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Der historische Buddha

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Siddhartha Gautama wurde 563 vor Christus in dem Dorf Lumbini geboren, das jetzt im südlichen Nepal liegt. Er verbrachte sein gesamtes Leben in einem Gebiet in Nordindien, das 600 × 300 km umfasst, ein Gebiet mit fruchtbaren Ebenen im Süden und hohen Bergen im Norden.

Es fällt mir schwer mir vorzustellen, wie Indien gewesen sein muss vor so langen Zeiten. Es muss ein kaum bevölkertes, leises, landwirtschaftlich bebautes und schönes Land gewesen sein – ganz anders als moderne indische Städte mit Krach, verstopften Straßen, Luftverschmutzung, Plastikmüll an den Straßenrändern und vielen Menschen.5 Vermutlich war es ähnlich wie das ländliche Indien, das ich als Kind erlebt habe. Ich kann mich noch an Büffelkarren mit zwei riesigen Rädern aus Holz erinnern, umherirrende Kühe (obwohl Kühe zu den Zeiten des Buddha noch nicht als heilig angesehen wurden) (siehe Schumann 2004, S. 236), Lehmhütten, Bauern auf den Feldern, Dorfbrunnen, der Geruch von Feuern aus Kuhdung – und natürlich keine Elektrizität. Könnten die Dörfer so ähnlich gewesen sein vor so langer Zeit?


Abb. 1: Dorf in Sarnath, Nordindien. Hier gab der Buddha seine erste Lehrrede. Ländliches Dorfleben hat sich seit den Zeiten des Buddha in Indien kaum verändert.

Wie Schumann (2004) aufzeigte, lehrte der Buddha überwiegend nicht in Dörfern, sondern in den Städten: »Reflektieren die ältesten literarischen Quellen der Inder, die Veden, ländliche Lebensweise, so tritt uns in den buddhistischen Schriften das Bild einer städtischen Kultur entgegen. Von Dörfern und Bauern ist zwar auch die Rede, aber vor allem die Städte bilden die Kulisse der Mission des Buddha, sie sind die Schwerpunkte eines blühenden merkantilen und politischen Lebens« (Schumann 2004, S. 14). Diese waren völlig anders als moderne indische Städte. Oft waren sie Festungen und wurden umringt von hohen Stadtmauern und Wassergraben. Sie lagen oft bei Flüssen und hatten Paläste, Basare und Wohnbereiche. Außerhalb der Städte trafen sich Wanderer in Parks und Gärten (Schumann 2016, S. 38ff.).

Das sechste Jahrhundert vor Christus war eine Zeit des spirituellen Umbruchs und der Reaktion gegen etablierte religiöse Tradition, die zu dogmatisch und mechanistisch geworden waren. Die Zeit war reif für eine Veränderung, durchaus vergleichbar mit den sozialen Umbrüchen und spirituellen und politischen Infragestellungen der 1960er Jahre. Siddhartha Gautama war zu dieser Zeit nicht der einzige Begründer einer spirituellen Tradition. Wie Schumann erläutert, hatte der Buddha mehrere spirituelle Konkurrenten, von denen Mahavira der bekannteste war. Er war der Begründer des Jainismus, einer hoch asketischen religiösen Sekte, die noch heute viele Anhänger in Indien hat, aber weniger Anziehung auf den Westen ausübt.

Zu dieser Zeit wurde Nordindien in Königreiche und Republiken aufgeteilt. Es ist interessant, dass Siddhartha Gautamas Vater nicht ein König war, sondern ein Herrscher der Republik der Sakyas, die heutzutage an der Grenze von Nordindien und Nepal liegt. Die Sakyas waren Krieger, Verwalter und Richter, die ihren Präsidenten wählten. Damals stand die Kriegerkaste gesellschaftlich höher als andere Kasten, wie zum Beispiel die Brahmanen, die Priester. Suddhodana, der Vater von Siddhartha Gautama, war somit ein gewählter Herrscher. Und Siddhartha Gautama war sein erster Sohn (Schumann 2004, S. 18).

