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Der große Aufbruch

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Es muss für Siddhartha Gautama extrem schwierig gewesen sein, seine junge Familie zu verlassen. Man kann sich seine inneren Konflikte und seinen Aufruhr gut vorstellen. Wie Schumann (2004) beschreibt, war es Siddhartha Gautama nicht möglich, seinen gerade neugeborenen Sohn anzuschauen oder zu berühren, aus Angst, dass er es dann nicht schaffen würde, zu gehen. Stattdessen floh er um Mitternacht auf seinem Pferd in Begleitung eines treuen Dieners. Seine Frau Yasodhara schlief mit seinem neugeborenen Sohn Rahula in ihren Armen, als er seine junge Familie für immer verließ.

Heutzutage ist es schwer sich vorzustellen, dass Siddhartha Gautama seinen Sohn tatsächlich Rahula nannte, ein Name der wörtlich »Fessel«, »Zwang«, »Einschränkung«, »Kette« und »Beschränkung« bedeutet – kein schöner Name für ein junges Baby. Man begegnet solchen negativen Projektionen oft in der Psychotherapie oder Familienberatung, gerade wenn Eltern negative Gefühle der Missgunst und Ablehnung gegenüber ihrem eigenen Kind in sich tragen. Diese negativen Projektionen können so ausgeprägt sein, dass selbst junge Kinder mit Namen wie Monster, Tyrann oder Sargnagel benannt werden.

Siddhartha Gautama muss intensiv gespürt haben, dass ein Familienleben seine spirituelle Berufung behindern würden. Andererseits war das Opfer seiner eigenen jungen Familie gewaltig. Diese Aufgabe wurde im Laufe der Zeit zu einem Ideal der spirituellen Entsagung stilisiert. Allerdings kann man diesen Schritt auch sehr kritisch sehen, wenn er wörtlich befolgt wird, wie Sasson es beschreibt: »Der zukünftige Buddha verlässt seinen neugeborenen Sohn einem abstrakten Ideal zuliebe« (Sasson 2013, S. 2) und schafft dabei ein Rollenmodell für das Verlassen von Kindern. Während Siddhartha Gautama anscheinend keine andere Möglichkeit sah für seinen spirituellen Weg, ist dieses Vorbild der Entsagung der Familie keine Voraussetzung für ein spirituelles Leben. Im Gegenteil, es ist sowohl eine Herausforderung als auch eine wirkliche spirituelle Aufgabe, Kinder aufzuziehen, ihr Wachstum zu begleiten und an dem Wunder ihrer Entwicklung teilzuhaben, wie das Paar Kabat-Zinn es in ihrem beeindruckenden Buch zur Elternschaft beschrieb:

»Kindererziehung ist eine der anspruchsvollsten, herausforderndsten und belastendsten Aufgaben auf diesem Planeten. Sie ist auch eine der wichtigsten, denn so, wie sie umgesetzt wird, wird zum großen Teil das Herz und die Seele und das Bewusstsein der nächsten Generation beeinflusst …« (Kabat-Zinn und Kabat-Zinn 1997, S. 13).

In seinem Essay mit dem Titel »Der Buddha und seine dysfunktionale Familie« analysierte Titmuss (2015a) kritisch die Familienbeziehungen von Siddhartha Gautama. Das Erleben von Verlassenwerden, der Verlust seiner Mutter und Konflikte mit seinem Vater können zu einer dysfunktionalen Familiendynamik beigetragen haben, kombiniert mit ambivalenten Gefühlen gegenüber längeren, verbindlichen Beziehungen. Es kann weiterhin spekuliert werden, dass die eigenen Kindheitserfahrungen von Siddhartha Gautama ein Grund für die Vernachlässigung der Themen zur Kindheit in seinem Leben und seinen Lehren sein könnte.

Wie verlief Siddhartha Gautamas Leben nachdem er sein Zuhause und seine luxuriöse Umgebung als Prinz verlassen hatte? Nach den Berichten von Schumann (2016) schnitt er seine Haare ab und verbrachte die ersten Tage als Wandermönch im Freien, auf der Suche nach einem Lehrer. Sein erster Lehrer war ein Mann namens Alara Kalama, aber er war mit seinen traditionellen Lehren zur Meditation nicht zufrieden. Sein zweiter Lehrer war ein Mann namens Uddaka Ramapotta, aber wieder konnte er die Fragen seiner Suche mit diesem Lehrer nicht zufriedenstellend beantworten. Nach Schumann (2004) dauerten seine Studien mit diesen zwei Lehrern nicht länger als ein Jahr.

