Читать книгу Icecore - Alexander Stania - Страница 4
Distanz 140
ОглавлениеDas Restaurant war den ganzen Flug immer voll besetzt, und so verbrachten die vier Reisegefährten die meiste Zeit des Fluges in ihren Sitzen, um dort zu essen, zu schlafen oder laut zu lachen. So kam es jedenfalls Thomas vor, denn Annika und Jenay alberten viel neben ihm herum. Einerseits hinderte es ihn daran, den Flug zu verschlafen, andererseits freute er sich darüber, seine Tochter herzhaft lachen zu sehen. In seiner Gegenwart war sie meistens sehr ernst. Wer konnte es einer Tochter verdenken, die ihren Vater aus dem Gefängnis holen musste? Wieder begann Thomas, sich in seinen Gedankengängen zu verteidigen. Er hatte damals in den USA kein wirkliches Verbrechen verübt. Nur Nachforschungen über seine Frau angestellt. Die Ausrede der amerikanischen Regierung, sie sei bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen, war nach nur wenigen Recherchen unglaubhaft geworden. Sie hatten sich geschworen, jeden Tag miteinander zu telefonieren, bevor sie zu Bioniko in den USA ging. Er machte sich wieder Vorwürfe, weil er sie darin bestärkt hatte, diese Gelegenheit zu nutzen. Es sollten nur vier Monate sein. Vier Monate Auslandserfahrung, die ihrer Karriere einen ordentlichen Schub verliehen hätten.
Bei ihrem letzten Telefonat erzählte sie ihm, dass sie an einem besonderen Projekt teilnehmen dürfte, sie aber wegen der Sicherheitsmaßnahmen und des abgelegenen Ortes für zwei Wochen nicht miteinander telefonieren könnten. Sie klang sehr begeistert und aufgeregt, aber sie verriet nicht, worum es sich bei diesem Projekt handelte.
Wieder ließ er es zu. Thomas hatte die letzten Briefe von Verena immer bei sich. Er hatte sie schon so oft gelesen, dass das Papier an manchen Stellen brüchig geworden war, aber nie herausgefunden, was wirklich zwischen den Zeilen stand. Es fehlten die kleinen Floskeln, die nur harmonisierende Paare miteinander teilten. Die Briefe waren von ihr, aber jemand hatte das wegradiert, was sie wirklich sagen wollte. Trotzdem hatte er herausgefunden, dass sie mit Kollegen des BionikoInstituts in die Antarktis gebracht worden war. Seine Wahrheitssuche führte ihn zu den Verwandten der anderen, die auch vermisst wurden. Er stieß auf immer mehr Widersprüche, und andere Fakten belegten Tatsachen, die verborgen gehalten wurden.
Irgendwann tauchte dann der Name auf: Major Hidge, militärischer Leiter von Fort Shellbay in den Rocky Mountains. Dass er eine wichtige Rolle in dieser Vertuschungsgeschichte spielte, wurde Thomas erst wirklich bewusst, als man ihn zur Untersuchung in ein Militärgefängnis steckte. Der Name des Majors hatte in gewissen militärischen Kreisen Aufmerksamkeit erweckt ? und das nicht ohne Grund. Einen Monat hatte es gedauert, bis Annika herausgefunden hatte, wo ihr Vater steckte, und weitere zwei Monate, bis sie ihn den Klauen der amerikanischen Bürokratie entrissen hatte. Eine geheime Macht wollte Thomas nicht mehr gehen lassen, und in den drei Monaten Inhaftierung glaubte er schon, dass man ihn verschwinden lassen wollte.
Ohne die Bemühungen seiner Tochter wäre er wahrscheinlich wirklich verschwunden.
Einfach so.
