hatte, dass er schon durch dichtere Schneestürme geflogen war, fragte sich Thomas, ob dieser überflutete Canyon mit einem dieser Stürme vergleichbar war. In dem Moment, in dem die Twin Otter vor ihnen in der Nebelwand verschwand, waren seine Gedanken wieder bei seiner Tochter. Jetzt waren sie an der Reihe.

Thomas bohrte ganz automatisch seine Finger in die Armlehnen, und seine Kiefermuskeln waren angespannt. Liebend gern hätte er jetzt den Sucher seiner HDKamera vor seinem Auge. Dadurch konnte Thomas irgendwie Abstand gewinnen, wie er es als junger Kameramann in diversen Krisengebieten praktiziert hatte. Leider hatte er Filmverbot und musste während dieser Achterbahnfahrt alles sicher verstauen. Nun versuchte er sich einzureden, dass sie nur in einen normalen Schneesturm flogen.

Vor dem lauten Knall kam ein starker Ruck, oder war es umgekehrt? Der Knall hörte auch nicht auf. Es waren unendlich viele Schläge auf die Cockpitscheibe. Sie wurden von Hagelkörnern und Schneebrocken bombardiert.

„Wie gut, dass wir Panzerglasscheiben haben“, schrie der Copilot Oleg. Thomas verstand nur Panzerglas. Hatte Dieter in seiner Twin Otter auch Panzerglas? Das war jedenfalls keine Militärmaschine. Zeitgleich hatte er diese Gedanken dem Russen zurückgeschrien. „Nicht wirklich. Seine Scheiben sind nicht so steil, und er muss auch nicht wegen des Windes in so eine Schräglage gehen.“

Die Turbulenzen waren heftiger als in der Herkules, mit der sie von Puerto Montt nach Punta Arenas geflogen waren. Da sie aber diesmal gegen einen heftigen Wind anflogen und nicht von einem Luftloch ins nächste stürzten, blieb der Magen einigermaßen verschont.

Im Passagierraum der Helena saßen Octavian und Jenay. Sie waren sehr angespannt und warteten nur auf das Ende der Schüttelpartie. Aus den kleinen Seitenfenstern konnten sie nicht viel erkennen. Wären sie nicht zuvor von Copilotin Mascha vorgewarnt worden, hätten sie sich zu Tode erschreckt. Tangatjen hingegen hatte die Augen geschlossen und seinen Kopf zurückgelehnt. Jenay fragte sich, ob er wirklich schlief oder ob er sich völlig entspannt geistig an einem anderen Ort befand. Wären da nicht die tausend Schlagzeuger, die unentwegt auf der Außenhaut des Hubschraubers trommelten, hätte er sich vielleicht auch entspannen können. Doch Tangatjen war nicht der Einzige an Bord, den dieser Dauerbeschuss kalt ließ. Dr. Seeger in der ersten Sitzreihe spielte mit einem RubikZauberwürfel herum.

Der Twin Otter fiel es nicht so schwer, durch den Canyon zu fliegen. Der Geräuschpegel im Flugzeug war aber so hoch, dass sich Annika Kopfhörer aufgesetzt hatte. Durch die Frontscheibe sah man so gut wie nichts, aber auf dem Radar konnten sie deutlich die Felswände erkennen, in deren Mitte Dieter die Twin Otter hielt. Annika kam es wie eines dieser 2DComputerspiele aus den Achtzigerjahren vor, die ihr Vater aus Nostalgie hin und wieder gespielt hatte. Das beruhigte sie. Sie dachte auch, dass die Felswände jetzt in dem Moment vom Radar abgetastet wurden. In Wahrheit unterlag die Darstellung der Umgebung lediglich einer Karte, die mit ins Radarmonitorbild eingeblendet wurde. Hätte Annika zudem noch gewusst, dass es Dieter mit der Aktualisierung seiner Systeme nicht so genau nahm, hätte sie sich nicht so entspannt zurücklehnen können.

