Читать книгу ZWISCHEN ZWÖLF UND MITTERNACHT - Alfons Winkelmann - Страница 10

Unterwegs

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(Da wir substanzlos sind, haben wir den Vorzug natürlich sofort eingeholt.)

Dauert die Bahnfahrt mehr als acht Stunden, und Peter Piechowiak ganz in sich selbst versunken. Hat er seine Heimat schon vergessen – war Göttingen je seine Heimat? Dabei fuhr er so gerne mit dem großen Transporter über Göttingens Straßen. – Was für eine Übersicht! Vorüber, vorüber. Zu schnell auf den Bürgersteig der Tatsachen zurückgeholt, sitzt er bis Passau allein im Abteil. Öffnet er an jedem Haltebahnhof das Fenster, lässt Lautsprecherdurchsagen zu sich ins Abteil quellen.

Das gleichmäßige Rattern entleert seinen Kopf von jedem Gedanken. Er nimmt Landschaft wahr, nicht auf, koppelt sie nicht mit Worten, hält sie nicht fest. Drängt sich am späten Nachmittag die Sonne ins Abteil, er zieht die Vorhänge vor. Die Hitze weicht nicht.

„Was erwarten Sie in Wien, Herr Piechowiak?“

Der Zug lässt sich kurz auf ein Wettrennen mit einem Auto auf der Bundesstraße ein – oder umgekehrt. Nach der nächsten Biegung gibt’s weder Sieger noch Besiegten.

„Denken Sie zum Beispiel noch an Martina, Tina, wie Sie sie nannten, der Sie Ihre Wohnung überlassen haben?“

„Ach, Tina und Klaus und Reinhard und Günther, mit „th“, darauf legt er größten Wert, trotz aller Alternativität, der mit seinem AZE, dem alternativen Kulturzentrum, wer sind denn die! Trafen uns von Zeit zu Zeit, mehr aus Gewohnheit denn aus Freundschaft. Nach zwei Wochen bin ich vergessen. Manchmal wird vielleicht einer in einer Gesprächspause daran denken, dass jemand – jemand – wie hieß er doch gleich? Ja, Peter Piechowiak mit am Tisch gesessen hat. Meist ziemlich müde, die Arbeit schlauchte doch sehr. Aber nicht das war’s, was mich von den Übrigen trennte.“

„Können Sie das näher erläutern?“

„Ja, ich kann. Das waren alles Langweiler. Vernarrt in ihre Pipi-Probleme, anödend bis zum Geht-Nicht-Mehr. Soziokultur zwischen systematisierter Innovations-Akzeleration und qualitativer Interpretations-Problematik. Meinen Sie, so etwas hätte mich interessiert?“

„Sind Sie jetzt nicht ungerecht?“

„Natürlich bin ich ungerecht. Oder kennen Sie jemanden, der gerecht wäre? Trotz allem habe ich sie ja irgendwie gemocht. War eine Abwechslung zur Ödnis, die meine Arbeit so mit sich brachte.“

„Wer oder was war denn nun öde?“

„Wie? Ach, alles. Nehmen Sie Tina, zum Beispiel. Unheimlich lieb und nett, wahnsinnig engagiert, setzte sich ein, wie es nur eben ging. Verbrachte halbe Nächte damit, diese alternative Kneipe, in der sie da arbeitete, in Schwung zu halten. Haben die sie dennoch von gleich auf jetzt an die Luft gesetzt, als es ernst wurde. Als die Studenten mit einem Male nicht mehr so viel Geld fürs abendliche Bier ausgeben konnten. Arbeitete sich daraufhin in diesem Arbeitslosenselbsthilfezentrum halb zu Tode, für nix und wieder nix. Ob ihr jemals aufgefallen ist, dass es bei jeder unangenehmen Sache hieß: ‚Das wird die Tina schon schmeißen?‘ Ja, es stimmt, dass ich sie sehr gern hatte, vielleicht sogar ein bisschen in sie verliebt war. Kann sein, dass ich nur wegen ihr freitags zum Stammtisch gegangen bin.“

„Und das können Sie so einfach alles zurücklassen?“

„Ja, das kann ich. Sonst säße ich nicht hier im Zug, hätte nicht den Vorzug eines Vorzugs ergriffen.“ Lacht kurz auf. „Gestern Abend habe ich den Vollmond über der hohen Fichte hinter meiner Wohnung gesehen.“

„Und?“

„Nichts und. Vielleicht ist dem Vollmond der merkwürdige Traum zu verdanken, den ich heute Nacht geträumt habe.“ Schließt die Augen, erinnert sich.

