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3. Kapitel

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Vor der Tür des Hotels war ein Vorankommen kaum möglich. Entlang der Absperrung drängten sich die Demonstranten. Unter den wachsamen Augen der Carabinieri und einer Vielzahl von Soldaten schwenkten sie Schilder in der Luft und riefen Parolen. Trillerpfeifensignale ließen ihre Worte kaum verstehen und zerrten an Theas Nerven. Wal-Freya quetschte sich durch die Menschenansammlung und führte die Gruppe zurück in das Gässchen, in dem sie in der Nacht gelandet waren. Auf dem Gelände hinter der Straße zeichnete sich eine noch größere Menschenmenge ab. Dicht zwängten sich die Teilnehmer auf dem Platz, in dessen Zentrum eine andere Säule in den Himmel ragte. Sie war um einiges höher als der ägyptische Obelisk. Thea ließ die Menschen für einen Augenblick außer Acht und schickte ihren Blick den Stein hinauf.

„Was fordern sie?“, rief Juli Wal-Freya zu.

„Unterschiedliches. Die einen verlangen Neuwahlen, die anderen ein Referendum über den Verbleib in der EU. Auf dem Plakat da steht: Keine Abschottung vom Rest der Welt! Wie du siehst, ist noch nichts verloren. Die Menschen können Lokis Einfluss entgegenlenken, wenn sie nur nicht aufgeben.“

„Dazu müssen die Regierungsverantwortlichen allerdings bereit sein, die Demonstranten anzuhören!“, unkte Thea. Sie äugte auf ihre Fylgja, die aufmerksam, aber entspannt neben ihr lief.

„Ihnen wird nichts anderes übrig bleiben, wenn es mehr werden und sie nicht aufhören, ihre Stimmen zu erheben“, erwiderte Thor. Er deutete nach vorn, wo sich eine Lücke in der Menge abzeichnete. „Die nächsten Tage werden darüber entscheiden. Hier lang!“

Juli blieb stehen, zog ihr Telefon aus der Tasche und nahm die Säule in den Fokus, da drückte Thor ihre Hand nieder.

„Das ist nichts, was du auf deinem Gerät speichern solltest“, brummte er.

Verdutzt zog Juli die Brauen zusammen. „Warum?“

„Es ist ein Monument für einen Krieg gegen Germanen“, antwortete der Donnergott knapp.

„Oh“, erwiderte Juli. Sie folgte Thor nach.

„Es ist lange her“, winkte Wal-Freya ab. „Und letzten Endes ist alles gut gegangen. Die Römer wurden bei ihren Eroberungszügen gestoppt und blieben hinter dem Limes.“

„Und der hielt nicht ewig“, erinnerte sich Thea.

Wal-Freya nickte. „Genau.“

Juli drehte sich um und schickte ihren Blick die Säule hinauf. „Germanenstämme und die Römer ... Ich habe ganz vergessen, an welchem geschichtsträchtigen Ort wir uns befinden.“

„Ich nicht“, murrte Thor.

„Er wird gleich noch viel bedeutender sein“, erwiderte Wal-Freya.

Sie traten aus der Menge hinaus auf die Straße. Polizeiwagen sperrten die Fahrbahnen ab und hielten den Verkehr von den Demonstranten fern. Während die Menschenansammlung und der Aufmarsch an Sicherheitskräften Thea völlig verunsicherten, schien er den Göttern zur Gänze gleichgültig zu sein. Thea entschied sich, diesem Gleichmut zu folgen und sich erst beunruhigen zu lassen, wenn Wal-Freya dazu Anlass gab. Die Wanin wusste um die Dinge, die geschehen würden, auch wenn sie diese nie zu ihrem Vorteil nutzte, was Thea schmerzlich am eigenen Leib erfahren hatte. Doch die Walküre wirkte völlig entspannt. Thea hielt es für ausgeschlossen, dass es in Kürze zu Aufständen kommen könnte.

„Das ist es“, verkündete Wal-Freya. Mit einem verschmitzten Blick hob sie den Finger und wies auf ein Gebäude mit mehrstöckig aufragenden Rundbogenfenstern. Der Name einer bekannten Modefirma prangte auf dem Regendach.

Juli ließ die Schultern heruntersacken. „Echt jetzt?“

„Los!“, beharrte Wal-Freya.

Sie querten die Straße und traten vor das Geschäft. Zwei Männer einer Sicherheitsfirma standen an den Türen und beobachteten die Ankömmlinge wachsam.

„Ich bin sehr verwundert, dass bei dem ganzen Chaos die Geschäfte noch offen haben“, sagte Juli.

„Sie werden jetzt auf jeden Cent hoffen und wer kann, wird sein Geld rasch zu Wert machen wollen“, erwiderte Wal-Freya.