Distanz 139
Dr. Chakalakel hatte es geschafft, kurz nach dem servierten Abendessen einzuschlafen, und mit etwas Glück blieb er möglichst lange in diesem Zustand. Annika und Jenay hatten ihm den Platz am Fenster überlassen, damit ihn keiner aufwecken musste, sollte einer von ihnen mal aufstehen müssen. Thomas saß nun direkt neben Jenay und war bei seinen Gedankengängen eingeschlafen. Im Gegensatz zu Annika schlief Thomas gerade im Sitz, mit dem Kopf nach hinten geklappt, sodass sein Hals trotz des Kissens leicht überstreckt war. Diese Stellung hatte zur Folge, dass sein Mund leicht offen stand und dass er leicht röchelte. Annika hatte sich unter eine dünne Schlafdecke gekuschelt, leicht seitlich gelegt und ihren Kopf an Jenays Schulter geschmiegt. Wären sie alleine gewesen, hätte Jenay ihre Nähe durchaus genießen können. Doch in dieser Situation, mit Annikas Vater auf der anderen Seite, der im Begriff war, ein ausgewachsenes Schnarchen zu erzeugen, fiel es ihm außerordentlich schwer, romantische Gefühle zu entwickeln. So schloss auch Jenay seine Augen und ließ seine Gedanken hinter das transantarktische Gebirge reisen.
Distanz 138
Der Flug neigte sich seinem Ende zu. Nicht alle hatten das Glück, fünf Stunden geschlafen zu haben. Thomas hatte lediglich zwei Stunden in diesem Zustand verbracht. In der Zwischenzeit war er durchs Flugzeug geschlendert und schrieb im Restaurant in seinem Tagebuch die Ereignisse nieder, die seit seinem letzten Eintrag passiert waren. Eigentlich war es mehr ein Wochenbuch als ein Tagebuch. Er hatte es sich angewöhnt, jeden Sonntagabend seinen Wochenrückblick zu machen. Heute war allerdings erst Donnerstag, aber jetzt hatte er Zeit und konnte sowieso nicht schlafen. Er führte mittlerweile seit achtzehn Jahren Tagebuch. Es hatte damit angefangen, dass Verena in die Vereinigten Staaten gegangen war. Sie kauften sich jeder das gleiche, in rotes Leder gefasste Buch mit leeren Seiten und einem Lederband zum Einwickeln. Wenn sie getrennt voneinander waren, würde jeder von ihnen Tagebuch führen. Bis sie wieder zusammen waren. Es war Verenas Idee gewesen, und Thomas fand es zuerst etwas albern, da sie doch sowieso jeden Tag telefonierten. Aber er tat es ihr zuliebe doch. Er sollte besonders die Entwicklungsschritte von Annika festhalten, denn sie hoffte, vielleicht einen kleinen Teil von dem, was sie in den USA verpassen würde, auf diese Weise nachlesen zu können. Obwohl sie nicht mehr zurückkam, behielt Thomas dieses Ritual bei und kaufte auch immer nur dieses Tagebuch mit dem roten Ledereinband. Mittlerweile hatte er sich einen Vorrat an Tagebüchern zugelegt, von denen er dreißig mit seinen Einträgen gefüllt hatte. Er machte sich keine Hoffnungen, dass er seine Frau jemals lebend wiedersehen würde, aber vielleicht würde er eines Tages ein Tagebuch von ihr finden.
Distanz 137
Um sechs Uhr früh nahm der Flug in dem riesigen Airbus sein Ende. Alle an Bord waren wieder auf ihren Plätzen angeschnallt, und die Maschine begann mit dem Sinkflug auf den Flughafen von Buenos Aires. In Argentinien herrschte zu dieser Zeit wesentlich wärmeres Wetter als im winterlichen Deutschland. Bei dem Flug über den Atlantik hatten sie den Äquator überquert und waren von der Winterseite der Erdkugel auf die Sommerseite gewechselt.
