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6Der Missionsschüler

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Ich bin gerne in die Grundschule gegangen. Der Unterricht bei meinem Lehrer Herrn Böker machte mir Spaß. Ich war an allem interessiert, was er uns beibrachte. Besonders gerne hatte ich Heimat­kunde, in der Herr Böker uns die Geschichte Braunschweigs sehr anschaulich vor Augen führte. Ich erinnere mich an den Nachbau der Schulumgebung im Sandkasten, an Unterrichtsgänge durch die Stadt zu den historischen Sehenswürdigkeiten und an die Erzählungen von Herzog Heinrich dem Löwen. Meine Leistungen in den verschiedenen Fächern waren gut, so dass es selbstverständlich war, dass ich zur Prüfung am Gymnasium angemeldet wurde. Da aber von den 250 angemeldeten Schülern nur 50 aufgenommen werden konnten, musste nach Leistung ausgewählt werden. Leider gehörte ich nicht zu den 50 Besten. Die Zurücksetzung empfand ich als schmerzhaft. Sie bedeutete, dass ich weiter zur Volksschule gehen und einen Lehrberuf ergreifen würde. Die Durchlässigkeit des heutigen Schulsystems gab es damals noch nicht.

In der 5. Klasse passierte es dann, dass eines Tages der „Stadt Gottes“ -Werber Br. Hildebert von den Steyler Missionaren nach Braunschweig kam und sich beim Probst von Ägidien erkundigte, ob es Jungen in der Pfarrei gäbe, die an einem Besuch der Missionsschule in Bad Driburg interessiert seien. Er wurde an die Familie Wiebe verwiesen und tauchte eines Tages bei uns auf. Er bot uns an, mich in die Schule aufzunehmen, wenn ich bereit wäre, eines Tages als Priester in den Orden der Steyler Missionare einzutreten und als Missionar in die Mission zu gehen. Die Vorstellung, nun doch das Gymnasium besuchen zu können, war verlockend. Auch das Abenteuerleben als Missionar reizte mich. Und so kam es, dass meine Eltern mit mir, dem 12-jährigen, in einem DKW, den ein Bekannter fuhr, nach Bad Driburg reisten, und mich im Internat ablieferten. Hier habe ich die nächsten 7 Jahre meines Lebens verbracht.

Das Missionshaus der Steyler Patres St. Xaver in dem Zustand meines Eintritts in die Schule 1952.

Das 1.‏ Viertel Jahr war eine Schreckenszeit. Ich war voller Heimweh, weg von der Geborgenheit der Familie, einsam in der Kälte eines riesigen Systems, in dem es keine Frauen und keine Mütterlichkeit gab, und ich mich unter 32 Klassenkameraden verlassen fühlte. 640 Schüler (im Stil des Regelbüchleins, das unser Verhalten regeln sollte, „ Zöglinge“ genannt), besuchten damals die Missionsschule und lebten im Internat. Dementsprechend war alles riesig und fremd, das Gebäude mit seinen langen Gängen und aneinander gereihten Klassenräumen und seinem ausgedehnten Gelände, die Gemeinschaft der Patres und Brüder, die uns zwar versorgten, aber doch unnahbar blieben, die Masse der Schüler. Wir schliefen zu 40 in riesigen Schlafsälen, die im Winter so kalt waren, dass das Wasser in den Waschschüsseln gefror. Wir hielten uns in unseren Klassenräumen auf, die uns vormittags als Schulraum, nachmittags als Studierraum und in den kurzen Freizeiten als Wohnraum dienten. Es herrschte ein sachlicher Ton zwischen den Schülern und zu den Lehrern und Präfekten ohne Herzlichkeit.

Das Photo zeigt die Sexta bei der Rast auf unserem 1. Ausflug. In der Mitte sitzt unser Unterpräfekt P. Hoff, dessen 1. Klasse wir waren.

