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4Das Waisenkind

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Die mächtigen weißen Hauben der Vinzentinerinnen mit ihrer Spitze über der Stirn und ihren wippenden Flügeln über den Schultern sind die ersten Zeichen von Religion, die ich in Erinnerung habe. Ich erlebte sie im Waisenhaus in Karthaus, in das ich mit etwa 5 Jahren eingewiesen wurde. Es war das letzte Kriegsjahr. Mein Vater war im Krieg und meine Mutter arbeitete in Karthaus im Krankenhaus, um unseren Lebensunterhalt zu verdienen. Dorthin waren wir evakuiert worden, als Danzig bombardiert wurde und der Einmarsch der Russen bevorstand. Da meine Mutter uns drei Kinder nicht betreuen konnte, gab sie uns in die Obhut der Schwestern, die in Karthaus ein Waisen­haus betreuten. Hier lebten wir mit polnischen und russischen Kindern zusammen, die der Krieg von ihren Eltern getrennt hatte oder sie zu Waisen gemacht hatte. Die Schwestern behandelten uns streng, aber gütig. Die Schwester, die meine Gruppe betreute, hatte ich gern. An eine nähere Bindung oder gar Zärtlichkeiten von den Schwestern kann ich mich jedoch nicht erinnern.

Eigenartig, dass ich keine Erinnerung an etwas Religiöses aus der Zeit vor dem Waisenhaus habe, das sich im Elternhaus ereignet hätte. Denn meine Eltern waren praktizierende Katholiken, hatten mit uns gebetet und waren mit uns in die Kirche gegangen. Beide Eltern kamen aus katholischen Elternhäusern, waren aktiv in der Gemeindejugend, wo sie sich auch kennen gelernt hatten. Mein Vater war lange Zeit bis in die Jungmannszeit Ministrant, pflegte Umgang mit den Geistlichen der Pfarrei, von denen einer auch mein Pate wurde und mir den Vornamen vererbte. Er hatte vor der Ehe mit meiner Mutter daran gedacht, Priester zu werden. Dass die religiöse Einstellung meiner Eltern aber doch einen bestimmenden Einfluss auf mich hatte, zeigen folgende zwei Begebenheiten: Als 3- oder 4-jähriger lag ich mit Diphtherie im Krankenhaus. In meinem Gitterbettchen spielte ich manchmal mit meinem Glied. Ich erinnere mich noch daran, wie ich das Gefühl hatte, dabei etwas Falsches zu tun. Auch die zweite Begebenheit hat etwas mit Sexualität zu tun. Bevor ich ins Waisen­haus kam, wohnten wir eine Zeitlang bei einem Bauern in der Nähe von Karthaus. Hier musste ich mit einem Mädchen, das etwas älter war als ich, öfter die Gänse hüten. Dabei trieben wir sie auf eine Wiese, die abseits lag und wo uns niemand sah. Wir vertrieben uns die Zeit, indem wir uns gegenseitig unsere Genitalien untersuchten und sie mit Grashalmen kitzelten. Der Anblick der Scheide des Mädchens ist mir bis heute in Erinnerung geblieben. Ich empfand die Spiele als sehr angenehm und die sexuellen Empfindungen dabei haben mich das ganze Leben begleitet. Gleich­zeitig hatte ich aber auch hier das Gefühl, etwas Unerlaubtes zu tun. Denn am Sonntag, dem heiligen Tag, unterließen wir diese Spielchen. Offensichtlich hatten mir meine Eltern, die ihr Lebtag sehr prüde waren, schon sehr früh sexuelle Einschränkungen auferlegt, ohne dass ich mich daran erinnere. -

In Karthaus besuchte ich die ersten beiden Schuljahre der polnischen Schule. Hier ist mir in Erinnerung geblieben, dass die Lehrerin uns die Passionsgeschichte Jesu erzählte, von der ich sehr beeindruckt war. Ich konnte es jedoch nicht verstehen, dass Jesus vor seinem Kreuzestod geweint haben soll. Für mich war das kein männliches Verhalten und ich fragte mich, ob Jesus wohl eine Frau gewesen war. Wie sehr mich die Erzählung von seinem Kreuzestod beeindruckt hat, zeigt folgende Begebenheit. Als ich einmal erkrankte und Fieberträume hatte, erkannte ich in dem Fenster­kreuz, das sich gegen den dämmrigen Himmel abzeichnete, das Kreuz Jesu. Zu seinen Füßen ringelten sich lauter Schlangen und krochen auf mich zu. Ich hatte furchtbare Angst, dass die Schlangen mich erreichen könnten.

In der Weihnachtszeit übten die Schwestern einmal mit uns ein Krippenspiel ein. Ich hatte dabei einen Soldaten am Hofe König Herodes zu spielen. Wenn die Hl. 3 Könige an unserem Spalier vorbeizogen, sollten wir vor ihnen eine tiefe Verbeugung machen und dabei unser Holzschwert parallel zum Oberkörper senken. Das wollte mir aber nicht gelingen, denn das Schwert war viel zu schwere für mich und plumpste zur Erde, sobald ich es etwas schräg hielt. Die Folge war, dass ich die Rolle nicht spielen konnte, worüber ich sehr traurig war. Das Krippenspiel muss mich dennoch sehr angeregt haben. Denn ich weiß noch, dass ich neben Panzern sehr gerne Krippenszenen gemalt und den Stall von Bethlehem gebastelt habe, sein Dach mit Watte belegt und die Krippenfiguren aus Pappe ausgeschnitten hatte. Daran hatte ich sehr viel Freude.- Ich erinnere mich auch an ein Theaterstück im Heim, bei dem Petrus mit Rauschbart aus dem Himmel hervortrat und in dem der Nikolaus uns aus einem großen Sack Päckchen an uns verteilte, die uns die amerikanische Organisation Care geschenkt hatte: In meinem Päckchen hatte ich - nebenbei bemerkt - bunte Glaskugeln, eine Dose Chesterkäse und Zahnpastapulver.

Ich erinnere mich, dass das Haus eine Kapelle hatte. Ich habe noch ein Bild in mir, wie wir sonntags in diese Kapelle geführt wurden. Nachdem wir uns sonntäglich gekleidet im Schlafsaal versammelt hatten. stellten wir uns in Zweierreihen vor der Treppe auf, die zur Tür in die Kapelle führte. Eine Schwester begleitete uns dann nach oben. An den Gottesdienst selber habe ich keine Erinnerung.

Vom gehorsamen Kirchenschaf zum selbstbestimmten Katholiken

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