In Buenos Aires würden sie sich gar nicht lange aufhalten, denn der Reiseplan sah vor, mit dem nächsten Flieger nach Santiago de Chile, von dort nach Puerto Montt und von da weiter nach Punta Arenas zu fliegen. Alles Flüge in unterschiedlichen kleinen Passagiermaschinen, die nicht länger als zwei Stunden fliegen würden. Also insgesamt fünf bis sechs Stunden Flugzeit, wobei es ungewiss war, wie lange die Wartezeiten ausfallen würden. Ihr nächster Flug startete in acht Stunden, und so lange mussten sie jetzt erst mal die Zeit totschlagen. Die anderen beschlossen, sich in den Geschäften und Restaurants des Flughafens die Wartezeit zu verkürzen. Thomas konnte sich jetzt keinen Ladenbummel vorstellen, er brauchte einfach nur ein Bett und buchte sich im angrenzenden Hotel ein, um wenigstens ein paar Stunden Schlaf in ausgestrecktem Zustand nachholen zu können.
Distanz 136
In Santiago verließen sie den Flughafen auch nicht, da der Anschlussflug nach Puerto Montt nur zwei Stunden später starten würde. Sie setzten sich in eines der Flughafenrestaurants, um nach der ganzen InstantFlugzeugverköstigung wieder etwas frisch Zubereitetes zu essen. Chile erstreckte sich fast die gesamte Westküste Südamerikas bis nach Feuerland und wurde nie breiter als zweihundertvierzig Kilometer. Achtzig Prozent des Landes thronten auf der südamerikanischen Gebirgskette. Santiago lag in einem Tal, und da es sich in etwa auf der gleichen geografischen Höhe wie Buenos Aires befand, war es auch hier sehr warm. Annika konnte leider nur aus einem der Flughafenfenster die wunderschöne Aussicht auf das Gebirge genießen, welches sich wie ein Schutzwall vor dem Flughafen auftürmte. Wie gerne hätte sie hier ein paar Tage verbracht, um in den Anden wandern zu gehen.
Dr. Chakalakel erzählte ihnen beim Essen im Restaurant von diversen anderen Expeditionen, die er bereits unternommen hatte. Meistens gingen die Reisen ins benachbarte Himalajagebirge, aber auch Afrika und Sibirien hatte er besucht. Nie aber Amerika. Das war seit achtzehn Jahren überhaupt seine erste Reise so nah an den USA vorbei. Er war sich sicher, dass es dort noch Personen gab, die ihm nach dem Leben trachteten.
Letztendlich war ihr gemeinsames Gesprächsthema wieder bei Blizzard und der DDCKooperation gelandet.
„Welche Interessen stecken hinter Blizzard oder der DDC?“, fragte Annika. „Sind es wirtschaftliche, wissenschaftliche, oder wollen die einfach nur einen Dokumentarfilm drehen?“ Die letzte Frage richtete sie an ihren Vater. Da sie weiterhin englisch sprach, fühlte sich Dr. Chakalakel angesprochen, der dann auch antwortete.
„Ich glaube, von allem etwas. Ein rumänischer Kollege, mit dem ich in Afrika auf einer Tour zum Kilimandscharo war, wird auch mit dabei sein. Dr. Octavian Goga ist ein erfolgreicher und seriöser Biologe.“
„Unsere dokumentarische Arbeit soll in erster Linie nur die Forschungsarbeit visuell festhalten. Ob dann daraus ein Dokumentarfilm für die breite Öffentlichkeit wird, wurde noch nicht angesprochen“, fuhr Thomas an Tangatjens Stelle fort. „Das wird wohl davon abhängen, was wir finden.“
Annika glaubte, in Jenays Stimme Vorfreude und Unbehagen gleichermaßen zu hören.
Distanz 135
Noch zwei kurze Flüge trennten sie von Punta Arenas und der Übernachtung in einem Hotelbett. In Puerto Montt herrschte schon ein kühleres Klima, denn es lag viel weiter südlich in Chile. Am Flughafen merkten sie deutlich den Unterschied und passten sich mit dickerer Kleidung den niedrigen Temperaturen an. Auch das Wetter war viel stürmischer, und Regenmassen trommelten gegen die Flughafenfenster. Ihr Weiterflug wurde für den heutigen Tag gestrichen, und da nur einmal am Tag ein Flugzeug nach Punta Arenas ging, konnten sie zwangsläufig erst am nächsten Tag weiterreisen. Annika war es recht, denn sie war hundemüde, obwohl sie während des Atlantikflugs geschlafen hatte.