Thea hob den Blick. Auf drei hell erleuchteten, von weißen Säulen gestützten Galerien reihten sich Kleiderständer, Auslagen, sowie gefüllte Regale. Akribisch wühlte Wal-Freya in den Stoffen, faltete sie auseinander und zusammen, hielt hier und da ein Kleidungsstück vor einen ihrer Begleiter und legte es wieder weg. Sie besuchte jedes Stockwerk, aber nichts entsprach ihren Erwartungen. Kurzerhand scheuchte sie die Gruppe zurück auf die Straße und steuerte auf das nächste Geschäft zu. Dieses hatte, wie einige andere kleinere Läden, tatsächlich geschlossen. Ein Einkaufszentrum in einiger Entfernung hielt die Türen geöffnet. Auch diese wurden von einer Sicherheitsfirma flankiert. Ihre gute Hoffnung verkündend trat Wal-Freya ein, aber wie zuvor fand die Wanin nicht, was sie suchte. Erneut jagte sie die Gruppe auf die Straße und marschierte mit langen Schritten in einen anderen Laden, nur um diesen ebenfalls mit leeren Händen zu verlassen. Fernab der Demonstration erreichten sie einen Modeladen, in dem die Wanin zufrieden wirkte. Sie ließ Thea und Juli mehrere Kleider anziehen, lehnte aber alle kategorisch ab. Sieben Geschäfte später saßen die Freundinnen und Thor erschöpft auf einem Sessel. Die Walküre tauschte sich mit der Verkäuferin aus und wedelte schließlich mit einem ärmellosen Taftkleid vor der Gruppe.

„Das ziehe ich im Leben nicht an, da musst du dich schon auf den Kopf stellen“, sagte Juli erschrocken.

„Das ist nicht für dich!“, erwiderte die Wanin ungerührt, was Juli zum Lachen brachte und nun ihrer Freundin den Mund offen stehen ließ. Wal-Freya sah Thea rügend an. „Schau nicht so, es ist perfekt! Zieh es an!“

„Ich sehe mich inzwischen mit Thor bei den Herren um“, gackerte Juli.

Die Verkäuferin trat mit einem zweiten Kleid heran. Anders als das, welches die Walküre für Thea ausgesucht hatte, war dieses aus Tüll und mit Trägern versehen. Es war zwar weniger freizügig geschnitten, das Mieder jedoch mit silbernen Mustern und Perlen bestickt.

„Das ist deins!“, erklärte Wal-Freya. „Zieh es an!“

„Doch nicht so etwas!“, begehrte Juli auf.

Thea lachte. „Wir müssen alle Opfer bringen“, neckte sie ihre Freundin.

Die Wanin senkte leicht den Kopf und sah Juli streng an. „Ich weiß, dass du es tragen wirst, also verliere keine Zeit!“

Während Juli erkennbar nach einem Einwand suchte, wurde Thea von der Walküre in die Umkleidekabine geschoben. Gerade als Thea den Pullover ausgezogen hatte, lupfte Wal-Freya den Vorhang und steckte den Kopf in die Kabine.

„Du hast das Kettenhemd mitgenommen?“, flüsterte sie erstaunt.

Ertappt verzog Thea den Mund. „Ich dachte, es kann nicht schaden.“

Amüsiert hob Wal-Freya die Augenbrauen. „Das wirst du damit aber nicht tragen.“

„Ich weiß“, zischelte Thea. „Kannst du jetzt draußen warten, bis ich diesen fürchterlichen Fummel anhabe?“

Wal-Freya lachte und verschwand kommentarlos hinter dem Vorhang. Thea hörte ihre Freundin in der Kabine nebenan fluchen.

„Wer ist nur auf die Idee gekommen, auf diesen dummen Ball zu gehen“, knurrte sie.

Umständlich stieg Thea in das Kleid und zog die Korsage zurecht. Sie fühlte sich seltsam fremd in diesem Aufzug und irgendwie verletzlich. Das Oberteil lag eng an, zudem betonten die eingearbeiteten Softschalen ihre Brüste. Verlegen drapierte sie ein paar Haarsträhnen über ihrem Dekolleté, ehe sie vor die Kabine trat. Unglücklich dreinschauend begegnete sie dort ihrer Freundin. Juli, das Haar wie immer glatt bis zum Kinn tragend und den Pony zur linken Seite aus dem Gesicht gestrichen, wirkte in ihrem Kleid ebenso verloren wie Thea. Missmutig verzog sie den Mund und stemmte die Hände in die Hüften. Sie musterte ihre Freundin durch ihre Brille. Dann prusteten beide gleichzeitig los.

„Eure Hoheit“, sagte Juli und machte eine Verbeugung.

