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Kapitel 3

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Selena Connor sah nicht wie eine etwa fünfzigjährige, grauhaarige Professorin aus. Es war aber nicht ihr Aussehen, welches Nicks Aufmerksamkeit auf sich zog, auch wenn das bereits genügt hätte. Es war die Art, wie sie den Raum betrat, kontrolliert, voller Energie, mit der Anmut einer Athletin. Sie war in ihren Dreißigern. Ihr Haar war kurz und rötlich-blond, das Gesicht sonnengebräunt. Sie hatte hohe Wangenknochen und violette Augen. Über ihrer Lippe befand sich ein kleines Muttermal.

Sie trug weder einen schlabbrigen Anzug, noch eine große Brille, sondern eine glatte Seidenjacke und Hose, sowie eine blasse Bluse, die das Violett ihrer Augen aufgriff. In der linken Hand trug sie eine Computertasche aus schwarzem Leder.

Nick stand auf und Harker stellte ihn vor. Sie setzten sich.

»Was haben Sie da?«, fragte Harker.

»Den Laptop meines Onkels. Er hat ihn vorher nie bei mir gelassen. Ich habe ihn mir nicht angesehen, aber ich dachte, Sie würden das eventuell wollen.« Ihre Stimme war beherrscht, auf ihrem Gesicht zeichneten sich Spuren von Anspannung ab.

Hat sich im Griff, dachte Nick.

»Doktor Connor …«, begann Elizabeth Harker.

»Bitte nennen Sie mich Selena.«

»Selena. Die Leute, die Ihren Onkel getötet haben, waren auf der Suche nach einem Buch, das er in Bhutan aufgetrieben hat. Wir müssen wissen, worum es darin geht.«

Selena warf Harker einen fragenden Blick zu. Wieso wusste sie von dem Buch?

»Es ist nicht mehr da. Ich weiß nicht, wo es ist. Ich habe zwar nicht alles gelesen, aber es ist die Kopie eines uralten Textes über Unsterblichkeit, überwiegend in Sanskrit verfasst. Bücher dieser Art sind selten, aber dieses ist einzigartig. Was sich darin befindet, ist eigentlich unmöglich.«

»Unmöglich?« Harker tippte sich mit dem Stift gegen ihre Lippe.

»Ein Teil davon wurde in Linearschrift A verfasst. Wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, ich würde es niemals glauben. Linearschrift A ist eine von zwei Schriftsprachen des minoischen Imperiums so etwa 1600 vor unserer Zeit. Es existieren keine in Linearschrift A verfassten Bücher und es sollte auch absolut nichts Minoisches in der Himalaja-Region zu finden sein.«

»Sind Sie sicher, dass das Buch nicht mehr da ist?«

»Mein Onkel bewahrte es auf seinem Schreibtisch auf, aber dort ist es nun nicht mehr. Er wollte es auf seinen Computer scannen.«

»Also könnte es auf dem Laptop sein, welchen Sie mitgebracht haben.«

»Könnte sein.«

Harker begann, mit ihrem Stift auf den Tisch zu tippen. »Das Geld von den Konten Ihres Onkels ging nach China.«

»China? Ein Teil des Buches befasst sich mit dem ersten chinesischen Kaiser, Qin Huang.«

»Kaiser Huang?«, fragte Nick. »Der mit den Soldaten und den Pferden?«

»Ja. Huang platzierte eine Armee von Terrakotta-Soldaten und Pferden vor seinem Grab. Chinesische Bauern haben es '74 gefunden. Es ist eine große Touristenattraktion.« Selena strich sich ein paar Haare aus der Stirn. »Das Buch beschrieb Huangs Suche nach Unsterblichkeit. Er war davon besessen. Außerdem wiederholte es alte Geschichten von Schätzen in seinem Grab. Jeder weiß, wo es ist, aber es wurde nie ausgegraben.«

Harker berichtete Selena von dem abgefangenen Gespräch.

»Dann wissen Sie also, wer das getan hat! Können Sie ihn nicht verhaften, diesen … Colonel, oder was auch immer er sein mag?«

»Wir haben keine stichhaltigen Beweise. Außerdem besitzt er diplomatische Immunität.«

Nicks Ohr begann zu jucken. Seit seiner Kindheit juckte es, wenn Dinge kompliziert wurden, ein persönliches Frühwarnsystem. Manchmal war es allerdings auch einfach nur ein Juckreiz. Er kratzte sich.

Harker legte ihren Stift aus der Hand. »Vielleicht ist ja etwas auf dem Laptop, schauen wir doch mal nach.«

Selena reichte ihr die Tasche. Harker packte den Computer aus und schloss ihn an einem Port an ihrem Schreibtisch an. Das Display des Monitors an der Wand schaltete sich ein. Der Bildschirm war mit Ordner-Icons gefüllt.

»Viele Dateien.« Sie klickte auf eine mit dem Label ›Peking‹. Die Datei war eine Liste von Kontonummern in der chinesischen Hauptstadt.

»Das könnte helfen, das Geld zu verfolgen. Ich sehe nichts über ein Buch.«

Selena sagte: »Sieht aus wie Finanzdaten, beschriftet nach Lage, wie die Bahamas oder die Kaimaninseln, oder nach Branche und Stadt. Da ist eine Datei ›Li Shan‹. Das ist die Grabstätte des Kaisers. Öffnen Sie die.«

Die Datei war ein Angebotsentwurf für die Ausgrabung der Grabkammer des ersten Kaisers mit Zeitplan und detaillierter Kostenauflistung. Über das Buch war nichts darin zu finden.

»Es gibt eine Datei mit meinem Namen«, sagte Selena erstaunt.

»Schauen wir sie uns mal an.«

Es war ein Brief von William Connor an seine Nichte, geschrieben eine Woche vor seinem Tod.