„Als ich heute früh erwachte, kam es mir so vor, als hätte ich im Traum eine Geschichte geschrieben – auf eine solche Idee bin ich zuvor noch nie verfallen. Genau kann ich mich an sie auch nicht mehr erinnern. Sehen Sie das kleine Mädchen dort drüben am Bahnsteig? Das mit dem Stoffherzen unter dem Arm? Merkwürdige Dinge kamen in diesem Traum vor: Ein Teich, auf dessen Oberfläche die Fichten schwere Mondschatten warfen. Ich selbst saß im Schilf und hatte Angst vor dem Wasser. Sie wissen, diese ungetrübte Angst, die man nur im Albtraum empfinden kann. Vor etwas in dem schwarzen Wasser fürchtete ich mich. Kurz zuvor war etwas ins schwarze Wasser geglitten, die Fische glotzten mich an, ruhig, bewegten sich nicht. Dann hatte sich der Vollmond durch die Zweige gedrängt und sah mich voll Spott an. Das war ein Mond, auf dem keine Astronautenspuren den Sand entehrt hatten – genauso dachte ich das im Traum. Und von Zeit zu Zeit immer wieder dieses Plätschern. Da durfte etwas nicht wiederkehren. Das Schilf schnitt mir in die Hände, ich fühlte das Blut tropfen und musste doch entlangstreifen. Denn das Blut überdeckte etwas. Nur was es war, das wusste ich nicht. Und der Mond lachte bloß dazu. Ein bisschen blöde sah er ja schon aus, wie er so im schwarzen Himmel hing. Ich wollte aufstehen und fortgehen, aber Sie wissen selbst, dass man im Traum häufig nicht fortgehen kann. Also musste ich im Schilf hocken bleiben, spürte dabei unter mir ein Rollen und Hämmern wie jetzt hier im Zug. Immer wieder der Gedanke, das ist eine Geschichte, die du aufschreiben musst. Ich war zugleich Protagonist und Beobachter. Fragen Sie nicht, wie das sein konnte. Und endlich gelang es mir, aufzustehen und fortzugehen. Das waren die schweren Bewegungen eines Traums. Einmal stürzte etwas durch die Zweige: ein Messingkronleuchter. Als ich das begriffen hatte, musste ich nicht etwa lachen – wie absurd war das schließlich – im Gegenteil: Die Angst umklammerte meinen Magen desto fester. Der Rückweg – ich wusste, es war ein Rückweg – war schwer, doch völlig lautlos. Der Boden war weich, die Zweige wichen von selbst zurück, der Mondschein drängte nahezu unverschämt zu Boden. Eine Last war mir von den Schultern genommen worden. Welche? Ein Transporter, wie ich ihn in Göttingen gefahren hatte, stand auf einem Feldweg. Keine Möglichkeit zu wenden. Dank der beiden Außenspiegel gelang es mir jedoch gut, rückwärts zur Straße zu fahren. Erst dort fiel mir auf, dass ich das Licht nicht eingeschaltet hatte. Das Mondlicht glänzte auf der nassen Fahrbahn. Hinter der Baumgruppe drüben hätte ich niemals einen Teich vermutet. Die Angst umklammerte meinen Magen nicht mehr ganz so fest. Im Wagen roch es nach Blut. Das Lenkrad fühlte sich glitschig an. Dennoch fuhr ich, so rasch es nur gehen wollte, wiederum völlig lautlos. Nur dieses Rumpeln und Hämmern wie in einem Zug.“ – Gute Aufnahmen, Willi Be. Danke!