„Prinzessin“, erwiderte Thea und knickste.

„Seid nicht albern!“, protestierte Wal-Freya aus einer Umkleidekabine heraus und schlug den Vorhang zurück. Sie trug ein eng anliegendes, nachtblaues Abendkleid in Wickel-Optik. Hoch aufgeschlitzt legte es mit jedem Schritt ihr Bein frei. Zum ersten Mal erblickte Thea das Brisingamen um den Hals der Wanin zur Gänze. Einzelne Amulette, mit Runen und Symbolen versehen, mit silbernen und goldenen Fäden verbunden, gliederten sich über das gesamte Dekolleté. Wal-Freya kreiste mit dem Finger und wies die Freundinnen an, sich zu drehen. „Perfekt“, kommentierte sie daraufhin. „Zieht euch um!“ Sie wedelte mit der Hand. „Thor, du bezahlst. Lass dir noch drei passende Handtaschen zu den Kleidern geben. Nebenan gibt es einen Herrenausstatter. Jetzt bist du an der Reihe.“

Der Donnergott presste die Lippen zusammen und erhob sich.

„Ich weiß, dass Widerrede keinen Zweck hat, aber ich hasse dieses Kleid jetzt schon“, flüsterte Juli dem Donnergott zu.

„Es ist absolut zwecklos“, bestätigte Thor. „Und glaub mir, ich kann es dir nachempfinden.“

Während Thor die Verkäuferin zur Kasse begleitete, verschwanden Thea und Juli in den Kabinen und zogen sich um. Gleichzeitig mit Wal-Freya erreichten sie die Kasse. Dort hatte Thor die Rechnung bereits beglichen. Sorgsam faltete die Verkäuferin die Kleider zusammen, legte die Handtaschen dazu und verstaute jedes Set in einer eigenen Tragetasche. „Mille Grazie“, sagte sie und verabschiedete die Gruppe mit einem herzlichen „Arrivederci“, das alle erwiderten.

Zurück auf der Straße deutete Wal-Freya auf ein Schaufenster gegenüber. Mit schnellen Schritten eilte sie voran. Als sie die Tür des Ladens öffnete, kündigte eine Messingglocke ihr Kommen an. Ein älterer Mann begrüßte die Gruppe freundlich und hörte der Wanin aufmerksam zu, während er Thor musterte. Irgendwann nickte er, verschwand hinter einem Kleiderständer und zog ein weißes Seidenhemd heraus. Prüfend hielt er es vor sein Gesicht, ehe er darüber hinweg zum Donnergott sah und es wieder zurück auf den Ständer steckte. Mit dem nächsten Hemd schien er zufrieden zu sein. Er reichte es Wal-Freya und machte sich auf die Suche nach einer passenden Hose.

Der Donnergott verschränkte die Arme. „Damit mache ich mich doch nur lächerlich.“

„Du bist schon ganz anders gekleidet auf Feierlichkeiten erschienen“, versetzte die Walküre bissig.

Finster blickend hob Thor den Finger.

„Ich sehe, du erinnerst dich“, erwiderte Wal-Freya. „Also rein da!“ Gnadenlos schob die Wanin ihn in die Kabine. Sie reichte ihm Hose und Anzugsjacke nach und baute sich erwartungsvoll vor dem Vorhang auf.

Als der Donnergott im Verkaufsraum erschien, kicherten Juli und Thea amüsiert. Steif, als wäre er gerade von seinem Pferd gestiegen, blieb er vor den Frauen stehen. Der Verkäufer trat an ihn heran, band ihm eine Fliege um und richtete den Hemdkragen.

„Perfekt!“, kommentierte Wal-Freya. „Jetzt brauchen wir nur noch die passenden Schuhe.“

Leidend verzog Juli die Brauen. „Ich wäre bereit für einen Burger.“

Thor nickte. „Ich auch!“

„Erst wird der Einkauf erledigt“, entschied Wal-Freya. Versöhnlich lächelte sie die Gruppe an. „Es ist gleich geschafft. Ich freue mich auch schon auf einen Kaffee.“

Sichtlich erleichtert wechselte Thor die Kleider und zahlte. Schuhe waren schnell gefunden und so saßen die Freunde am späten Nachmittag fröhlich in einer Pizzeria und genossen Italiens Speisen. Als Wal-Freya den dritten Espresso bestellte, orderte Thor für sich und Juli ein viertes Tiramisu. In der gelösten Atmosphäre des Restaurants verloren sich die Ereignisse der vergangenen Tage, als wären sie nie geschehen. Erst auf dem Weg zum Hotel kehrten diese zurück. Friedlich und ungestört von Polizei und Militär demonstrierte die Bevölkerung noch immer auf der Piazza. Die Aufregung der ersten Stunden war verflogen. Menschen aller Altersgruppen saßen in Kreisen zusammen, machten Musik oder ruhten sich einfach nur von den Strapazen aus. Gewaltlos traten die Menschen für Frieden und Einigkeit ein.