Betreut wurden wir von einem Präfekten und zwei Unterpräfekten, die für die Unterstufe und die Oberstufe zuständig waren. Mit allen Fragen, die zu unserem Internatsleben gehörten, konnten wir uns an sie wenden. Ich weiß noch, dass ich mich in meiner Not einmal weinend zu meinem Unterpräfekten, Pater Hoff, ging, der mir auf dem langen Gang entgegenkam und ihn anflehte: „Pater Hoff, bitte, lassen Sie mich wieder nach Hause fahren. Ich bin nicht berufen zum Priestertum.“ In der Hoffnung bald wieder zurückkehren zu können, mochte ich meine Unterwäsche nicht wechseln. Ich könnte sie ja nicht rechtzeitig von der Wäsche zurückkommen. Von Ostern bis Pfingsten dauerte dieser Trauerzustand. Ich schrieb mehrere Briefe nach Hause, in denen ich darum bat, mich doch wieder zurückzuholen. Schließlich entschloss sich mein Vater, meiner Bitte nachzukommen und mich abzuholen. In einem ernsten Gespräch zeigte er mir die Konsequenzen auf, die sich für mich ergeben würden,wenn ich wieder zu Hause wäre.

Hier bin ich mit meinem Vater auf die Iburg gewandert bei seinem ersten Besuch Pfingsten 1952. Dieser Besuch hat Weichen für mein Leben gestellt.

"Du wirst kein Gymnasium besuchen und kein Abitur machen, du wirst eine Lehre in einem Beruf machen und dann genauso ein Leben wie ich führen.“ Ich weiß nicht, ob es diese Argumente oder die beruhigende Wirkung seiner Anwesenheit waren, die in mir die Kraft weckte, mich für das Dableiben zu entscheiden. Ab dem Tag seiner Abreise war das Heimweh zwar nicht verschwunden - es begleitete mich die ganzen 7 Jahre - aber es war erträglicher geworden.

Unser Tagesablauf war streng geregelt:

5.30Uhr wecken und waschen

6 Uhr hl. Messe in der Kirche

7 Uhr Frühstück

7.30 Uhr Freigang draußen

7.45 Uhr Unterrichtsvorbereitung im Klassenraum

8.00 Uhr Unterricht im Klassenraum

13.00 Uhr Partikularexamen in der Kirche

13.15 Uhr Mittagessen im Speisesaal, mit Vorlesung aus einem frommen Buch

14.00 Uhr Freizeit draußen

15.30 Uhr Silentium, freies Studium im Klassenraum

16.00 Uhr Kaffee im Speisesaal

17.00 Uhr Silentium, Studium im Klassenraum

19.00 Uhr Abendessen im Speisesaal

19.30 Uhr freie Beschäftigung draußen oder drinnen

20.30 Uhr Abendgebet in der Kirche

danach Nachtruhe

An manchen Tagen wurde dieser Rhythmus etwas unterbrochen. So hatten wir am Mittwochnach­mittag kein Studium und konnten in Gruppen das Missionsgelände verlassen, um einen Ausflug in die Umgebung zu machen. Am Samstag war nachmittags Duschtag, wo jede Klasse zu einer bestimmten Zeit duschen konnte. Das Studium begann darum erst um 17.30 Uhr. Der Sonntag zeichnete sich dadurch aus, dass wir länger schlafen konnten und besseres Essen erhielten. Um 7.30 gab es Frühstück. Eine halbe Stunde vor dem Hochamt um 10.00 Uhr hielten wir im Klassenraum eine geistliche Lesung. Es gab eine Bücherei, aus der wir uns geistliche Lektüre ausleihen konnten. Ich las gerne Beschreibungen von Missionaren über ihre Arbeit im Dschungel oder in exotischen Ländern. Später lieh ich mir ein Werk über das Leben der Kleinen Hl. Theresia aus. Nach dem Hoch­amt hatten wir Freizeit bis zum Partikularexamen Das Partikular­examen war eine Besinnung in der Kapelle, in der wir uns Rechenschaft ablegen sollten über unsere Verhalten und unsere rechte Gesinnung am Vormittag. Danach folgte das Mittagessen. Auch der Nachmittag stand zur freien Verfügung. Um 15.30 Uhr gab es eine Andacht in der Kirche bis zum Kaffee um 16.00. Um 18.00 versammelten wir uns wieder im Klassenraum zu einem kurzen Studium zur Vorbereitung des kommenden Schultages.