Sie checkten in das dem Flughafen nächstgelegene Hotel ein. Es war zwar nicht so komfortabel wie das, in dem Thomas zuletzt untergebracht gewesen war, aber es sah sauber und gepflegt aus. Jeder von ihnen nahm sich ein Einzelzimmer. Tangatjen war der Einzige, der auch auf seinem Zimmer blieb und sich gleich schlafen legte. Die anderen drei verabredeten sie noch zu einem Gutenachttrunk an der Hotelbar.
Annika fand es sehr schade, dass sie ihre Reise an so vielen interessanten Orten vorbeiführte, ohne dass Zeit war, sich diese anzusehen. Außerdem störte sie das Benehmen ihres Vaters, der ewig nicht ins Bett ging und sich mit Jenay zunehmend dem chilenischen Wein hingab. Sie redeten natürlich nur über das Thema „Antarktis“ und die geheimnisumwobene BlizzardOrganisation. Wieso konnten sie nicht mal über etwas anderes sprechen? Morgen würden sie sowieso alle schlauer sein. Annika warf endgültig das Handtuch und begab sich auf ihr Zimmer.
An der Bar hörte Jenay ab einer gewissen Zeit nur noch zu, und der sonst ruhige Thomas redete in einer Tour über seine Entdeckungen in Amerika und die seiner Meinung nach größte Vertuschungsaktion in der Geschichte. Jenay hatte seine eigene Theorie. Vielleicht war es Teil einer sehr alten, hochtechni¬sierten Zivilisation, die zur Zeit des Superkontinents Gondwana existierte. Was auch immer dort lag und für die Amerikaner zu groß war, um es an die Oberfläche zu schaffen, es musste sich um ein außergewöhnliches Geheimnis handeln. Für Jenay war es ein Muss, dabei zu sein, wenn man diesem Geheimnis auf den Grund ging.
Irgendwann bemerkte er, dass er seinen eigenen Gedanken nachhing und Thomas nicht mehr zuhörte. Nach einer Stunde und zwei weiteren Gläsern chilenischen Weins gestanden sie es sich ein und torkelten auf ihre Zimmer.
Distanz 134
So gegen zehn Uhr trafen sich Annika und Dr. Chakalakel im Frühstücksraum des Hotels. Sie hatten sich auch schon ihr Frühstück am Buffet zusammengestellt, als sich Jenay zu ihnen gesellte. Annika merkte ihm an, dass es wohl gestern etwas später und feuchtfröhlich geworden war. Sie konnte es allerdings nur an seinen leicht unmotorischen Bewegungen und seinen Augen erkennen, die glasig wirkten. Doch seine dunkle Hautfarbe kaschierte den angeschlagenen Eindruck, sodass sie den Grad der Verkaterung nicht einschätzen konnte. Thomas’ Auftritt hingegen war eindeutig. Er war kreidebleich und fühlte sich auch so, wie er aussah. „Ich kann mich erinnern, dass ich früher wesentlich mehr vertragen habe“, brummte er, nachdem er sich zu seinen Begleitern gesetzt hatte.
Annika brauchte keinen Kater. Durch die unterschiedlichen Zeit und Klimazonen war ihr leicht schlecht, und Kopfschmerzen hatte sie auch.
Um 15.45 Uhr startete dann die Herkules, eine viermotorige, riesige ehemalige Frachtmaschine der chilenischen Luftwaffe, deren Frachtraum nachträglich mit Sitzplätzen für Zivilpassagiere bestückt worden war. Annika und ihre Freunde saßen alle in einer Reihe. Hinter ihnen saßen noch fünf weitere Fluggäste. Die restlichen Plätze waren hochgeklappt, und in den Reihen waren jede Menge Postsäcke festgebunden. Ganz am Ende, kurz vor der Heckladerampe, stand ein festgeschnallter Jeep. Das war bisher der abenteuerlichste Flug. Jedes Gefühl, in einem Urlaubsflieger zu sitzen, war nun endgültig erloschen. Das Wetter hatte sich im Vergleich zu gestern stark verbessert, aber in dieser Propellermaschine merkten sie noch einige heftige Turbulenzen.