„Haben Sie für Ihren Traum eine Erklärung?“

„Heiße ich Freud? Aber die Geschichte ist ja noch längst nicht zu Ende. Diese Nacht war eine Nacht der Albträume. Wäre ich abergläubisch: keine gute Voraussetzung, alle Brücken hinter sich abzubrechen und fortzugehen.“

„Sie sind nicht abergläubisch?“

Er lacht laut. „Was denken Sie! Natürlich. Da schossen mondweiße Wolken über den Himmel, jetzt in einer Stadt. Eine große Stadt, trotzdem waren die Straßen leer. Glänzendes Kopfsteinpflaster. Neonlampen schwankten trunken von einer Seite zur anderen. Es musste gerade geregnet haben, meine Brille…“ (Peter Piechowiak trägt gar keine Brille) „… war tropfenvoll. Trotzdem sah ich so gut wie nie zuvor. Ich sah einen jungen Mann in einem Hauseingang stehen, neben sich einen schwarzen Gitarrenkasten.“

„So einen wie Ihrer hier?“

Er lacht erneut. „Ja, genau so einen. Unsere Blicke trafen sich, der junge Mann öffnete den Mund und begann, mit unsicherer Stimme eine Ballade zu singen. Irgendwie ging es darin um einen Mann, der schwere Schuld auf sich geladen hatte, aber den genauen Wortlaut weiß ich nicht mehr. Dann geschah etwas anderes, überaus Merkwürdiges: Ein kleines Mädchen in weißer Rüschenbluse und kariertem Röckchen, ein Stoffherz, aus dem es rot tropfte, unter dem Arm, rannte an uns beiden vorüber. Ich erinnere mich, gedacht zu haben: Wie seltsam, dass um diese späte Uhrzeit ein so kleines Mädchen noch allein über die Straßen läuft. Irgendwie spürte ich jedoch eine Verbundenheit zu dem Mädchen, auch, als es schon längst nicht mehr zu sehen war. Alles war so rasch gegangen, dass ich mich fragte, ob ich es wirklich gesehen hatte. Und als ich zum Hauseingang hinüberschaute, war der junge Mann mit der Gitarre nicht mehr zu sehen. Allerdings war das Gefühl zurückgeblieben, dass etwas geschehen würde, was mich, Peter Piechowiak, betraf. Und zwar etwas ganz, ganz furchtbar – Schönes. Seltsame Verbindung, nicht? Furchtbar Schönes. Vor dem Schönen fürchten wir uns.“

„Wir? Wir fürchten uns nicht vor dem Schönen.“

Er lacht jetzt laut. „Gut, Sie fürchten sich vielleicht nicht davor. Sie sind schließlich substanzlos. Aber wir Menschen, wir mit Substanz, wir fürchten uns. ‚Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang.’ Kennen Sie den Satz? Allerdings …“ Zögert jetzt. „Ob das wirklich stimmt? Im Traum hatte ich trotz allem ein ganz anderes Gefühl. Dass das Schöne nämlich zugleich Freiheit und lebenslanges Gefängnis verheißt.“

Er sieht eine Weile lang zum Fenster hinaus, sagt dann: „Was ich in Wien erwarte? Vielleicht, diese Freiheit und Schönheit zu finden.“

Dann wirft er das Haar zurück und wendet sich wieder Willi Bes Kamera zu. „Vielleicht hätte ich doch nach Brasilien fahren sollen. An den Amazonas. Wenn das Geld dazu gereicht hätte. Aber wer weiß, vielleicht komme ich trotzdem eines Tages dorthin. Vielleicht nicht alleine. Komische Ideen kommen einem in so einem Zug, finden Sie nicht auch?“

Ein Wägelchen klingelt draußen durch die Gänge. „Kaffee?“ Ja doch. Zwar viel zu teuer. Aber tut gut.

„Wenn ich jetzt beginnen sollte, irgendetwas zu resümieren, müssten wir viel weiter als bis Wien fahren. Oder stimmt das etwa auch nicht? Da gab’s vor meiner Abreise noch ganz andere, völlig verschwommene Träume. Es sieht beinahe so aus, als würde in Wien tatsächlich etwas Wundersames geschehen.“

Peter Piechowiak kneift die Augen zusammen, als dächte er über etwas nach.