Der nächste Schritt von Siddhartha Gautama war es, sich ganz in den Wald zurückzuziehen. Im Alter von 30 Jahren begann er seine asketischen Übungen. Unter anderem versuchte er das Denken zu verhindern, seinen Atem so lange wie möglich anzuhalten, selbst zur kalten Jahreszeit auf Kleidung zu verzichten, so lange wie möglich aufrecht zu stehen und natürlich nicht zu essen. Seine Hungerversuche waren so extrem, dass er dem Tod nahe war. In dieser Zeit gewann er fünf Anhänger, die seine Askese, seine Disziplin und Härte bewunderten.

Im Zustand der extremen Kachexie erkannte er, dass Abmagerung, Peinigung und Marterung nicht hilfreich waren, um wirkliche Weisheit zu erlangen. Zu diesem Zeitpunkt begann er wieder zu essen. Es ist interessant, dass er sich gerade dann an seine erste wichtige Kindheitserfahrung der tiefen Absorption erinnerte, als er unter dem Rosenapfelbaum saß, während sein Vater pflügte. Diese Erinnerung war zum Zeitpunkt seiner höchsten körperlichen Auszehrung der Wendepunkt, der ihn zum Leben zurückführte, wie Schumann es erläuterte:

»Sollte etwa diese Art Kontemplation der Weg zur Erleuchtung sein? Da ein ausgemergelter, sich durch Mangelerscheinungen ständig meldender Körper schlecht zum Träger geistiger Suche taugt, hatte Siddhartha kurz nach der Erinnerung an jenes Jugenderlebnis Askese und Fasten verworfen und war zu einer ausgeglichenen Lebensweise zurückgekehrt« (Schumann 2004, S. 70).


Abb. 3: Der Buddha in einem ausgemergelten, kachektischen Hungerzustand (British Museum, London). Die Augenhöhlen sind tief eingesunken, die Wangen faltig und Venen treten an der Stirn hervor. Siddharta Gautama war kurz vor seinem Tod, als er sich an sich an die tiefe Versenkung als Kind unter dem Rosenapfelbaum erinnerte und erkannte, dass die Lösung nicht in der Askese liegt, sondern nur im mittleren Weg.

Kinder spielen nicht nur in Bezug auf die Erinnerung an seine Kindheitserfahrung unter dem Rosenapfelbaum, die von tiefer Ruhe und Meditation geprägt war, eine wichtige Rolle. Nach der Lebensgeschichte des Buddha, wie Thich Nhat Hanh sie so poetisch nacacherzählte, erhielt Siddharta Gautama seine erste Nahrung nach seiner extremen Askese von einem 13-jährigen Mädchen namens Sujata, die ihm eine Schale mit Reismilch reichte und ihn so vor dem Tod rettete. Er war körperlich so geschwächt, dass er bewusstlos zusammengebrochen war:

»Eine Zeit lang lag er bewusstlos da. Mit einem Mal erschien ein junges Mädchen aus dem Dorf. Die 13-jährige Sujata war von ihrer Mutter mit Reismilch, Kuchen und Lotus-Samen ausgeschickt worden, den Waldgöttern zu opfern. Als sie den Mönch bewusstlos auf der Straße liegen sah und beim Nähertreten bemerkte, dass er kaum noch atmete, kniete sie nieder und führte eine Schale Milch an seine Lippen. Sie wusste, dies war ein Asket, der aus Schwäche in Ohnmacht gefallen war.

Als die Milchtropfen seine Zunge und seine Kehle befeuchteten, reagierte Siddharta sofort. Er spürte, wie erfrischend die Milch war, und langsam trank er die ganze Schale leer. Nach einigen Atemzügen war er soweit erholt, dass er sich aufsetzen konnte, und er winkte Sujata, ihm noch eine Schale Milch zu reichen. Es war erstaunlich, wie schnell die Milch seine Kräfte wiederherstellte! An diesem Tag entschloss er sich endgültig, seine strenge Askese aufzugeben; in dem kühlen Wald jenseits des Flusses wollte er bleiben und dort üben« (Hanh 1992, S. 102–103).

So hat ein 13-jähriges Mädchen verhindert, dass Siddharta Gautama an den Folgen seiner Askese starb. Zuerst war es eine intensive Erinnerung an eine entscheidende Kindheitserfahrung, dann war es die großzügige, umsorgende Gabe von Nahrung durch ein junges Mädchen. Die Umkehr von den Extremen des Überflusses wie auch dem Extrem der Askese und die Entdeckung des mittleren Weges hat der Buddha somit jungen Menschen zu verdanken. Indem er allerdings wieder anfing zu essen, enttäuschte er seine fünf Anhänger, die ihn sofort verließen. Siddhartha Gautama war wieder einmal alleine.