Während sich die Gruppe den Weg zwischen den Menschen zum Hotel suchte, strich Wal-Freya Thea aufmunternd über den Rücken. „Ich sagte dir doch, dass es noch Hoffnung gibt.“

„Ja. Es ist wunderbar“, antwortete Thea froh.

Im Hotelzimmer angekommen, duschten sie nacheinander und machten sich für den Abend fertig. Wal-Freya flocht Thea und Juli die Haare und steckte sie zu kunstvollen Frisuren zusammen, gleich nachdem sie sich die eigenen Haare hochgebunden hatte. Auch Thor bekam von der Walküre die Mähne gebändigt und schließlich sogar neue Zöpfe in den Bart geflochten. Als die Wanin den Mädchen die Augen schminkte, hockte Thor in seinem Anzug auf der Couch und sah interessiert zu. Nachdem sie ihr Werk bei Juli vollendet hatte, blies er beeindruckt die Wangen auf.

„Grandios!“, lobte er.

Mit einem Grinsen zog Juli die Brille auf und sah Thor an. „Ein bisschen Lidstrich würde dir sicher auch gut stehen.“

Er schmunzelte und erhob sich. „Dafür haben wir keine Zeit mehr. Du und ich besorgen jetzt einen Wagen.“

Verdutzt hob Juli die Brauen. „Was ist mit den Pferden?“

„Zu auffällig“, antwortete Wal-Freya, während sie Thea konzentriert ins Gesicht blickte und dabei einen Strich unter dem Augenlid zog.

Ohne ihren Blick von der Decke abzuwenden meinte Thea: „Es ist gar nicht so weit. Wir könnten laufen.“

„Laufen?“, rief Juli.

„Wie sieht das denn aus Kinder, wenn wir zu Fuß auf einen Ball gehen?“, erwiderte die Wanin.

„Wie wäre es mit einem Taxi?“, fragte Juli.

Wal-Freya sah von ihrer Arbeit auf. Herausfordernd zog sie die Augenbraue hoch. „Du willst doch immer unauffällig reisen. Je weniger Zeugen wir auf unserem Weg haben, umso besser. Thea fährt! “

Juli schmunzelte. „Leider hast du Recht. Wieder einmal ist es mir einfach nicht möglich, dir zu widersprechen.“

Wal-Freya lachte. „Wie wunderbar! Und jetzt los! Ich wette, du hast in deinem Rucksack alles, was wir dafür brauchen.“

Juli gab Thor einen Knuff. „Er hat Geld wie Heu. Er könnte einfach einen Rolls Royce kaufen.“

Lachend öffnete Thor die Zimmertür. „Was sollte ich damit? Ich habe einen Wagen.“ Er wartete, bis Juli auf den Flur getreten war und verabschiedete sich.

„Hoffentlich geht das gut“, scherzte die Walküre, als die Tür ins Schloss fiel. Sie senkte Theas Kinn, um ihr Werk zu begutachten.

„Wahrscheinlich biegen sie zum Buffet ab“, raunte Thea.

„Dann mache ich beide einen Kopf kürzer.“ Wal-Freya lächelte. „So! Fertig. Ich hoffe, du fühlst dich auch ohne das Albenkettenhemd sicher.“

„Wenn alles normal verläuft, werden die Anwesenden nicht sehr viele Waffen bei sich tragen“, scherzte Thea.

Wal-Freya stand auf. „Wahrscheinlich nicht. Hast du deine Pulver verstaut?“

Thea nahm die Handtasche vom Tischchen. In Gedanken an den Ball begann ihr Herz zu pochen. Seltsamerweise machte es ihr mehr Angst, sich in eine Villa voller Menschen einzuschleichen, als in ein Totenreich einzudringen. „Alle, die hineingepasst haben“, antwortete sie.