„Irgendwann“, so erzählt er, „irrte ich über die Straßen der Stadt – kann nicht sagen, welche Stadt. War mir nur gewiss, dass ich etwas ganz Bestimmtes suchte. Da waren Feigenbäume, die sich weit über die Gasse bogen. Und die Feigen schmeckten süßer als Honig. Aß sie nicht allein, gab sie weiter – an wen? Ich weiß es nicht. Wenn ich es nur wüsste!“

Er springt auf, denn die Bremsen kreischen, der Zug wird langsamer. Er schnappt sich seinen Rucksack und seinen schwarzen Gitarrenkasten und bereitet sich aufs Aussteigen vor.

Auf dem Bahnhof in Passau stehen so viele Reisende in Erwartung des nächsten Zuges. Jetzt wirklich der Prinz Eugen nach Wien. Peter Piechowiak mustert die Umstehenden, insbesondere eine blonde Frau im schwarzen, ärmellosen Kleid – kein Trauerkleid! –, die offensichtlich auf jemanden wartet, der im nun einfahrenden Eurocity sitzt. Peter Piechowiak spürt die Glätte ihrer ausrasierten Achselhöhlen unter seinen Fingern. Ein bisschen fühlt er sich an Tina erinnert, obwohl Tina in ihrer chaotischen Alternativität – Alternaivität, denkt er und lächelt – so etwas wie einen Lady-Shaver niemals an sich herangelassen hätte. Wieso ihm nun gerade diese Unbedeutsamkeit ein- und aufgefallen ist, kann Peter Piechowiak nicht sagen. – Wir haben ihn allerdings auch nicht danach gefragt.

Auch der Prinz Eugen gibt sich den Anschein, als könne er nicht anhalten. Auf jeden Fall verbreiten die Frau und der Mann, der ihr in die Arme fällt, so etwas wie eine sanfte Zärtlichkeit. Peter Piechowiak bedauert, sie verlassen zu müssen. Er bemerkt zu spät, dass er sich vor einem zwitschernden Walkman niedergelassen hat, ein Zwitschern, das erst der Lärm des fahrenden Zugs erstickt. Willy Bes Kamera gleitet über ermüdete Gesichter. Erschöpft von dem schier endlosen Landschaftsfilm vor dem Fenster. Obwohl gerade jetzt der schönste Abschnitt der Fahrt. Vielleicht jedoch nicht nach sechs Stunden. So handlungsarm dürfte allenfalls eine Spätvorstellung sein. Aber selbst die ist nach zwei, zweieinhalb Stunden vorüber. Nur noch wenige Bahnhöfe, auf denen die Filmrolle gewechselt wird, der Inhalt ansonsten derselbe bleibt. Peter Piechowiak zieht ein Buch – mit blauem Umschlag, den Titel können wir nicht erkennen – aus einer Seitentasche seines Rucksacks und beginnt zu lesen. Willi Be filmt ihn, wie er sich eine Haarsträhne hinters Ohr streicht.

Wir fragen ihn weiter nach seinen Albträumen.

„Sie können mich auch nicht für fünf Minuten in Ruhe lassen, oder?“ Er legt das Buch beiseite. „Zwölf Sonnen sah ich am Himmel stehen. Wahrscheinlicher jedoch waren es zwölf Monde, denn es war ziemlich kühl. Ein Himmel mit zwölf Sonnen oder Monden? Jetzt fällt es mir wieder ein: Ich wusste genau, dass es zwölf Monde waren. Und mittendrin ein Mond blutig-rot wie eine klaffende Wunde im Himmel. Und aus dieser Wunde tropfte der Tod. Das dachte ich, haargenau. Solche Träume vergisst man nicht. Der erste Mond beinahe so gleißend wie eine Sonne. Die Erde ein fahles Blau. Eine ungeheure Weite. Was mich die meinen Magen umklammernde Hand wegdrücken ließ, war die Gewissheit, dass nicht ich dort stand. Sehen Sie – sehen Sie! Ein Himmel genau wie jetzt dort draußen.“