Annika war froh, dass man ihnen bei diesem Flug nichts zu essen servierte. Sie umklammerte Jenays Hand und lächelte ihn gequält an. Sein Gesichtsausdruck wirkte ebenso verzerrt wie ihrer. Thomas hielt die Augen geschlossen, schlief aber nicht, und Tangatjen sagte nicht wirklich überzeugend: „Das sind Militärmaschinen. Die halten noch viel mehr aus.“
Als sie sich im Landeanflug auf Punta Arenas befanden und die Herkules in eine tiefere Luftschicht stieß, wurden sie von den heftigsten Windstößen erlöst. Schließlich setzte die Herkules auf dem kleinen Flughafengelände von Punta Arenas auf.
Distanz 133
Freundlicherweise hatte das chilenische Flughafenpersonal Gepäckwagen zur Herkules gebracht. Sie schnappten sich zwei und beluden sie mit ihren Koffern, dann ging es zu Fuß quer über das Rollfeld zum Hauptgebäude des Flughafens. Ein eiskalter Wind peitschte über die großflächige Flugplatzebene. Das Wetter war hier noch mal deutlich kälter, und der Wind verstärkte den Eindruck. Busse, die Fluggäste zu ihren Maschinen brachten, suchte man vergebens. Aber auch große Jets waren nirgends zu entdecken. Sie versuchten, im Windschatten von allerlei Transportflugzeugen zu bleiben. Tanklaster und Transporter rollten zwischen den Flugzeugen umher und behinderten sie dabei, zügig voranzukommen. Das Gelände machte nicht den Eindruck, für Touristen angelegt worden zu sein. Tangatjen Chakalakel bestätigte dies auf Annikas Frage hin. Dies war nur ein kleiner Güter und Frachtflughafen. Nach Blizzards Vorgaben sollten sie nicht zum regulären Zivilflughafen in Punta Arenas fliegen, sondern hierher. Annika hatte den Reißverschluss ihrer Lederjacke bis über ihr Kinn gezogen und versuchte so, ihren Hals und ihr Gesicht vor dem Wind zu schützen. Die kurze, gefütterte Lederjacke hielt den Körper normalerweise ganz gut warm, aber dort, wo Annikas Bauch und Hüfte leicht frei lagen, griff der eiskalte Wind unbarmherzig zu. Sie schimpfte mit sich, nicht schon in Puerto Montt ihren Mantel aus dem Trolly ausgepackt zu haben. Mitten auf dem Rollfeld war es jetzt zu umständlich. Sie musste durchhalten, bis sie das Hauptgebäude mit dem kleinen Tower erreicht hatten. Doch dann wurde ihr Weg versperrt. Ein Traktor zog eine Herkules direkt vor ihnen zwischen sie und das Hauptgebäude. Ein chilenischer Flughafenarbeiter mit neongelb gestreifter Sicherheitsweste schrie gegen den Wind in einer Sprache, die keiner von ihnen verstand. Doch sie wussten instinktiv, dass er wollte, dass sie Abstand hielten. Während sie also warten mussten, drehte der Wind scheinbar extra noch mal auf. Vielleicht kam es Annika auch nur so vor. Sie ließ ihren Trolly los und versuchte, den sensiblen Anschlussbereich zwischen ihren Jeans und der Lederjacke mit beiden Armen abzudecken. Plötzlich schob jemand von hinten ihre Arme zur Seite und umschlang mit etwas Weichem ihre Hüfte. Mit einem Schulterblick konnte sie die Arme Jenay zuordnen. Als sie an sich herunter sah, erkannte sie, dass er im Begriff war, seinen weichen Wollpullover um ihre Hüften zu binden. Vor ihrem Bauchnabel machte er einen Knoten und hatte dabei von hinten seine Arme um sie geschlungen. Als sie sich dann zu ihm umdrehte, hatte er sich schon auf einen Verlegenheitsabstand gebracht. Sie lächelte ihn dankbar an, und er erwiderte ihr Lächeln verlegen. Dabei schloss er den Reißverschluss seiner Outdoorjacke. Voller Erstaunen fiel ihr auf, dass er seinen Pullover gerade noch getragen hatte.