Wie die Zeit so wurde auch unser Verhalten streng reglementiert. Ein Regelbüchlein, das jeder Schüler besaß, legte genau fest, wie und mit welcher inneren Motivation man sich in bestimmten Fällen zu verhalten hatte. Als Beispiel seien einige Sätze aus der Anweisung über Wandern und Spaziergänge zitiert.: „An den gemeinsamen Spaziergängen und Wanderungen nehmen alle teil…. Bei jedem Spaziergang trägt einer die Verantwortung (…) Trenne dich beim Wandern nicht von der Gemeinschaft. Die Benutzung von Verkehrsmitteln bedarf der vorherigen Erlaubnis Ebenso suche auch nicht ohne Erlaubnis Privathäuser, Geschäfte oder Gaststätten auf. Im Geleitwort zu diesem Büchlein hieß es: “Mein lieber Freund! Dieses Büchlein will dir sagen, wie Du Dein Leben als Missions­schüler gestalten sollst. Die Anweisungen, die hier gegeben werden, sind nur Rahmen und Plan. Sie warten auf die Formung durch dein Leben. Je mehr du in ihren Geist eindringst, umso sicherer bist du auf dem Wege zu einem reifen Menschen, zu einem guten Priester und Missionar in der Gesellschaft des göttlichen Wortes.

Schon aus diesen wenigen Worten kann abgelesen werden, worauf es ankam. Wir sollten durch das Leben im Missionshaus auf unsere künftige Tätigkeit als Missionar ausgerichtet werden. Der Orden brauchte Menschen, die ihre Aufgabe als Dienst für Gott ansahen, sich dieser Aufgabe ganz hingaben und die unter Hintanstellen eigener Wünsche dem Orden Gehorsam schworen. Ich hab mich diesem Ziel als Kind ganz unterworfen.

Zurück zum Alltag im Missionshaus. Für meine religiöse Entwicklung waren die Jahre dort nicht revolutionierend. Ich lebte das, was ich im Elternhaus gelernt hatte, nur viel intensiver. Die religiösen Übungen waren verstärkt, wie der Tagesablauf ausweist. Schon das Wecken begann mit einem religiösen Spruch: „Omnia ad majorem dei gloriam“ (Alles zur größeren Ehre Gottes!) Sogar das Studium wurde alle viertel Stunde durch das Gebet „O mi deus credo in te…(O mein Gott ich glaube an dich...)“ unterbrochen. Der Gedanke an Gott gehörte zum Alltag. Das Partikularexamen in der Mitte des Tages diente der Gewissenserforschung, wie ich den Vormittag mit Gott gelebt hatte. Die höchste Steigerung der religiösen Intensität ergab sich in den Exerzitien, die in den drei Tagen nach der Ankunft aus den Sommerferien im Schweigen stattfanden. Die Vorträge sollten uns von der Erfahrung der Welt abwenden und wieder auf das Leben mit Gott im Kloster ausrichten. In dem sog. Höllenvortrag wurden wir durch die Vertiefung in das Leiden Jesu am Kreuz auf unsere große Schuld hingewiesen, die durch seinen Kreuzestod gesühnt wurde. Daran schloss ich die Beichte an. Ich erinnere mich noch, wie ich mich einmal unter dem Eindruck dieser Predigt der Sünde der Unkeuschheit anklagte, weil ich mit dem Penis den Harnstrahl auf Fliegen auf der Urinrinne und der Wand davor weg scheuchte. Solch seltsame Blüten trieb die religiöse Erziehung bei mir.

Die Prüderie und Skrupelhaftigkeit entfaltete sich dann besonders in der Zeit der Pubertät, als die Sexualität sich entfaltete, die sexuelle Fantasie sich regte und das Glied mit Versteifung darauf reagierte. In einer hl. Messe stellte ich mir zwei Flugzeuge vor, von denen eines das andere in der Luft betankte. Das empfand ich als sexuellen Akt, der mich erregte. Das durfte aber nach meiner Vorstellung nicht sein. Ich empfand es deshalb als sündhaft, mich diesem Gedanken hingegeben zu haben. Oft hatte ich wegen solcher und ähnlicher Vorstellungen das Gefühl, schwer gesündigt zu haben. Von dieser Last musste ich mich befreien. Das konnte ich bei P. Grenz, einem uralten Geistlichen. Der war bereit, noch schnell vor der Messe am Morgen einem reuigen Sünder die Beichte abzunehmen. Wie oft bin ich in meiner Skrupelhaftigkeit vor dem Betreten der Kapelle in sein Zimmer geschlüpft, um mich von meiner „schweren Sünde“ zu befreien.

Um die „bösen“ sexuellen Gedanken zu bekämpfen, wollte ich mich körperlich abhärten. Mit meinen Klassenkameraden rannte ich abends im Winter barfuß im Schnee um den Herz-Jesu-Hügel. Für meine Klassenkameraden wird das eine reine Mutprobe gewesen sein, für mich jedoch bedeutete es darüber hinaus eine Ertüchtigung im Kampf um die Keuschheit. Willentlich habe ich nie onaniert. Denn Selbstbefriedigung galt damals als schwere Sünde. Ich war überzeugt, wenn ich in diesem Zustand sterben würde, für immer der Hölle verfallen zu sein. Das wollte ich nicht riskieren.