Wieder einmal schien die Wanin Theas Gedanken zu lesen, denn sie lächelte ihr aufmunternd zu und sagte: „Es dient nur der Sicherheit. Wir werden nichts tun, das uns enttarnt.“

Nervös rieb sich Thea die Hände und stand auf. „Natürlich.“

Die Wanin legte den Kopf zur Seite. „Was genau beschäftigt dich?“

„Wir begehen ein Verbrechen. Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich nie wieder aus dem Knast komme, wenn das schief geht.“

Nun warf Wal-Freya den Kopf in den Nacken. Sie lachte lauthals. Fröhlich legte sie den Arm um Thea und lenkte sie zur Tür. „Wenn wir dich aus dem Turm eines Riesen befreien können, dann sicher auch aus einem italienischen Gefängnis. So wie sich die Lage zurzeit gestaltet, wird dich kein Land nach deiner Flucht hierher ausliefern.“

Thea rollte die Augen. „Bis der zweite Satz kam, war ich beinahe beruhigt.“

„Ich entspanne mich, wenn Thor und Juli sich um das Auto gekümmert haben und nicht vorher in den Essenssaal abgebogen sind.“

Sie wartete, bis ihr Schützling an ihr vorbeigelaufen war und schloss die Tür. In ihren Pumps überragte die Wanin Thea noch mehr als sonst. Sie liefen über den Flur und nahmen den Aufzug zur Lobby. Dort lehnten Thor und Juli an der Wand. Beide griffen abwechselnd in eine Tüte Gummibärchen. Als sie ihre Freundin erblickte, winkte Juli mit einem Schlüssel. Ohne Vorwarnung warf sie ihr diesen zu.

Geschickt fing Thea den Gegenstand auf und drehte ihn prüfend in der Hand. „Was ist das für eine Marke?“

Hörbar zog Juli Luft zwischen den Zähnen ein, ehe sie verkündete. „Ein Maserati.“

„Ein Maserati?“, wiederholte Thea fassungslos.

Thor zuckte mit den Schultern. „Um diese Zeit einen Mietwagen zu bekommen, war ein Problem. Wir haben jetzt das Auto von einem Gast.“

„Was?“

Wal-Freya hob verdutzt die Brauen. „Wie habt ihr das geschafft?“

Juli grinste. „Thor hat ihm zwölf goldene Ringe geboten, wenn er uns seinen Wagen für diesen Abend leiht. Zudem hat er meinen Führerschein als Sicherheit erhalten.“ Der Donnergott hob das Kinn. „Eine weitere Bedingung von ihm war, dass wir damit kein Verbrechen begehen dürfen.“ Er lachte. „Loki zu entführen, wird jedenfalls keines sein.“

Thea verzog den Mund. „Das liegt wohl im Auge des Betrachters.“

Thor verschränkte die Arme. „Hier zählt nur unser Blick. Komm! Der Typ sagte, die Kiste steht direkt vor der Tür. Ich kann es kaum erwarten.“

Er setzte sich an die Spitze und führte die Gruppe nach draußen. Thea drückte auf den Schlüssel. Rechts des Eingangs, hinter einigen Pflanzenkübeln, leuchteten die Blinklichter eines schwarzen Sportwagens auf. Thea glaubte ihren Augen kaum. Blitzblank geputzt spiegelten dunkler Lack und Chrom den Geldwert des Luxusschlittens wider.

„Den kann ich niemals fahren!“, stieß Thea aus.

„Warum? Was ist mit ihm?“, fragte Thor.

Juli gab ihrer Freundin einen Knuff. „Stell dich nicht so an, du wirst schon keine Beule reinsemmeln.“

„Und was, wenn doch! Fahr du!“, schnappte Thea.

Juli deutete mit dem Daumen hinter ihre Schulter. „Bereits vergessen? Mein Führerschein ist das Pfand für diese Leihgabe.“

„Das hast du wirklich schlau angestellt“, murrte Thea.

Sorglos öffnete Wal-Freya eine der Türen und hockte sich auf die Rückbank. „Jetzt komm schon! Die fahren sich doch alle gleich.“

Thea grinste. „Sie kosten aber nicht alle ein Vermögen.“

„Ach was!“ Die Walküre winkte ab. „Thor hat genug Ringe dabei! Davon abgesehen wirst du dich hüten, einen Unfall mit dem Ding zu bauen, solange ich darin sitze.“

„Du verstehst es wirklich, einem Mut zu machen“, schnaufte Thea.

„Wenn deine Fylgja entspannt ist, bin ich es auch“, erwiderte Wal-Freya.

Unter dem Gelächter ihrer Freunde stieg Thea ein. Juli nahm hinter dem Fahrersitz Platz und tippte die Adresse in ihr Handy. Während Thea Sitzhöhe und Spiegel einstellte, machte es sich Thor auf dem Beifahrersitz bequem.

„Oh mein Gott, oh mein Gott“, wisperte Thea aufgeregt.

„Wir sind beide da“, erwiderte Wal-Freya trocken.

Thor umklammerte den Griff oberhalb des Fensters. „Allerdings. Du kannst loslegen.“

Thea sah in sein Gesicht und auf seine Hand. „Hast du etwa Angst?“

„Na ja, ich hoffe, es wird schnell“, antwortete der Donnergott.