Nach den historischen Legenden war seine Mutter Maya bei seiner Geburt schon 40 Jahre alt. Auch heute ist die erste Geburt einer 40-jährigen Mutter mit höheren Risiken sowohl für die Mutter wie auch für das Kind vor, während und nach der Geburt verbunden. Maya wollte ihr Kind zu Hause bei ihren Eltern entbinden. Sie reiste mit einem Büffelkarren über staubige und heiße Straßen, aber erreichte ihr Elternhaus nicht rechtzeitig. Ihr Sohn Siddhartha Gautama wurde unterwegs in Lumbini (Süd Nepal) geboren. Maya stand dabei aufrecht und hielt sich an den Zweigen eines Salbaums fest, ohne medizinische Unterstützung. Der Salbaum ist ein immergrüner Hartholzbaum, der bis zu 30–35 m hoch wachsen kann. Er ist weit verbreitet im indischen Subkontinent und hat große grüne Blätter. Seit der Geburt des Buddha ist der Salbaum ein Symbol der Vergänglichkeit im Buddhismus.

Maya war nach der Geburt erschöpft und fuhr in ihre Heimatstadt Kappilavathu. Während es dem Baby gut ging, entwickelte Maya Fieber und verstarb tragischerweise eine Woche später (Schumann 2004, S. 22). Selbst heutzutage ist die mütterliche Todesrate in Entwicklungsländern ohne ausreichende medizinische Versorgung sehr hoch. Nach den Statistiken der Weltbank hat sich die weltweite mütterliche Mortalität in den letzten 25 Jahren erfreulicherweise zurückgebildet. Dennoch gibt es selbst im Jahr 2014 weiterhin große Unterschiede zwischen einzelnen Ländern: Während die mütterliche Mortalitätsrate 6 zu 100.000 Lebendgeburten in Deutschland betrug (neun in Großbritannien und 14 in den USA), war sie in Indien mit 174 weiterhin sehr hoch (World Bank 2014). Man kann davon ausgehen, dass diese Rate zu den Zeiten des Buddha noch viel höher war, sodass viele Kinder schon kurz nach ihrer Geburt zu Halbwaisen wurden.

Siddhartha Gautama hatte als neugeborener Halbwaise sehr viel Glück: Seine Tante und zukünftige Stiefmutter, die gerade seinen Halbbruder Nanda


Abb. 2: Relief mit Königin Maya während der Geburt ihres Sohnes, Siddhartha Gautama (Smithsonian National Museum of Asian Art, Washington, D. C.). Sie hält sich stehend an den Zweigen eines Salbaums fest. Die Geburt ihres Babys erfolgt von der rechten Seite ihres Körpers. Sein Kopf ist mit einem Heiligenschein umringt und er wird von einer Hebamme empfangen. Nach Legenden handelt es sich um den Gott Indra.

entbunden hatte, schaute nach ihm, umsorgte und stillte ihn, sodass er zu allen Zeiten versorgt wurde und niemals ohne mütterliche Bezugsperson war.

Die Arbeit von Fisher (2015) gibt einen guten Überblick über Studien zur Adoption und zu Pflegefamilien. Pflege- und Adoptivkinder haben insgesamt ein erhöhtes Risiko für negative Entwicklungen, einschließlich psychischen Störungen, Entwicklungs- und neurologischen Auffälligkeiten, vor allem, wenn sie vernachlässigt waren und multiple Bezugspersonen hatten. Wenn sie gut umsorgt waren, sind die Entwicklungsrisiken gegenüber anderen Kindern nicht erhöht. Im Gegenteil, manche Kinder entwickeln eine erhöhte Resistenz gegenüber Krisen, was ein protektiver Faktor für das gesamte Leben ist. Man kann deshalb davon ausgehen, dass Siddhartha Gautama von seiner Stiefmutter gut umsorgt wurde, sodass er nicht notwendigerweise durch den frühen Tod seiner leiblichen Mutter belastet war.

Nach den Legenden wurde der neugeborene Siddhartha Gautama im Alter von drei Tagen durch einen weisen alten Mann namens Asita empfangen, der vorhersagte, dass er ein Buddha, eine erleuchtete Person, werden würde. Acht andere brahmanische Priester sagten ebenfalls voraus, dass dieses Kind erfolgreich sein würde – entweder im Bereich der Religion als ein Buddha (d. h. ein Erleuchteter) oder im weltlichen Bereich als Herrscher.