In den nächsten Tagen gewann er seine Kräfte wieder und durchlief eine wichtige Wandlung:

»Schließlich gab er auch das Verlangen auf, der Welt der Erscheinungen zu entkommen, und als er so zu sich selbst zurückkehrte, empfand er, dass er in der Welt der Erscheinungen vollkommen gegenwärtig war. Ein Atemzug, der Gesang eines Vogels, ein Blatt, ein Sonnenstrahl – alles konnte Gegenstand seiner Meditation sein. Er begann zu verstehen, dass der Schlüssel zur Befreiung in jedem Atmen, in jedem Schritt, in jedem kleinen Kieselstein auf dem Weg lag« (Hanh 1992, S. 103).

Diese wichtige Szene unterstreicht die Bedeutung von tiefen Kindheitserfahrungen, die als seelisches Fundament für die Bewältigung späterer Krisen dienen kann. Kindheitserinnerungen können im Erwachsenenalter wiederauftauchen und zu wirklichen Wendepunkten werden, die als Augenblicke in der Zeit definiert werden, gekennzeichnet durch plötzliche, lebensverändernde Ereignisse, die jenseits der Kontrolle des Individuums liegen. Wie wir später sehen werden, sind auch beide Arten des Exzesses – Luxus, Verwöhnung und die Suche nach Sinnesreizen sowie das Gegenteil von Askese und Selbstbestrafung – schädlich für Körper, Geist und Seele. Wie der Buddha es später erkannte, ist der mittlere Weg der geeignetste, heilsamste und zuträglichste Weg für menschliches Leben. Diese einfache Wahrheit wird oft nicht gesehen, zum Beispiel von Kindern und Jugendlichen mit Anorexia nervosa oder anderen psychischen Störungen. Aber auch Erwachsene neigen dazu, dies zu missachten.

Nachdem er Gewicht und Gesundheit wiedererlangt hatte, setzte Siddhartha Gautama seine meditativen Explorationen alleine fort, bis er schließlich während fortgesetzter Meditation unter einem Pipalbaum (Ficus religiosa, auch Bodhi Baum genannt) in Bodh Gaya in Nordindien zu tiefen Einsichten gelangte. Von diesem Zeitpunkt des Erwachens an, wurde er der Buddha genannt, d. h. der Erleuchtete. Wiederum spielt das Symbol des Baums eine große Rolle bei diesem Ereignis. Dreimal in seinem Leben waren Bäume stille Zeugen: Der Salbaum, an dem sich seine Mutter Maya während seiner Geburt abstützte, der Rosenapfelbaum während seiner spirituellen Absorption als Kind und nun der Pipalbaum bei seiner Erleuchtung. Der Baum wird als Symbol der Transzendenz in vielen Religionen verehrt. Bäume haben Wurzeln, die sie fest in der Erde verankern, und Äste, die zum Himmel wachsen. Ihre Stärke und Langlebigkeit sind Symbole von Ausdauer, Geduld und Standhaftigkeit. In vielen Traditionen glaubt man, dass Bäume von weiblichen Wesen und Göttinnen belebt sind. Bäume bieten Schutz und heilige Räume für Einsicht, sogar Erleuchtung wie bei dem Buddha. Ein Pipalbaum steht noch immer am Ort der Erleuchtung des Buddha in Bodh Gaya und ist auch an vielen anderen heiligen buddhistischen Orten zu finden. Der Pipalbaum ist ein halb-immergrüner Baum, der bis zu 30 m hoch wachsen kann. Die Blätter verjüngen sich zu einer Spitze hin und scheinen sich immer im Wind zu bewegen. So stark war die Auswirkung von Buddhas Erleuchtung unter dem Pipalbaum, dass er die nächsten sieben Tage danach in einem Zustand der Gelassenheit und Heiterkeit verblieb.


Abb. 4: Geschmückter Pipalbaum auf dem Gelände des thailändischen Klosters in Sarnath, Indien. Der Pipal- (oder Bodhi-)baum ist zum Symbol der Erleuchtung des Buddha geworden und findet sich in vielen buddhistischen Klöstern und Tempeln.

Nach mehreren Wochen der Meditation lief er zu Fuß 210 km nach Sarnath, einem Dorf nördlich von Varanasi. 56 Tage nach seiner Erleuchtung hielt er seine erste Lehrrede in Sarnath vor seinen fünf ehemaligen Anhängern, die ihn während seiner asketischen Periode begleiteten. In dieser ersten wichtigen Rede, die als »Rede des Drehens des Rades« bekannt wurde, umriss der Buddha die Sinnlosigkeit der Extreme von Sinnesfreuden wie auch Selbstquälerei und zeigte die Lösung des mittleren Weges auf. Auch formulierte er zum ersten Mal die Essenz seiner Lehren, nämlich die vier edlen Wahrheiten, die im dritten Teil dieses Buches erläutert werden.