Distanz 109

Nach fast einer Stunde Höllenritt wurden sie erlöst. Der Konvoi stieß auf der anderen Seite des Transantarktischen Gebirges aus dem Canyon. Unbemerkt waren sie von zweitausendfünfhundert Metern Höhe auf die tausend Meter höher gelegene VictoriaHochebene gelangt. Alle Flugmaschinen hatten den Übergang scheinbar schadlos überstanden. Beim näheren Betrachten fielen einem unzählige kleine Dellen in der Außenhaut der Helikopter auf. Auch die Twin Otter hatte ein paar abbekommen, aber unter den alten fielen die neuen gar nicht auf. Die meisten Passagiere erfreuten sich am klaren Ausblick, der im Wesentlichen nicht viel anders aussah wie zuvor. Endlose Weiten Schnee und im Rücken die Berge. Es würde noch zwei weitere Stunden Flugzeit benötigen, bis sie ihren Zielort auf der WilkeslandHochebene erreichen würden. Die Anreise war jetzt fast beendet, und damit begann nun der Start für das Bodenteam. Adrian hielt noch mal eine Ansprache über Sicherheitsmaßnahmen und Gefahren der Antarktis. Anschließend ging Korbinian mit der technischen Crew, deren Mitglieder sich alle zusammen in die Mitte gesetzt hatten, den Missionsablauf durch. Links und rechts neben dem Durchgang zum Cockpit enthüllten zwei unscheinbare Metallabdeckungen LCDMonitore. Elektronisch gesteuert schoben sich die Metallabdeckungen in die Bordwand. Die Monitore flackerten kurz und zeigten dann eine animierte 3DGrafik ihres Zielortes.

Distanz 108

Sie hatten ihr Ziel erreicht. Annika konnte aus dem Cockpitfenster der Twin Otter deutlich die verlassene amerikanische McGriffinAntarktisforschungsstation sehen. Im Gegensatz zur Kohnen2Station war sie nicht auf Stelzen gebaut worden. Jedenfalls wirkte es so. Die Gebäude unterschieden sich generell von denen, die sie gesehen hatte. Das Zentrum bildete eine etwa fünfzig Meter breite Kuppel, die mit ihren unzähligen rautenförmigen Fenstern wie das gigantische Facettenauge eines Insekts aussah. Fünf in Dreiersegmente aufgeteilte Containerketten führten in regelmäßigen Abständen wie die Arme eines Seesterns von der Kuppel ab. Stückweise reichte die Schneedecke ohne sichtbare Unterbrechung vom Boden bis zur Mitte der Kuppel. Ein breiter Spalt, der sich vor der Station in beide Richtungen bis zum Horizont erstreckte, erregte Annikas Aufmerksamkeit.

„Beeindruckend, nicht wahr? Selten reicht eine Gletscherspalte so tief ins Eisschild“, sprach Dieter sie von der Seite an.

„Wie tief ist sie denn?“, wollte es Annika genau wissen.

„Ein bodenloser Schlund. Eintausendsechshundert Meter, direkt bis zu dem obskuren Objekt.“ Begeisterung und Ehrfurcht schwangen in seinen Worten mit.

„Wie ist das passiert?“, fragte Annika.

„Vor zwei Wochen habe ich ihn entdeckt, und vor einem Monat war noch alles in Ordnung. So ein tiefer Riss hat mit unterschiedlichen Flussgeschwindigkeiten im Eis nichts mehr zu tun. Und auch nicht mit unterschiedlichem Gefälle des Untergrunds. Jedenfalls nicht so plötzlich. Der Felsen beginnt erst in viertausend Metern Tiefe.“ Er biss etwas nervös auf seiner Unterlippe herum, bevor er weiterredete.

„Es muss ein seismisches Beben gewesen sein. Jedenfalls ist der Riss nicht besonders alt, und er wird bald wieder vom Gletscher zugedrückt, daher ja die ganze Eile.“ Dieter konzentrierte sich wieder auf das Fliegen. Er steuerte die Twin Otter in einer weiteren Schleife um die Seesternstation. Dicht unter ihnen sausten die zwei Mil Mi26 vorbei und setzten zur Landung hinter dem Stationsgebäude an. Während Dieter mit dem Flugzeug seine Bahn zog, hatte Annika einen wunderschönen Ausblick auf die senkrecht landenden Hubschrauber. Mit ihren mächtigen Rotorblättern verwandelten sie die Schneelandschaft in eine weiße Wolke, die über die McGriffinStation wirbelte. Ob sie noch einmal eine Gelegenheit bekam, solch eine bildgewaltige Szene zu filmen, bezweifelte Annika. Wie gut, dass Herr Müller nicht sah, was er da gerade verpasste. Sie wollte den Piloten gerade fragen, wo sie landen würden, doch Dieter kam ihr zuvor.

„Da vorne ist meine Landebahn. Habe ich erst vor zwei Wochen frisch abstecken müssen. Die dicke Gletscherspalte hat mir meine alte Landebahn in zwei Teile gerissen. So etwas ist ziemlich fies, wenn man nicht darauf vorbereitet ist.“

„Können Sie denn hier nicht überall landen? Sieht doch alles recht eben aus“, fragte sie.

„Der Schein trügt. Von hier oben sind feine Risse und Unebenheiten fast nicht zu erkennen. Selbst mit meiner kontrastverstärkenden Gletscherbrille sieht man nicht alles.“ Demonstrativ tippte er sich an die übergroße Brille.