„Wo?“

„Für einen Augenblick sah ich die zwölf Monde wieder am Himmel stehen. Entschuldigen Sie bitte, die Erinnerungen können manchmal so stark sein. Nur Bruchteile von Sekunden dauern vermutlich solche Albträume. Dehne ich sie jetzt ins Weite. Schließlich gebar der Himmel tatsächlich den Tod. Die Monde erloschen im nämlichen Augenblick. Dafür brannte weit hinter diesen Himmeln ein neues Licht. Merken Sie eigentlich, was man erzählt, wenn man Albträume erzählt?“

„Fahren Sie ruhig fort, das können wir ja gegebenenfalls schneiden.“

„Verdammt, gerade das sollen Sie nicht schneiden!“ Voller Empörung. Dann fährt er fort: „Irgendetwas war dann da mit Osten. Im Osten erhob sich nämlich jetzt der neue Tag. Eigentlich bedauerlich, dass die Sonne im Westen untergeht, nicht? So etwas denke ich nachträglich meinen Albträumen hinzu. So auch, dass einer der mittleren Monde gelegentlich verschwommen hinter einer Wolke hervorblinzelte. Beunruhigend auch die klangleere Luft – dieses ungenügende Erklären! Dafür umfloss mich – mich – jetzt etwas Weiches mit einem Duft nach Kastanie. Kann der da hinter mir nicht mal seinen Walkman abstellen? Und etwas raste kometengleich auf mich zu. Das war das Todesblau. Der Komet brannte blau. Zugleich damit, kurz, leicht säuerlicher Schweiß. Gar nicht unangenehm, im Gegenteil. Wie langsam sich die Träume ins Gedächtnis zurückschieben!“

„Sie sagten doch vorhin, so etwas vergäße man nicht?“

„Zwischen Nicht-Vergessen und Erinnern besteht ein gewaltiger Unterschied. Übrigens nett von Ihnen, dass Sie mir zumindest zuhören. Darüber sich bei unserem Freitag-Stammtisch zu unterhalten, wäre schlichtweg nicht möglich gewesen.“

„Und Tina?“

Peter Piechowiak errötet. Hat er Tina also doch geliebt?

„Sie war mir – trotz allem – zu fern. Nein, darüber habe ich – gelegentlich – mit Karina gesprochen.“

„Wer war Karina?“

Erneutes Erröten.

„Das werde ich Ihnen nur dann sagen, wenn Sie’s schneiden.“

„Einverstanden.“

„Eine mögliche Antwort darauf fand ich übrigens einmal während meines Germanistik-Studiums.“

„Sie haben Germanistik studiert?“

„Nur zwei Semester. Ich fand’s ansonsten zum Kotzen. Verleidete mir jeden Spaß am Lesen. Brauchen Sie nicht zu schneiden. Der dritte der Monde war übrigens unser hauseigener blöder Mond. Ist Ihnen niemals aufgefallen, wie dämlich der grinst? Liegt wohl daran, dass er dann voll ist. Das Ungenügen der Ratio gleich der Sprache. Vielleicht auch ein Grund, weshalb ich auch mal Mathematik studiert habe. Zwei Semester. Bin dann über den Hilbert-Raum gestolpert, und die Prüfer waren der Auffassung, dass ich zwar sehr gut reden könne, ansonsten jedoch keine Ahnung habe. Konnte tagelang vor der Abbildung eines Möbius-Bandes sitzen und keinen klaren Gedanken mehr fassen. Damals sagte Karina übrigens zum ersten Mal, ich möge mir nun endlich einfallen lassen, was ich denn wirklich wolle. Das war der Anfang vom Ende. Den vierten Mond zerschnippelten ein paar andere Wolken. Dieser Mond sah aus wie ein eingedrücktes Ei – das Ei des Kolumbus. Denn der fünfte hatte einen Gebirgszug, der wie die Vereinigten Staaten von Amerika aussah – wo Kolumbus ja bekanntlich niemals gelandet ist.“

Draußen das hell angestrahlte Schloss, ein ungesundes – ungesundes? – Orange, das die Stadt etliche Kilowattstunden kostet. Besoffen von der eigenen Energie.