„Ist dir jetzt nicht kalt?“, fragte Annika.
„Die Jacke ist dick genug. Hält sehr schön warm“, schrie er gegen den Motorenlärm der Herkules an.
„Hey, ihr Turteltauben, der Weg ist wieder frei, es kann weitergehen“, rief Thomas ihnen schonungslos zu. Richtig blass konnte Jenay nicht werden, aber immerhin dunkelrot.
Sie hatten die Herkules weit hinter sich gelassen, und das Flughafengebäude füllte ihr Blickfeld. Es war nicht sehr groß, vielleicht sechs Meter hoch. Darauf thronte der Tower, der eher ein flacher runder Zylinder war, mit Fenstern rundherum. Das Gebäude war wohl mal ganz dunkelrot gestrichen worden. Nach dem ersten Anstrich war hier aber seit längerer Zeit keine weitere Verbesserungsarbeit durchgeführt worden. Von der roten Farbe waren nur noch Flecken und meterlange Streifen übrig. Weiter südlich, etwas abgesetzt vom Hauptgebäude, standen mehrere halbrunde Wellblechhallen, die in ihrer Höhe das Hauptgebäude um etwa vier bis fünf Meter überragten. Es handelte sich um vier Hangars, vor denen zwei Flugzeuge standen, die aus ihrer Position gesehen die Größe einer Boeing 737 hatten. Thomas stellte erstaunt fest, dass diese Fluggeräte keine Flügel, sondern sechsblättrige Rotoren hatten. Es waren die größten Hubschrauber, die er je gesehen hatte, und wäre er nicht an die anderen gebunden, dann hätte er sich auf den Weg gemacht, sie sich genauer anzusehen. Doch der Wind trieb sie so schnell wie möglich in das Flughafenhauptgebäude.
Distanz 132
In dem kleinen Frachtflughafen interessierte sich niemand für die Neuankömmlinge, und da die vier ihr Gepäck bereits hatten, verließen sie das nicht mehr als zweckmäßig eingerichtete Flughafengebäude gleich wieder auf der anderen Seite. In Touristengebieten sprangen den Reisenden die Taxifahrer nur so entgegen und schlugen sich fast um die Gunst des potenziellen Kunden. Aber hier machte sich der Fahrer nicht mal die Mühe auszusteigen, um ihnen beim Gepäckeinladen zu helfen. Das Taxi war sehr alt und für Menschen wie Thomas zu klein. Dr. Chakalakel sagte dem Fahrer den Namen des Hotels, in dem sie auch die anderen Antarktisexpeditionsteilnehmer treffen sollten. Der Taxifahrer verharrte kurz in Gedanken, beschleunigte dann gemütlich sein Fahrzeug und fuhr die Straße hinunter am Flughafen und den Hangars vorbei. Der Flughafen befand sich einige Kilometer außerhalb von Punta Arenas, sodass in der näheren Umgebung wenig Häuser standen. Wäre das Wetter nicht so stürmisch und der Himmel mit grauen dicken Wolken verhangen gewesen, hätten sie einen schönen Ausblick auf die Ausläufer der Anden gehabt.
Der Taxifahrer steuerte sie die stark abgenutzte Straße hinunter. Am kompletten Flughafen vorbei. Am Ende der Straße wendete er und fuhr die Straße wieder hoch, bis er genau auf der Höhe des Flughafenterminals war und dort hielt. Dann gab er seinen Fahrgästen mit einem Geräusch zu verstehen, dass sie ihr Ziel erreicht hatten. „So eine Abzocke!“ Thomas zahlte und lud die Koffer aus.