Die Feier der Liturgie zu den verschiedenen Jahreszeiten mit ihren Festen hat meine Religiosität sicher sehr geprägt. Ostern wurde mit der Gründonnerstagsliturgie eingeleitet, in der der Altar entkleidet wurde und die Anbetung des Allerheiligsten während der Nacht stattfand. Der Karfreitag war für mich ein sehr unangenehmer, finsterer Tag. Wir fasteten, schwiegen und hörten Vorträge. Die Karfreitagsliturgie wurde sehr lange ausgedehnt. Wenn dann am Samstag in der Kirche das weiße Laken von den Kreuzbalken herabhing, dann war endlich Ruhe mit der Trauerfeierei, die ich eigentlich nicht nachvollziehen konnte, und es konnte Ostern werden. Anfangs mussten wir die Oster- und Weihnachtstage noch im Missionshaus verbringen. So war die liturgische Freudenfeier gespeist von der Freude: Morgen geht es endlich nach Hause. Die Liturgie an Feiertagen war sehr aufwendig. Die Priester am Altar feierten das Hochamt mit viel Weihrauch und in kostbaren goldenen Gewändern. Der Choralchor, in dem ich als Jugendlicher später mitsang, intonierte die lateinischen gregorianischen Choräle. Der Kirchenchor sang eine mehrstimmige Messe von berühmten Komponisten. Die Orgel brauste mit den ungewöhnlichsten Registern. Es war feierlich!

Nach Ostern gab es dann bald die Bittprozessionen, bei denen die ganze Schülerschaft morgens in langer Prozession durch das Gartengelände zog und die Fürbittlitaneien sang. Oft war es noch so kalt, dass ich in meinen kurzen Hosen bitterlich fror.

Für die Gestaltung des Fronleichnamsfestes schwärmten wir in den Tagen vor dem Fest klassenweise in die Wiesen in der Umgebung des Misssionshauses aus und sammelten eimerweise Blüten. Jede Klasse bekam einen Wegabschnitt im Garten zugeteilt, den sie für die Prozession eigenverantwortlich mit Blumenteppichen schmücken musste. Es herrschte ein kleiner Wettbewerb unter den Schülern, welche Klasse ihren Abschnitt am dekorativsten gestaltete. Sehr beliebt war die Gestaltung des Abschnittes mit religiösen Motiven wie Herz Jesu, Auge Gottes, Kelch mit Hostie, Marien- und Jesusinitialen. In den höheren Klassen hatten wir die Aufgabe, die Altäre nach frei gewählten Motiven zu gestalten. Da ich malerisch begabt war, bekam ich die Aufgabe, dreimal den Entwurf für einen Altar zu gestalten. Ein Altar war ein Heilig-Geist-Altar. Er stellte in den Farben gelb und rot eine Taube, die vom Himmel zu Erde flog dar. Wir fragten unseren Geschichtslehrer, wie er den Altar fand. Er lobte ihn und hob die Symbolik des Falls hervor, was mich mächtig stolz machte. Ein anderer Altar war zu Ehren der Eucharistie entworfen.

Nach meiner Vorlage hatten meine Mitschüler den Scherenschnitt der zwei Hände, die einen Kelch heben, aus schwarzem Karton ausgeschnitten und auf die Hintergrundleinwand geheftet.

Der dritte Altar bestand aus zwei mit Marmorpapier dekorierten Stelen. Welches Motiv da im Vordergrund stand habe ich leider vergessen.

Die Marienmonate Mai und Oktober wurden durch besondere Andachten hervorgehoben, in denen wir den Rosenkranz beteten. Oft feierten wir sie an der Lourdes-Grotte im Garten. Gerne erinnere ich mich an die schmachtende Melodie des „Über die Berge schallt“, die wir dann sangen.

Zu Allerseelen konnten wir den Portiunkula-Ablass gewinnen. Wenn man zur Beichte und zur Kommunion gegangen war, konnte man bei jedem neuen Eintritt in die Kirche mit einem bestimmten Gebet für einen Verstorbenen einen vollkommenen Ablass erbitten. Davon habe ich sehr unkritisch als Kind eifrig Gebrauch gemacht.