Juli lachte. „Dann hätte es sich erledigt mit der Unauffälligkeit.“

Geräuschvoll schaltete Thea in den Rückwärtsgang.

„Bleib ruhig“, sagte Thor. „Einem Dutzend Schneedämonen gegenüberzustehen ist wohl bedeutend schlimmer, als so ein Gefährt zu lenken.“

Eine freundliche Frauenstimme aus Julis Navigationsprogramm gab die Richtung an. Juli deutete nach vorn. „Du musst da lang.“

Thea umklammerte das Lenkrad, fuhr ein Stück rückwärts und steuerte den Wagen unter Julis Anweisungen langsam an Menschen und Polizisten vorbei. Thea hatte keine Augen für die Umgebung. Auf engen, gepflasterten Straßen lenkte sie das Auto zwischen Häuserschluchten voran, bis es sich einige Minuten später auf einer viel befahrenen Hauptstraße parallel des Tibers befand. Vorbei an historischen Gebäuden, Kirchen und Denkmälern fuhr sie schließlich auf eine hügelige Waldlandschaft zu.

Ein Mitteilungston ließ Juli erstaunt ausrufen. „Schau dir das an! Meine Eltern kommen nach Hause. Das ich das noch erleben darf.“

„Im Ernst?“, staunte Thea.

„Sie sorgen sich“, sagte Wal-Freya.

„Das tun sie nie! Die Sache muss gefährlicher sein, als ich dachte.“ Sie lachte und deutete schon wieder nach vorn. „Rechts“, navigierte sie. „Jetzt haben wir es fast geschafft.“

„Auf jeden Fall scheint diese Villa im Grünen zu liegen“, kommentierte Thea, die das Auto nun entlang mehrerer Bäume lenkte, bis zu ihrer Rechten ein Parkplatz auftauchte.

„Da ist ein Schild! Via di Villa Madama“, verkündete Juli.

„Sollen wir hier parken?“, fragte Thea.

„Es sind nur noch zwei Minuten“, erklärte Juli.

„Fahr ruhig vor, bis es nicht mehr geht“, erwiderte Wal-Freya.

Eine Mauer säumte die Straße auf der linken Seite. Thea lenkte den Wagen die Anhöhe hinauf, bis ein Tor die Weiterfahrt versperrte. An dieser Stelle wurde die Steinwand durch einen Stabgitterzaun verstärkt. Oberhalb davon befand sich ein abgewinkelter Übersteigschutz, der sich auch am Zaun wiederfand und das Grundstück rechts des Tores von der Außenwelt abschottete. Im Licht zweier Fluter wachten Militärs, ihre Hände ruhten auf den vor der Brust hängenden Maschinenpistolen. Ihnen zur Seite standen zwei weitere Soldaten. Einer von ihnen führte einen Schäferhund an der Leine. Als sich der andere Soldat von seiner Position löste, begann Theas Herz zu klopfen.

„Was machst du?“, fragte Juli verdutzt.

Thea drehte sich um. Die Walküre hatte ein Schnitzmesser in der Hand und bearbeitete einen Stock.

„Nach was sieht es aus? Ich ritze einen Runenstab“, erwiderte Wal-Freya mürrisch.

„Aha“, kommentierte Juli trocken.

Der Soldat blieb neben dem Auto stehen. Thea ließ das Fenster herunter. Der Mann grüßte kurz und checkte die Personen im Wageninneren, ehe er den Hund einmal um das Fahrzeug führte. Ein weiterer Soldat mit einer Stange näherte sich und checkte den Fahrzeugboden mit einem Spiegel.

Juli lehnte sich zu Thea vor und flüsterte: „Ich wäre jetzt lieber in Jötunheim mit einer Horde Riesen eingesperrt.“

Sie antwortete ihrer Freundin mit einem Gedanken: „Sie sind nur vorsichtig. Ich kann mir vorstellen, dass sich die Regierung viele Feinde mit ihrer Unabhängigkeitserklärung verschafft hat.“

„Darauf kannst du einen lassen“, flüsterte Juli. Sie verstummte, als die Walküre sie anstupste und ihr einen bitteren Blick zuwarf.

„Il tuo invito“, sagte der Soldat streng und streckte die Hand aus.

„Wal-Freya?“, fragte Thor.

„Ich brauche nur noch eine Sekunde“, erwiderte die Walküre.

„Na bravo“, grunzte der Donnergott.

„Handle jetzt nicht unüberlegt! Hier sind überall Kameras!“, warnte Thea ihn in der Gedankensprache.

„Uno momento“, sagte Thor, der zu Wal-Freya blickte. Die Walküre bearbeitete den Runenstab hektischer.

„Il tuo invito!“, wiederholte der Mann seine Aufforderung ungehalten. Der Soldat mit der Maschinenpistole regte sich.