Das Hotel sah etwas verwahrlost aus und schief. Auch die vielen Balkone waren in sich schief. Die Geländer waren aus Holz, das mal weiß gestrichen, aber jetzt völlig abgenutzt war, wie auch die Fensterrahmen und die Türen. Der Rest der Fassade war orange, aber auch dieser Anstrich war von etlichen Farbabsplitterungen übersät. Würden nicht überall auf den Balkonen Pflanzen und Blumen wachsen und an einigen Fenstern Gardinen hängen, wäre es sicherlich schon zum Abriss freigegeben worden. Das war nun ihr Hotel für die nächsten drei Übernachtungen! In großen Buchstaben in Neonröhrenleuchtschrift stand der Name an der Fassade: Hotel Paradise. Die in einem Zug geschwungene Röhre leuchtete momentan nicht, aber es war auch noch nicht dunkel. An diesem fernen Ort und auf dieser Seite der Erdkugel wurde es erst sehr spät richtig finster. Doch der eine der vier Leuchtsterne unter dem Schriftzug blinkte unrhythmisch vor sich hin. Ein Wackelkontakt sicherlich ? oder alle anderen Lampen waren schon kaputt.
Annika wollte bei diesem stürmischen Wetter keinen weiteren Gedanken an die Außenfassade verschwenden. So beeilte sie sich, den anderen durch das schiefe Eingangstor zu folgen.
Distanz 131
Von innen schien das Hotel nicht ganz so heruntergekommen sein. Durch sein wild zusammengestelltes Mobiliar wirkte es sogar irgendwie gemütlich. Der Boden war mit verschiedensten Teppichen ausgelegt, deren einzige Gemeinsamkeit darin lag, abgenutzt zu sein. Die halbkreisförmige Kiefernholztheke der Rezeption passte nicht zu den mit Leinen überzogenen Sesseln, die in der anderen Hälfte des Eingangsbereichs eine kreisförmige Sitzecke bildeten. Auf diesen Sesseln machten es sich vier Russen bequem. Das konnte Annika am Ton hören, obwohl sie deren Sprache nicht verstand. Drei Männer und eine Frau. Als Jenay und Annika zur Rezeption schritten, wo Dr. Chakalakel und Thomas sich mit dem Concierge unterhielten, würdigten die vier Russen die Neuankömmlinge nur mit einem kurzen Blick, ohne ihr Gespräch wirklich zu unterbrechen. Annika wollte mit ihrem Vater eigentlich über den Taxifahrer reden, wurde aber dann von dem Anblick dieser vier zwielichtigen Personen abgelenkt. Wieso hatte sie gleich ein Unbehagen im Magen, wenn sie vier Russen sah? Sie schob es auf die vielen Kinofilme mit ihren Klischees über kleine Ansammlungen ausländisch sprechender, düster wirkender Menschen. Annika musste sich eingestehen, dass sie in diesem Punkt sehr viele Vorurteile hatte. Wirklich unheimlich sahen sie bei genauerer Betrachtung eigentlich gar nicht aus. Wäre da nicht dieser harte russische Akzent, hätte Annika sie vielleicht in ihren dicken gestrickten Rollkragenpullis für Norweger oder Schweden gehalten. Alle vier waren hochgewachsene Menschen, und die eine blondhaarige Frau mit dem kurzen lockigen Haar überragte sogar zwei der Männer. Sie wirkte für eine große Frau sehr robust gebaut, nicht wie die dünnen Models auf den Laufstegen. Plötzlich trafen sich ihre Blicke, und die Russin lächelte sie an. Verschämt blickte Annika zur Seite, aber aus den Augenwinkeln sah sie, wie die große Frau aufstand, sich von ihren Gesprächspartnern entfernte und direkt auf sie zuschritt. Annikas Unbehagen wuchs mit jedem Schritt, den die Russin auf sie zukam. Sie hoffte, dass diese Frau nur zufällig in ihre Richtung steuerte und vielleicht zur Rezeption wollte. Annika wollte schon Jenay in ein Gespräch verwickeln, aber es war bereits zu spät.