Jede Klasse hatte einmal in der Oberstufe die Nikolausfeier zu gestalten. Unsere Klasse hatte sich dazu eine kleine Szene ausgedacht, in der aus irgendeinem Grunde eine Rakete abgefeuert werden sollte, bei der der Start dann aber fehl lief. Der Bischof Nikolaus in Gestalt meines Freundes Hartmut erschien zuerst in schwarzem Talar mit roten Biesen, und kleidete sich dann in den üblichen Ornat mit Chormantel, Mitra und Stab. Ich spielte einen Teufel im Gefolge des Bischofs, der mit seinen Kameraden durch die Bankreihen fegte und die Schüler fürchterlich verdrosch. Es war für uns eine Riesengaudi!

Besonders eindrucksvoll wurde die Weihnachtszeit gefeiert.

In der Adventszeit stellten die Klasse großformatige Transparentbilder aus schwarzem Tonpapier und farbigem Transparentpapier her

Die Transparentbilder wurden elektrisch beleuchtet in den Gängen aufgehängt. Sehr heimelig sah der Gang zur Kapelle aus, an dessen Seiten leuchtende Glaslampen hingen, die ein begabter Schüler farbig bemalt hatte.

So habe ich jahrelang die religiöse Welt des Klosterlebens mit erlebt. Ich war bestrebt, in dem von Kindheit an erworbenen Denk- und Verhaltensmuster ein guter Mensch zu sein. Ich hatte keinen Bedarf nach einer anderen Sichtweise und war damit zufrieden. Nur manchmal, wenn ich die Menschen hinter den Klostermauern vorbeigehen sah, da spürte ich, dass ich in einer anderen Welt lebte als die da draußen. Dann kam eine leise Sehnsucht auf nach der Freiheit der anderen, die gehen konnten, wohin sie wollten und sich verhalten konnten, wie es ihnen passte. Solche Regungen könnten der Grund dafür gewesen sein, dass ich ab einem bestimmten Alter, vielleicht 17,18 Jahre, die Anordnungen der Präfekten nicht mehr so ungefragt aufnahm und sie kritisierte. Mir ist noch eine Mahnung des Präfekten im Ohr, in der er uns vor dem Geist der Kritik warnte. Besonders unzufrieden war ich, dass wir keinen Umgang mit Mädchen haben durften. Ich hatte das Gebot bis zur Pubertät fraglos befolgt. Eine Situation hat sich mir eingeprägt, in der ich in Versuchung war, es zu brechen. Ich fuhr meinen Bruder mir einem Handwagen, auf dem sein Koffer lag, zum Bahnhof. Nach seiner Abfahrt begegnete mir auf der Rückfahrt ein Mädchen, das einen schweren Koffer trug. Mir kam der Gedanke: Du könntest ihr doch mit dem Wagen den Koffer zum Bahnhof fahren. Aber das Verbot im Kopf, mit Mädchen keinen Umgang zu haben, setzte sich durch und ich fuhr an ihr vorbei.

Jetzt jedoch lernte ich in den Ferien Bärbel Xaver kennen, die beste Freundin meiner Schwester. Ich verliebte mich in sie. Von Driburg aus schrieb ich ihr Briefe. Einmal legte ich ihr ein Geschicklichkeits­spiel aus Draht in den Brief. Die Dicke des Briefes muss dem Präfekten, bei dem die Briefe abgegeben werden mussten und der sie zensierte, wohl aufgefallen sein und er las den Brief. Da war ihm klar: Alfons hat Kontakt zu einem Mädchen. Er bestellte mich zu einem Gespräch, in dem er mich aufforderte, den Kontakt aufzugeben. Ich hab mich nicht daran gehalten und ihr in einem Brief, den ich aus dem Kloster schmuggelte, ein selbstgemaltes Hummelbild zugeschickt. Meine Beziehung zu ihr hielt dann aber nicht lange. Denn als ich das nächste Mal in Ferien kam, erfuhr ich, dass sie einen Freund hatte.