Wahrscheinlich waren beide Voraussagen besorgniserregend für seinen Vater, der den Verlust seiner Frau betrauern musste und sich wahrscheinlich nichts mehr wünschte, als dass sein Sohn in seine Fußstapfen treten und wie er ein weiser Herrscher werden würde. Diese elterlichen Wünsche können als Projektion verstanden werden. Projektionen sind Erwartungen, die Eltern oft unbewusst in sich tragen und auf ihre Kinder projizieren. Sie können positiv oder negativ sein, realistisch oder unrealistisch. Projektionen sind nicht problematisch, wenn sie einen positiven Inhalt haben und realistisch sind. Jedoch können sie nachteilig sein, wenn negative Gefühle, ungelöste eigene Konflikte und Schwierigkeiten wie Trauma und Misshandlung von Eltern auf Kinder projiziert werden.

Kinder sind somit immer Empfänger von Projektionen ihrer Eltern: »In allen Kontexten werden Kinder mit hoher Wahrscheinlichkeit eine ordentliche Dosis elterliche Projektionen empfangen und müssen diese Erwartungen ertragen« (Sasson 2013, S. 11). Wenn sich elterliche Erwartungen, das kindliche Temperament und die Kernpersönlichkeit deutlich unterscheiden, kann dies problematisch sein. Wie wir gesehen haben, wurde Siddhartha Gautama von klein auf optimal umsorgt und materiell in jeder erdenklichen Weise verwöhnt, was seinerseits auch für die Entwicklung im Jugendalter problematisch sein kann. Einer Studie zufolge strebten reiche amerikanische Jugendliche eher nach äußerlichem Erfolg und hoher Leistung. Um beliebt zu sein, legten reiche Mädchen großen Wert auf ihre äußere Erscheinung, während Jungen eine höhere Wahrscheinlichkeit für Substanzmissbrauch oder antisoziales Verhalten entwickelten, um Anerkennung durch Gleichaltrige zu erlangen (Miller 2012, S. 224–225).

Zum Glück erlag Siddhartha Gautama nicht den Versuchungen seines Reichtums. Allerdings erfüllte er nicht die Erwartung seines Vaters, dessen Projektionen sich so sehr von seinem Temperament unterschieden. Zudem spürte er schon früh seine Berufung zu einem spirituellen Weg, ein Prozess, den C. G. Jung »Individuation« nannte. Individuation ist mit zwei Bewegungen assoziiert: Zum einen mit einer Trennung von bisherigen Werten und Bedingungen und zum anderen mit einer Verbindung und Wiedervereinigung, wie es der Jung’sche Analytiker Murray Stein (2006) ausführte. Individuation umfasst sowohl die Suche nach der eigenen Identität, d. h. die Person zu werden, die man wirklich ist, wie auch die Erkenntnis, dass man immer mit anderen Menschen verbunden ist. Sie kann auch als eine Berufung gesehen werden, die im Leben erfüllt sein muss. Bei Siddhartha Gautama war es somit eine innere Notwendigkeit, ein spiritueller Lehrer zu werden anstatt ein weltlicher Herrscher. Um gerade dieses zu verhindern, versuchte sein Vater ihn von den Leiden anderer Menschen fernzuhalten und ihn stattdessen in jeder möglichen Form zu verwöhnen.

Was wissen wir über die Kindheit des Siddhartha Gautama? Obwohl es nicht viel ist, sind mehr Fakten überliefert als zum Beispiel über die frühen Jahre von Jesus Christus. Wie wir später sehen werden, gibt es nur wenige Szenen in der Bibel über Jesus als Kind, zum Beispiel als er von seinen Eltern weglief und im Tempel blieb.

Siddhartha Gautama wuchs in solchem Reichtum auf, dass alle seine Wünsche erfüllt wurden. Dennoch zeigte er kein hohes Interesse an praktischen Aktivitäten wie Landwirtschaft und Kampfkunst, was für seinen Vater mit Sicherheit schwer zu akzeptieren war (Schumann 2004, S. 37). Stattdessen hatte er eine hohe Neigung zur Philosophie, Kontemplation und Meditation – Aktivitäten, die deutlich von den Erwartungen an einen zukünftigen Staatsmann abwichen. Wie Schumann es ausdrückte: »Die Gautama-Familie, die seine schwache Weltverhaftung und seine Transzendenz-Neugier stirnrunzelnd beobachtete«, versuchte so weit wie möglich dieses zu verhindern. »Wenn die Legende berichtet, Suddhodana habe seinen Sohn gegen die Welt abgeschirmt, um ihm den Anblick des Leidens zu ersparen, so war wohl der wahre Grund, Ideen der Weltflucht von ihm fernzuhalten« (Schumann 2004, S. 43).