Meine liebste Selena, du weißt, wie ich Klischees hasse. Bitte verzeih mir, dass ich nun doch auf eines zurückgreife. Um es einfach zu machen: Solltest du diesen Brief lesen, dann ist mir etwas zugestoßen. Ich erwäge dies nicht mit Leichtigkeit, meine Liebe, aber das Leben zwingt uns manchmal unangenehme Eventualitäten auf. Ich hinterlasse diese Nachricht und meinen Computer bei dir in der Hoffnung, dass du sie nie lesen wirst.

Ich glaube, dass ich von Agenten der chinesischen Regierung beobachtet werde, wegen des Buches, das ich in Bhutan gefunden habe. Meine Übersetzung ist unvollständig, aber es scheint historische Unstimmigkeiten bezüglich des Todes und der Beerdigung des ersten Kaisers zu geben, und diese stehen in Zusammenhang mit einem vermeintlichen Elixier des ewigen Lebens.

Ich habe ein Angebot für eine mögliche Ausgrabung der Grabstätte des ersten Kaisers in Li Shan vorbereitet. Vor einer Woche habe ich mich mit einem chinesischen Konsulatsbeamten Namens Wu Chen getroffen, um das Erlangen einer Erlaubnis zu besprechen, solch ein wichtiges Projekt zu finanzieren und daran teilzuhaben. Wu bot mir an, für mich den Kontakt mit den richtigen Leuten in Peking herzustellen.

Im Verlauf unseres Treffens sprach ich über das Buch. Nicht lange danach fiel mir ein großer, recht bedrohlich aussehender chinesischer Mann auf, der mich in einem meiner Stammrestaurants beobachtete. Dann bemerkte ich denselben Mann auch an anderen Orten, zu anderen Zeiten. Vielleicht hat das nichts mit Wu zu tun, aber das scheint mir ein zu großer Zufall zu sein.

Ich fühle mich bedroht. Daher schreibe ich dir diesen Brief, auch wenn es sich dabei möglicherweise nur um das törichte Verhalten eines alten Mannes handelt.

Ich habe das Buch an einem sicheren Ort verstaut. Sollte es einen Hinweis auf das Geheimnis der Unsterblichkeit oder den Schlüssel zu den Schätzen des Kaisers beinhalten, dann ist es gefährlich, es zu besitzen.

Erinnerst du dich an unsere gemeinsamen Sommer an der alten Mine, als du ein Kind warst? Das geheime Versteck, wo du deine kostbarsten Besitztümer verborgen hast? Dort findest du das Buch.

Meine liebe Selena, solltest du dies tatsächlich lesen, bitte sei dir gewiss, du warst immer ein Quell der Freude und des Vergnügens für diesen, deinen alten Onkel.

Mit all meiner Liebe, Onkel William

Sie lasen den Brief erneut. Selena saß starr auf ihrem Stuhl. Nick beobachtete sie. Es war eine alte Angewohnheit. Beobachten. Es verriet ihm Dinge. In diesem Moment verriet es ihm, dass Selena sehr angespannt war. Ihrem Onkel sehr nah, dachte er, aber sie ließ niemanden sehen, wie sie sich wirklich fühlte.

Er wusste, wie das war.

»Wissen Sie, wovon er da gesprochen hat? Der Ort, an dem er das Buch versteckte?«, fragte Harker.

Selenas Stimme war kontrolliert, neutral. »Meine Familie hat 1850 in Kalifornien Gold gefunden. Es gibt ein Haus an der alten Mine. Vor dem Haus steht ein Erzwagen voller Steine. Als Kind habe ich Dinge unter den Steinen versteckt. Da muss er das Buch verstaut haben. Ich bin überrascht, dass er es nicht in eines seiner Schließfächer getan hat.«

»Es sind keine Schlüssel für Schließfächer aufgetaucht.« Harker drehte ihren Stift zwischen den Fingern.

»Er hatte mindesten drei.«

»Das FBI hat sein Büro und seine Wohnung durchsucht. Wir werden dort mal nachfragen.«

»Wenn sie die Schlüssel haben, dann wissen sie, was in den Schließfächern ist.« Nick schaute Harker an. »Ich werde Jordan fragen, wenn ich mit ihm spreche.«

»Tun Sie das. Danach möchte ich, dass Sie mit Doktor Connor nach Kalifornien gehen und das Buch holen. Ist das in Ordnung für Sie, Selena?«

»Alles, was irgendwie hilft.«

»Wozu wollen Sie mich dabeihaben?«, fragte Nick.

»Die haben das Buch nicht bekommen. Wenn sie glauben, Selena hat es, könnten sie versuchen, sich an ihr zu vergreifen. Ich möchte, dass Sie ein Auge auf sie haben.« Harker schaute auf ihre Uhr und wendete sich an Selena. »Es ist zu spät, um heute noch einen Flug zu bekommen. Wir werden einen für morgen buchen. Welcher Flughafen, Selena?«

»Sacramento. Die Mine ist nur eine Stunde von dort entfernt.«

»Wir werden für ein Auto sorgen.«

»Wir können meins nehmen. Es ist bereits dort«, sagte Nick. Er war aus Sacramento abgeflogen. Sein Truck stand auf dem Parkplatz des Flughafens.

»Gut. Setzen Sie sich mit Jordan in Verbindung, bevor Sie gehen. Rufen Sie mich an, wenn Sie das Buch gefunden haben. Wir durchsuchen inzwischen den Rest der Dateien.«

»Was soll ich Jordan sagen?«

Harker tippte mit ihrem Stift auf den Tisch. »Berichten Sie ihm von den Konten. Das Buch behalten wir vorerst für uns. Es gibt keinen Grund für das FBI, davon wissen zu müssen.«

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