Juli zog den Mund schief. „Ich möchte dich ja nicht drängen, aber die werden gleich ungemütlich.“

„Es bedarf starker Zauber, um einen Menschen zu kontrollieren“, erklärte die Walküre. Sie streckte die Hand mit dem Stab aus und sprach einen magischen Befehl, worauf der Soldat entspannte.

„Tutto ok“, erklärte er seinen Kameraden, trat einen Schritt vom Auto zurück und winkte zur Weiterfahrt.

Thea nickte mehrmals, schloss das Fenster und fuhr langsam vor, während die Soldaten das Tor öffneten.

Juli setzte sich auf und beugte sich zu ihrer Freundin vor. „Ich habe es immer gewusst“, frohlockte sie. „Wal-Freya ist ein Jedi!“

Thea lachte, froh über die Unbeschwertheit, die ihre Freundin wie so oft in brenzligen Situationen einbrachte. Noch immer klopfte Thea das Herz bis zum Hals, ihre Hände klebten schweißnass am Lenkrad.

Thor schien ihren Gemütszustand zu teilen, denn er murrte: „Das war verdammt knapp! Wie kommst du darauf, dass wir ohne Einladung hätten passieren dürfen.“

„Wer braucht schon eine Einladung, wenn er zaubern kann?“, erwiderte die Walküre verschnupft.

Juli warf sich im Sitz zurück. „Ich will es mir ja nicht völlig mit dir verderben, aber es wirkte nicht, als sei dieser Zauber lange vorbereitet gewesen.“

„Wie hätte ich ahnen sollen, dass sie gleich den Eingang so streng sichern?“

Thor wandte sich um. „Du dachtest, wir kommen alle auf den Ball, indem du einfach den Wachmann ein bisschen verführst.“

Wal-Freya zuckte herausfordernd mit den Brauen. „So ist es.“

„Der Stabzauber war sicher die bessere Idee“, raunte Juli.

„Zumindest ging es unkompliziert“, erwiderte Wal-Freya.

Vorbei an den Militärs fuhren sie die Straße bis an das Ende einer Baumreihe vor, bis die Villa Madama in ihre Sichtweite rückte. Hier navigierte ein Mann im Smoking Thea in eine kleinere Straße auf der anderen Seite der Baumreihe zurück. Rechter Hand standen allerlei weiße, von Lichterketten erleuchtete Pavillons. Darunter scharten sich Männer und Frauen in Anzügen und Abendgarderobe. In einer Kurve näherte sich ihrem Auto ein weiterer Mann. Thea bremste und ließ das Fenster herunter. Der Mann sprach in einem höflichen Italienisch und trat einen Schritt zurück.

„Er will unser Auto parken“, erklärte Thor.

„Er soll es bloß nicht zu weit wegstellen“, murrte Juli.

Sie stiegen aus und beobachteten, wie der Bedienstete den Maserati rückwärts fuhr und ihn auf die Straße zurücklenkte.

„Ich habe für alle unvorhergesehenen Ereignisse Vala gerufen. Die Pferde sollen sich nahe der Wälder verstecken und sich bereithalten“, erklärte Wal-Freya. Sie knuffte Juli. „Mach dir keine Sorgen. Wenn alles gut geht, werden wir sie nicht brauchen. Wir nutzen das Vertrauen des Mannes nicht aus und bringen sein Auto vor unserer Heimkehr zurück.“

Juli legte die Hände über den Kopf. „Machst du dieses Gedankenlesendings jetzt etwa auch mit mir?“

Wal-Freya lachte. „Nein, liebe Juli. Das wäre mir viel zu uninteressant.“

„Der war böse“, erwiderte Juli schmunzelnd und erntete ein Zwinkern der Walküre.

Kaum betraten sie die Schwelle zum Vorhof der Villa, kam eine Frau mit einem Tablett auf die Gruppe zu und bot ihnen Sekt an. Thor griff zu, doch bevor er in der Lage war, das Glas an den Mund zu setzen, nahm Wal-Freya es ihm aus der Hand.

„Wir sind nicht hier, um uns zu amüsieren“, knirschte sie.

Der Donnergott sah sich um. „Oh, glaube mir, das werde ich ganz sicher nicht.“

Mahnend hob Wal-Freya den Finger. „Wir müssen alle einen klaren Kopf behalten. Du hast es versprochen.“

„Mach dir keine Sorgen. Ich kann das“, beteuerte Thor.

Die Wanin rollte die Augen. „Wenn wir Loki überraschen wollen, teilen wir uns am besten auf. Zusammen sind wir unübersehbar. Juli, du bleibst bei Thor. Achte darauf, dass er keine Dummheiten macht. Du trägst die Verantwortung!“

„Wie? Ich?“, rief Juli.