„Dazu kommt, dass kleine Gletscherspalten oberflächlich wieder zufrieren, aber keine Angst, der Hügel, auf dem wir landen, ist sicher. Außerdem bremst er zugleich unsere Landung, und beim Start verbrauchen wir nicht so viel Sprit. Einfach den Hügel runter und ab in die Luft!“ Dieter war kein Mensch für Small Talk, aber wenn es ums Fliegen ging, kam er in Fahrt.

Wenige Sekunden später zog Dieter die Nase der Twin Otter steil in die Höhe, sodass sie für kurze Zeit den Boden nicht mehr sehen konnten. Obwohl Annika in den letzten Tagen genügend Starts und Landungen in den verschiedensten Flugzeugtypen mitgemacht hatte, war keiner dieser Anflüge so nervenanspannend wie dieser. Als die Maschine mit einem kräftigen Ruck aufsetzte, bekam Annika keine Luft mehr. Nun folgte eine brutale Rüttelorgie. Sie blickte Dieter verängstigt an, doch der schien völlig entspannt. Der Boden war alles andere als weich und eben. Als sie langsamer wurden, entspannte sich Annika. Dann erschütterte ein dumpfer Knall gefolgt von einem schrillen metallischen Knirschen die Pilotenkanzel. Selbst Dieter zuckte zusammen, und Annika standen von einer Sekunde zur anderen die Haare zu Berge.

„Zum Teufel! Was war denn das?“, platzte es lautstark aus ihr heraus.

„Wahrscheinlich ein Eisklumpen, den wir mit einer Kufe an den Rumpf geschleudert haben. Dass wir weiterrutschen, ist aber ein gutes Zeichen.“ Wenige Meter weiter blieb die Twin Otter stehen. Da sie einen Hügel hochgerutscht waren, stand die Maschine schräg nach hinten gekippt. Dieter betätigte einen Kippschalter, der unter einer Sicherheitskappe versteckt lag. Eine Harpune schoss unter der Flugzeugnase hervor und bohrte sich ins Eis.

„So, der Anker wäre gesetzt“, sagte Dieter, während er seine Gurte öffnete, sein Headset abnahm und dann die Motoren abschaltete. Annika bemerkte, wie das Flugzeug begann, langsam zurückzurutschen, aber dann von dem Seil gebremst wurde. Sie verließen das Flugzeug über eine kleine Leiter, die aus der Seitentür hing. Absolut klare, unverschmutzte Luft strömte durch Annikas Lungen, und wieder wurde ihr bewusst, was für ein unverdorbener und reiner Ort die Antarktis war. Mittlerweile war es Mittag. Die Sonne stand nicht gerade hoch am Firmament, aber sie würde dafür auch nicht untergehen. Den ganzen antarktischen Sommer nicht. Im Moment wehte auch kein Wind, sodass Annika die Sonnenstrahlung deutlich spürte. Hier, auf der WilkeslandHochebene, war ein deutlich milderes Wetter, und es würde nicht lange dauern, bis sie ihre Jacke aufmachen musste und vielleicht sogar ablegen konnte.

Von dem Hügel aus konnte sie sich ganz gut einen Überblick verschaffen. Sie waren parallel zur großen Gletscherspalte gelandet, aber gut zweihundert Meter davon entfernt. In etwa sieben bis achthundert Metern Entfernung lag die McGriffinAntarktisstation. Sie befand sich fast direkt neben dem Spalt. Einer ihrer dreigliedrigen Containerextremitäten ragte sogar ein paar Meter über dem Schlund hinaus. Wenn der Riss nur hundert Meter weiter rechts entstanden wäre, wäre von dem Seestern sicherlich nichts übrig geblieben. Auf der anderen Seite der Station standen Helena und Leandra. Annika konnte von ihrer Position deutlich erkennen, wie orangefarbene Männchen um die Helikopter wuselten.

„Brauchen Sie meine Hilfe? Ansonsten würde ich zu den anderen gehen“, rief sie Dieter zu.

Der Pilot kauerte vor der rechten Kurve der Twin Otter und drehte sich blitzschnell zu ihr hin.

„Nein, nein! Bleiben Sie hier! Wir dürfen doch nur aneinandergeleint größere Strecken auf dem Eis gehen. Außerdem sind wir nur zu zweit, und erst mit drei Leuten ist es akzeptabel.“

„Dann müssen wir warten, bis die zu uns kommen?“ Annika gab sich keine Mühe, ihre Frustration zu verbergen.

„Vorschrift ist Vorschrift, auch wenn es manchmal überzogen wirkt. Wir werden aber gleich abgeholt. Schließlich brauchen sie ihren Sprit.“ Dann richtete Dieter seine Aufmerksamkeit wieder auf die rechte Kufe der Twin Otter.

Icecore

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