In einem späteren Abschnitt beschreibt Schumann eindrücklich die Unterschiede zwischen Vater und Sohn:

»Hatte Suddhodana … gehofft, sein ältester Sohn werde sich zu einem robusten, entschlossen der Welt zugewandten Tatmenschen mit politischen Ambitionen entwickeln, so wurde er enttäuscht. An fröhlichen Gruppenspielen und militärischen Übungen desinteressiert, war der Jüngling zum Eigenbrötler geworden und philosophischen Überlegungen und kontemplativen Betrachtungen allzu sehr hingegeben. Statt seine angenehmen Lebensumstände zu genießen, war er infolge selbstentwickelter Maßstäbe mit der Welt unzufrieden und litt unter ihren Unzulänglichkeiten. Zugleich sann er darüber nach, wie sich die Welt subjektiv überwinden lasse. Kurzum, er war, mit der Sprache der Psychologie zu reden, ein sensibler, habituell introvertierter Denktyp. Kein Wunder, dass ihn das Leben in Haus und Ehe seelisch nicht ausfüllte und er die Chance ergriff, als Samana (Mönch) der Welt zu entsagen« (Schumann 2004, S. 224).

Zusammengefasst wuchs Siddhartha Gautama in einem Palast auf, in dem alle seine materiellen Bedürfnisse mehr als gedeckt waren. Wie er sich später daran erinnerte, »lebte ich … äußerst verwöhnt (im Elternhaus)« (Schumann 2004, S. 36). Als er 16 Jahre alt wurde (547 vor Christus), heiratete er seine Cousine Yasodhara, aber es dauerte weitere 13 Jahre bis sein Sohn Rahula geboren wurde. Insgesamt findet man wenig Aufsässigkeit in Siddhartha Gautamas Jugend. Allerdings führte seine Ernüchterung über sein materiell gesättigtes Leben schließlich dazu, dass er als junger Erwachsener im Alter von 29 Jahren seine Familie verließ.

Von früh an muss Siddhartha Gautama eine tiefe Berufung zu einem spirituellen Leben gespürt haben. Seine inhärente spontane Spiritualität, die allen Menschen innewohnt, war einfach so überwältigend, dass er ihr folgen musste. 25 Jahrhunderte später konnte sich Thich Nhat Hanh, einer der weisesten und bekanntesten gegenwärtigen buddhistischen Lehrer, an eine ähnlich tiefe Berufung als Kind erinnern. In einer bewegenden Sendung von Oprah Winfrey (Winfrey 2010) wurde er von ihr gefragt:

OW: »Gibt es irgendeine besondere Erinnerung, die sie über ihre Kindheit erzählen können – ihre schönste Erinnerung?«
TNH: »Eines Tages sah ich ein Bild des Buddha in einer buddhistischen Zeitschrift und er saß auf dem Gras.«
OW: »Wie alt waren Sie da?«
TNH: »Sieben, acht … Und er saß auf dem Gras sehr friedvoll … lächelnd … Und ich war beeindruckt. Um mich herum waren die Menschen nicht so wie er, sodass ich mir wünschte, so zu werden wie er. Und ich hegte diesen Wunsch bis zum Alter von 16 Jahren, als sich die Erlaubnis meiner Eltern bekam, ein buddhistischer Mönch zu werden.«
OW: »Wie fühlte sich dieser Wunsch, dieses Drängen, dieses Gefühl von ›Was ich tun muss, was ich werden muss‹ … Wie fühlte es sich an?«
TNH: »Ich würde nicht glücklich sein, wenn ich nicht ein Mönch geworden wäre, und das ist das Gefühl.«6

Was in diesem Interview so schön ausgedrückt wurde, ist die starke spirituelle Berufung eines jungen Kindes, das genau und intuitiv wusste, wie sein Lebensweg sein würde. Während Thich Nhat Hanh schon in einem frühen Alter Mönch werden konnte, musste Siddhartha Gautama bis zum Alter von 29 Jahren warten, um diesen großen Schritt zu machen.

In der Biografie Siddharta Gautamas sind drei Szenen besonders bedeutsam: Die Erfahrung von tiefen meditativen Zuständen als Kind unter dem Rosenapfelbaum, die sogenannten vier Exkursionen und der große Abschied als junger Erwachsener. Diese werden in den folgenden Abschnitten ausführlich beschrieben.

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