„Hey, gehört ihr auch zum SeegerTeam?“, sprach die Russin sie in akzentfreiem Englisch an. Annika war verwundert, dass sie so deutlich englisch sprach, und vergaß fast, höflich zu antworten.
„Nein, wir sind nur auf der Durchreise“, lautete Annikas zaghafte Antwort.
„Doch, doch, wir gehören dazu“, warf Dr. Chakalakel hektisch dazwischen.
Was für ein SeegerTeam? Wir sind doch wegen der DDC oder Blizzard hier, fragte sich Annika. Auch Jenay wirkte verwirrt. Thomas hingegen hatte einen sonderbar erwartungsvollen Blick.
Natürlich, Seeger war der ermordete Geschäftsführer dieses Bergbauunternehmens. Und diese Expedition trug seinen Namen. Annika lächelte der Russin mit einem bejahenden Nicken zu.
„Dann müsst ihr die Teammitglieder aus Deutschland und Indien sein. Mein Name ist Mascha Karbonov, Helikopterpilotin und Empfangsdame.“ Die letzten zwei Worte sprach sie in einem leicht akzentuierten Deutsch. Annika war beeindruckt von der Sprachvielfalt der großen Frau, der sie vor wenigen Sekunden noch ungern in einer dunklen Gasse begegnet wäre. Doch nun machte sie einen recht sympathischen Eindruck, und nebenbei zeigte sie Humor.
„Wann werden wir Herrn Müller treffen?“, drängte der kleine Inder sich wieder neugierig von der Seite an die Russin.
„Herrn Müller?“, fragte Marscha mit einem Grinsen. „Da ihr die Letzten seid, auf die wir noch warten mussten, wird es sicherlich bald losgehen. Ich denke, morgen wird es ein KickoffMeeting im Speisesaal geben. Herrn Müller werden Sie dann sicherlich auch noch sehen. Machen Sie sich doch erst mal alle auf Ihren Zimmern frisch! Wer dann noch Lust hat, kann mir und meinen Kollegen an der Hotelbar Gesellschaft leisten“, sagte Marscha lächelnd.
„Von 18.00 bis 20.00 Uhr gibt es im Speisesaal Abendessen!“, ließ der Concierge im gebrochenen Englisch hinter der Rezeptionstheke verlauten.
„Und wenn du noch ein paar warme Klamotten brauchst, sollten wir unbedingt morgen shoppen gehen.“ Marscha zwinkerte Annika zu, drehte sich um und ging zu ihren Kollegen in die Sitzecke.
Annika wunderte sich etwas über die extreme Freundlichkeit. Besonders über die ShoppingEinladung.
Sie ließen sich ihre Zimmerschlüssel geben und machten sich auf zum zweiten Stock dieses Gebäudes. Da das Haus über keinen Aufzug verfügte, war Treppensteigen die einzige Möglichkeit. Das Treppenhaus war sehr breit und führte am Ende der Empfangshalle direkt zum ersten Stock. Dort endete diese Treppe, und eine Galerie bildete den Flur zu den Zimmern des ersten Stocks. In zwei der Ecken entdeckten sie weitere Treppen, die nach oben führten. Auch diesmal half ihnen niemand, ihr Gepäck zu tragen, und so polterten sie mit ihren Koffern und Taschen über die bereits verschrammten Treppenstufen. Auf dem Weg nach oben blieben ihre Blicke an diversen Bildern hängen, die das Treppenhaus und die Flure schmückten. Die Motive zeigten Landschaften von Chile, Hügel und Täler, in denen Wein wuchs.
Sie erreichten ihre Zimmer. In diesem Stockwerk pfiff der Wind viel stärker durch die schiefen Gänge. Jenays Zimmer befand sich gleich rechts von Annikas, das ihres Vaters auf der linken Seite. Allein Dr. Chakalakel musste bis ans Ende des Flurs laufen, um zu seinem Zimmer zu gelangen. Sie verabredeten sich um sieben zum Abendessen im Speisesaal.
Dann ging jeder in sein Zimmer.