„Ja, du. Handelt nicht unüberlegt! Falls ihr Loki findet, bete zu deiner Liebesgöttin, ich werde es hören und euch finden! Macht keine Fehler! Eine so günstige Gelegenheit, Loki zu schnappen, bekommen wir nicht mehr. Das muss gelingen. Beginnt hier draußen mit der Suche, Thea und ich gehen hinein.“

„Okidoki“, antwortete Juli und Thor hob zur Bestätigung die Hände.

Wal-Freya und Thea betraten die Loggia. Der Raum war voll mit Menschen und deren Stimmengewirr. Die Gewölbe, mit bunt bemalten Stuckverzierungen ausgeschmückt, lagen ungewöhnlich hoch. An Stehtischen hatten sich gesellige Grüppchen versammelt. Hier und da griff jemand nach einem Getränk, das emsige Servicekräfte pausenlos durch den Raum trugen. Dazu reichten sie Canapés. Auf einem Podest spielte eine Band. Tanzpaare bewegten sich auf dem freien Platz davor. Wachpersonen, erkennbar an den Spiralkabeln, die zu Ohrstöpseln führten, standen aufmerksam an den Wänden und behielten die Anwesenden im Blick. Drei riesige Rundbogenfenster, von weißen Sprossen in mehrere Quadrate unterteilt, gaben die Sicht auf die Außengärten frei. Lichterketten verwandelten Hecken und Mauern in ein goldenes Lichterspiel. Im Gewühl der Menschen würde es schwer werden, den Feuergott zu entdecken.

„Wir trennen uns“, wisperte Wal-Freya. „So fallen wir weniger auf. Nimm du dir die anderen Räume vor. Ich schaue hier und in den Gärten nach. Sollte dich jemand ansprechen, sag ihm, du suchst die Toilette.“

„Ich kann kein Italienisch“, erinnerte Thea.

„Sto solo cercando il bagno. Wiederhole das.“

Angestrengt sprach Thea die Worte nach. Theas Fylgja legte fragend den Kopf schief.

Wal-Freya presste die Lippen zusammen. „Nun ja, es wird schon klappen. Falls du Loki findest, handle nicht alleine! Ich fühle deine Wut, die du ihm gegenüber hegst. Du hast allen Grund, ihn zu hassen. Aber versuche besonnen zu handeln, so wie du es immer getan hast. Rufe mich und warte, hörst du? Versprich es mir!“

„Ich verspreche es“, antwortete Thea schnell.

Wal-Freya nickte. „Gut. Ich verlasse mich auf dich.“

„Du kannst auf mich zählen“, versprach Thea. Sie beobachtete, wie die Walküre zwischen einer Gruppe Menschen verschwand und suchte sich dann ebenso einen Weg durch die Halle. Ein Mann stieß sie im Vorbeigehen an und schob ihr dabei das Handtäschchen von der Schulter. Er entschuldigte sich und sagte etwas zu ihr. Wie von Wal-Freya kurz zuvor eingebläut sprach Thea ihren Satz und hob die Hand zum Abschied. Der Mann gab sich zufrieden, wandte sich um und führte sein Gespräch mit ein paar anderen Männern fort. Wo immer Thea auftauchte, waren die Räume mit Menschen gefüllt. Eine Wendeltreppe, paarweise von weißen Säulen gestützt, bog sich in den oberen Stock. Der Anblick erinnerte an ein gewundenes Schneckenhaus und faszinierte Thea. Einige Gäste kamen gerade die Stufen herunter. Sie betrachteten die junge Frau im Vorbeigehen, schenkten ihr aber keine weitere Aufmerksamkeit. Ungehindert gelangte sie in die anderen Zimmer. In einem Raum mit hölzerner Deckenvertäfelung hockten vier Männer bei einem Drink um einen Kamin. In einem anderen hatten sich mehrere Personen auf einer Sitzgruppe niedergelassen. Nirgendwo war der Feuergott oder die Frau zu sehen, als die er sich vermutlich ausgab. Vielleicht hatten sie sich geirrt und Loki war längst nicht mehr hier.

„Er ist nirgendwo zu entdecken“, schickte sie Wal-Freya einen Gedanken.

„Ich habe ihn auch nicht gefunden. Dafür ist der Präsident gerade auf die Bühne getreten. Anscheinend möchte er eine Rede halten. Vielleicht passiert es jetzt.“

„Ich komme.“

Plötzlich heulte die Fylgja warnend auf. Ein hinter ihr ertönendes Schnalzen, ließ Thea herumfahren. Sie ahnte, wer sich ihr genähert hatte, noch ehe sie ihn erblickte.

Die Midgard-Saga - Asgard

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