„In der Germanistik-Bibliothek standen etliche Bücher, die so verstaubt waren, dass man einen Hustenanfall bekam, wenn man sie aus dem Regal nahm. Die Staubbücher, gewissermaßen. Ich glaube, diese Bibliothek war das größte Antiquariat vor Ort.“

„Keine weiteren Albträume?“

„Alles, was ich Ihnen jetzt schildere, sind Albträume. Das war Linz? Wenn Sie’s sagen, wird’s wohl stimmen. Dann sprach ich im Traum Französisch – la lune, elle est heureuse. Dabei spreche ich überhaupt kein Französisch.“ Auch Peter Piechowiak ist bereits müde, so müde von einer langen Bahnfahrt, ebenso wie wir. Sieben Stunden bis jetzt. Frankreich. Karina wollte immer einmal mit ihm nach Paris fahren, erzählt er so nebenbei. Ist aber nie etwas draus geworden. „Spüren Sie diesen plötzlichen Sog? Der Zug fährt auf einmal viel schneller. Zumindest erscheint es so. Dort wird etwas geschehen, dessen bin ich mir nun auf einmal sicher.“

„Dort?“

„In Wien, Sie Dämlack.“ Dieses Wort ist Öl für Willi Bes Kamera. „Weiß gar nicht genau, wo ich da eintreffe. Muss mir also eine Taxe nehmen.“ Wir haben noch über eine Stunde bis Wien. „Da ist eine urtümliche Erregung in mir, die ich absolut nicht begreifen kann, die dadurch nur umso angenehmer ist. Da ist etwas, was mich lockt, was mich zieht, viel stärker beunruhigt, aber nicht ängstigt, wie die zwölf Monde über der fahlblauen Erde. Oder der todesblaue Komet. Ich habe das Gefühl, als begänne ich jetzt zu leben – zu leben! Mann, verstehen Sie das? Und wissen Sie, ich freue mich darauf, im Stephansdom ein vernünftiges Orgelkonzert zu hören, oder weiß Gott wo immer. Und auch nicht allein. Auf einmal bin ich mir sicher, dass ich solche Konzerte niemals alleine besuchen werde.“

„Weshalb?“

„Weshalb? Wenn ich das sagen könnte. Der letzte Albtraum war nämlich keiner mehr. Sie erinnern sich, der Kastanienduft unter dem sechsten Mond. Da war ich nämlich auf einmal frei. Völlig frei. Losgelöst von allem.“ Der Zug hämmert über die ersten Weichen von Wiens Westbahnhof. Jetzt schon? So viel haben wir geschnitten, Willi Be? „Da war ich nämlich endgültig verrückt. Verrückt vor – ja, vor was? Ich wusste es damals nicht. Ich weiß es heute noch nicht. Der See ist nicht für mich, den Traum hake ich als Traum endgültig ab. Die zwölf Monde, sie wandelten sich, ja, ich sah sie – wie langsam kriechen die Erinnerungen – sich wandeln, sich wandeln in … – Auch das kann ich nicht sagen. In Feigen. Ja, vielleicht in Feigen, obwohl ich Feigen – außer in getrocknetem Zustand – noch nie zuvor gegessen habe. Das alles ist jetzt so, weil ich lebe! Lebe!“

Peter Piechowiak schwingt sich wortlos seinen Rucksack auf den Rücken, sein Buch hat er, kurz bevor der Zug hielt, wieder in einer der Seitentaschen verstaut.

Er schreitet in die große Halle hinab, wirkt einen Moment, als sei er irritiert, sucht, sucht einen Stadtplan, findet keinen, weiß, er muss bald in der Pension sein. Wo ist die Pension, wo ist er überhaupt hier?

Draußen vor dem Bahnhofsgebäude springt, trotz der späten Abendstunde, ein kleines Mädchen mit einem Stoffherzen unterm Arm umher. Peter Piechowiak ruft: „Anaëlle!“

Da hält das kleine Mädchen kurz inne, als hätte es etwas gehört, und springt dann munter weiter und verschwindet irgendwo in den Straßen.

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