Während dieser ersten wichtigen Lehrrede erlangte einer seiner Anhänger ein volles Verständnis und bat darum, als Mönch ordiniert zu werden. Im weiteren Verlauf wurden immer mehr Menschen durch die Lehren des Buddha berührt und angesprochen, sodass die Zahl der Mönche kontinuierlich anwuchs. Wie auch heute wurden Menschen damals von den weisen, nicht dogmatischen, nicht dualistischen und befreienden Wahrheiten des Buddha angezogen, die einfach auf der eigenen empirischen Erfahrung beruhten.


Abb. 5: Die erste Lehrrede des Buddha in Sarnath, Indien (Thai Monastery, Sarnath). Die typische Handhaltung deutet an, dass das Rad der Lehre zum ersten Mal gedreht und der mittlere Weg beschrieben wurde – für alle Menschen zu verstehen und zu praktizieren: Kinder, Jugendliche und Erwachsene.

Ich fühle mich besonders hingezogen zu diesem Dorf von Sarnath, wo Christopher Titmuss und andere Lehrer jedes Jahr Meditationsgruppen und Reden anbieten. Ich besuchte Sarnath das erste Mal im Jahr 2007, mitten in einer persönlichen Krise, und wohnte unter sehr einfachen Bedingungen in dem thailändischen Kloster. Sarnath war damals ein verschlafenes Dörfchen, nur wenige Kilometer außerhalb von Varanasi, der heiligen Stadt der Hindus. Verschiedene buddhistische Länder (wie Thailand, Burma, Japan, China und Tibet) haben dort Klöster erbaut. Während der Meditation war ich tief berührt durch die Erkenntnis, dass nur wenige Meter entfernt der Buddha auf der gleichen Erde gesessen hatte und seine erste Lehrrede für seine fünf Anhänger aus seiner asketischen Zeit gehalten hatte. Die Ruinen alter buddhistischer Tempel und Klöster sind noch vorhanden und werden in einem archäologischen Gelände beschützt. Eine 44 m hohe, große Stupa steht dort, wo Buddha seine erste Lehrrede gehalten hatte, in der er erläuterte, dass der mittlere Weg der weiseste und lebensbejahendste Weg durchs Leben war – nicht die Extreme der Verwöhnung oder der asketischen Entsagung. Mit dieser Grunderkenntnis setzte ich mich damals intensiv auseinander.

Selbst wenige Jahre später hatte sich Sarnath enorm verändert. Ich kehrte in den Jahren 2012 und 2015 wieder zurück. Der Verkehr und die Bevölkerungszahl hatten deutlich zugenommen. Zusätzlich hatte sich Sarnath zu einem beliebten Heiratsort für hinduistische Hochzeiten entwickelt. Diese sind laute Ereignisse, bei denen durch riesige Lautsprecher indische Bollywood-Lieder in maximaler Lautstärke abgespielt werden. Dieses Mal war es eine große Herausforderung, in der Meditation nicht auf die laute Musik zu reagieren und zu akzeptieren, dass wirklich alles im relativen Leben sich verändert, sich konstant verändert – auch in Sarnath.


Abb. 6: Das Bild zeigt den Buddha, den Erleuchteten, in tiefer Meditation mit geschlossenen Augen und einem friedlichen, lächelnden, gelassenen Gesichtsausdruck. Diese wunderschöne Skulptur seines Kopfes ist geschmückt durch Blattgold, das durch Pilger gespendet wurde. Eine Kette mit Blumen wurde zur Ehrerbietung auf dem Podest abgelegt. Dieser Kopf des Buddha ist nicht mehr direkt zugänglich, sondern wurde auf einer großen Statue des stehenden Buddha platziert, mitten im Gelände des thailändischen Klosters in Sarnath, dem Ort der ersten Lehrrede des Buddha.

Wie lebte der Buddha nach seiner ersten berühmten Lehrrede weiter? Er blieb weiterhin ein Wandermönch für den Rest seines Lebens und verbrachte nur die Regenzeiten in festen Hütten, wodurch die ersten Klöster gegründet wurden. Er sprach frei mit jedem, der ihn fragte, und versammelte eine zunehmend große Zahl von Anhängern sowohl von Mönchen, später auch Nonnen und Laien. Wie wir später sehen werden, sprach er vor allem mit Erwachsenen, selten mit Jugendlichen oder Kindern. Bevor wir uns mit weiteren Inhalten seiner Lehren befassen, soll zunächst die zweite Linie der Kindheit des Buddha aufgezeigt werden, d. h. des mythologischen und verdichteten, aber nicht historischen Buddha.

Buddhismus und kindliche Spiritualität

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