Je älter ich wurde, desto mehr zweifelte ich an meiner Berufung zum Priestertum. Wollte ich das wirklich, was von mir erwartet wurde? War ich im Missionshaus am richtigen Platze? Nach allen großen Ferien mussten wir über unsere Einstellung zum Beruf in einem Gespräch mit dem Präfekten Rechenschaft ablegen. Als ich etwa 17 oder 18 Jahre alt war, äußerte ich P. Herbertz gegenüber, der damals Präfekt war, meine Zweifel, ob ich zum Priester berufen sei. Seine Antwort war: „Alfons, sei gewiss, solange der Vorgesetzte dich für berufen hält, solange bist du berufen.“ Das war für mich auf der einen Seite eine Entlastung. Denn so konnte ich mich ohne Gewissens­bisse im Missionshaus auf mein Abitur vorbereiten. Wer nämlich als unberufen angesehen wurde, verlor das Recht im Internat die Schule zu besuchen. Er musste sich außerhalb ein Zimmer suchen. Das war meinem Klassenkameraden Lissek passiert. Auf der anderen Seite waren meine Berufs­probleme damit nicht behoben. Ich selber war ja nicht mehr überzeugt, dass der Beruf des Priesters der richtige für mich sei. Ich hatte überhaupt nicht das Bedürfnis, Menschen seelsorgerisch zur Seite zu stehen, was ich heute als vorrangiges Motiv für das Priestertum ansehe. Das war mir damals überhaupt nicht bewusst. Ich sah vielmehr die Einschränkungen und Belastungen, die mit dem Beruf verbunden sind: Das Alleinsein durch den Zölibat, das Eingebundensein in das System von Befehl und Gehorsam, das Entsagen den Freuden des Lebens wie Sexualität, Besitz und Selbst­bestimmung über alles, was mich anging. Je näher ich dem Abitur kam und damit dem Tag der Entscheidung in den Orden einzutreten, desto belastender empfand ich die Situation. Der Stress der Abiturvorbereitungen tat sein Übriges dazu, so dass ich krank wurde. Ich bekam Bauchschmerzen, erhielt einige Tage Schonkost (Weißbrot mit Butter, hm!) und wurde dann, als die Schmerzen nicht abnahmen, einem Internisten vorgestellt. Der stellte nach einer Generaluntersuchung auf dem Röntgenbild einen Schatten in der Lunge fest. Ich kam sofort auf die Krankenstation und wurde von den anderen Schülern isoliert. Zur gleichen Zeit begann ich zu husten und Blut zu spucken. Am 29. 0ktober 1959 war das Ende meiner Driburger Jahre. Ich fuhr nach Braunschweig zurück, wo ich in das Lungenkrankenhaus an der Gliesmaroder Straße eingewiesen wurde.

Die Krankheit war für P. Herbertz das objektive Zeichen, dass ich nicht zum Priester berufen war. Verstärkt wurde seine Gewissheit wohl auch durch einen Brief, den ich meinem Freund Hartmut geschrieben hatte und den er gelesen hatte. In diesem Brief hatte ich meine Träume über eine Beziehung zu Mädchen sehr freimütig dargestellt. Hartmut verbot er, mit mir weiter Kontakt zu pflegen und mir schrieb er in einem Brief, dass ich nach meiner Genesung nicht mehr nach Driburg zu kommen brauche. Ich solle mir eine andere Schule suchen, wo ich das Abitur ablegen könnte. Bei allem Unmut, den ich wegen seiner Ablehnung empfand, so fühlte ich mich doch von dem Druck des Berufs unendlich befreit, aber auch von dem Druck der Driburger Gebote und Verbote, die es in der neuen Welt nicht gab, und dem des bevorstehenden Abiturs. Im Sanatorium in Immenhausen genoss ich die Möglichkeit, mit Mädchen anzubändeln und verliebte mich in immer neue weibliche Wesen. Die intensivste Begegnung hatte ich mit Luise, die als Küchenmädchen in der Heilstätte arbeitete. Das missfiel dem Chefarzt, der ebenfalls ein Auge auf sie geworfen hatte. So kam es, dass er mich angeblich vorzeitig aus der Heilstätte entließ und ich nach Braunschweig kam. Hier meldete ich mich zur Erreichung des Abiturs im Wilhelm Gymnasium an. Außerschulisch engagierte ich mich in der Pfarrei, übernahm eine Jugendgruppe und wurde Pfarrjugendführer.

Dies ist eines der 1. Fotos mit Christine und mir, vielleicht aus 1962.Wir hatten einen Ausflug in das Truppenübungsgelände vor dem Elm gemacht.

Dabei lernte ich Christine kennen. Nach Wiederholen der 12. Klasse machte ich mein Abitur und begann mein Studium an der damaligen Kant-Hochschule.

Vom gehorsamen Kirchenschaf zum selbstbestimmten Katholiken

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