Читать книгу ZWISCHEN ZWÖLF UND MITTERNACHT - Alfons Winkelmann - Страница 9

Aufbruch

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„Nachdem sie mich jetzt entlassen haben“, erzählt Peter Piechowiak, „besitze ich noch genau zweitausendfünfhundert Mark. Natürlich überlege ich mir, was ich tun kann. Der Gedanke, mich beim Arbeitsamt zu melden, behagt mir nicht.“

Ein Passant hat das Kamerafeld gekreuzt. Willi Be schreit uns ärgerlich zu, er müsse diese Einstellung noch einmal drehen.

„Nachdem sie mich jetzt entlassen haben“, erzählt Peter Piechowiak, „besitze ich noch genau zweitausendfünfhundert Mark. Natürlich überlege ich mir, was ich tun kann. Der Gedanke, mich beim Arbeitsamt zu melden, behagt mir nicht.“

„Gibt es denn in Göttingen nicht auch eine Arbeitslosenselbsthilfe?“

„Natürlich. Die Überlegung, es dort zu versuchen, ist gewiss nicht die schlechteste. Die meisten meiner Bekannten haben mir sogar dazu geraten. Aber es widerstrebt mir.“

„Können Sie das näher erläutern?“

Sitzen wir inzwischen im Cheltenham-Park (Cheltenham: Partnerstadt Göttingens in England). Hinter einem kleinen Häuschen liegt ein verträumter Teich neben dem Wall, unter vielen hohen Bäumen. Ein malerischer Anblick, könnte ich mir vorstellen.

Klappe: Peter Piechowiak die zweite.

„Ich habe sogar einmal die Telefonseelsorge angerufen. Die Frau am Apparat bemühte sich auf geradezu vorbildliche Weise, mich zu einer eigenen Entscheidung zu führen. Das lernen die nämlich da.“

„Aha. Und, hat sie?“

„Sie fragte mich: ‚Wollen Sie wirklich aufs Arbeitsamt und Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe beantragen und warten, dass man etwas für Sie tut?‘“

„Eine Zwischenfrage, Herr Piechowiak. Was sind Sie von Beruf?“

„Von Beruf?“ Peter Piechowiak lächelt in Willi Bes Kamera. „Das ist ja das Elend. Was heißt, Elend! Das ist ja die Freiheit. Genau genommen habe ich keinen Beruf. Ich bin Student der Germanistik, der Chemie, der Mathematik, der Philosophie und was weiß ich nicht noch alles. Aber eben halt nix, das bürgerlich anerkannt wäre.“ Erneut lächelte Peter Piechowiak in Willi Bes Kamera. Haben sich eine Menge Göttinger und -innen um uns versammelt. Eine Kamera zieht die Welt an sich und ist die Welt in dieser Provinzstadt, die ihre Filmvergangenheit restlos und blind verspielt hat.

„Wie kann ich das verstehen?“

„Tja, wie Sie das verstehen können – woher soll ich das wissen? Aber Sie dürfen mich, wie vereinbart, heute gern begleiten.“

Willi Be, jetzt sind wir dran. Jetzt müssen wir uns einen Tag ausdenken. Nehmen wir an, wir hätten Piechowiak an einem Dienstag um Viertel nach elf Uhr getroffen, dann wäre das erste Gespräch vermutlich gegen fünf vor halb zwölf schon wieder beendet.

Willi Bes Kamera verfolgt Peter Piechowiaks Turnschuh-Schritt, das graue, eckige Straßenpflaster, wechselt die Perspektive, fährt zu dessen Händen mit dem Dreckrand unter den Fingernägeln hoch, zu dessen grobgestrickten blauen Pullover – eigentlich viel zu warm für diesen Sommertag –, zu dessen Kinn, dessen Mund, dessen Nase, dessen Augen. Peter Piechowiak nicht im Geringsten irritiert. Um uns herum Stadtdröhnen: stinkende Busse, Schritte, Rufen, Lachen, Schreien, Fahrradklingeln. Music in front of some shops. Gäbe es keine Schaufenster, flögen uns allerorten Jeans und T-Shirts, Schaufensterpuppen, Ringe, Uhren, Fischbrötchen, Videorekorder, Apfelsinen, Bücher um die Ohren.

So eine Weile lang weiter, immer weiter, zehn Minuten, zwölf Minuten, eine Viertelstunde lang, eine weitere Viertelstunde. Und noch eine. Einmal die Weender Straße hinauf, einmal hinunter. Noch einmal hinauf, noch einmal hinunter. Immer wieder Blicke in Schaufenster, halb neugierig, halb interesselos. Hin und wieder lässt er sich auf eine Frage meinerseits ein.

„Fahrer“, sagt er irgendwann vor einem Schaufenster. „Sachen ausgeliefert. An Geschäfte. Auch an das hier.“ Eine Buchhandlung. „War manchmal anstrengend, wenn die Sachen schwer waren.“ Weitergehen. „Firma war wohl zu klein. Aufträge zurückgegangen. Haben mich nicht mehr gebraucht.“ Ganz sachlich, ohne Bitterkeit. „Und da stehe ich jetzt also mit zweitausendfünfhundert Mark. Aber das habe ich, glaube ich, bereits erwähnt.“

Kommen wir an einem Straßenmusikanten vorbei. Jemand, der schlecht Gitarre spielt und noch schlechter singt. Schlager. Grinst Peter Piechowiak und sagt, er könne das viel besser. Übt er fast täglich zu Hause. Alle möglichen Lieder, erzählt er. Vielleicht, so fügt er hinzu, könne er sich damit ja noch einen kleinen Nebenverdienst sichern. Aber nicht hier. Hier würde das nichts einbringen. Und so gehen wir weiter, und Willi Be lässt die Kamera laufen, ununterbrochen.

Zwölf Uhr dreißig. Peter Piechowiak betritt eine Fleischerei. Bestellt das angebotene Mittagessen: Rotkohl, Bratwurst, Püree. Mikrowellenheiß. Stellt er sich an einen schmalen kunststoffweißen Tisch und isst. Ruhig, ohne Hast, gemächlich, habe Zeit, viel Zeit. Hat uns die Verkäuferin extra freundlich angeschaut wegen der Kamera. Hat sie extra deutlich gesprochen: „Vorsicht, der Teller ist heiß.“ Sprang ein Junge hoch und winkte, jetzt fürs Leben geadelt. Wird seinen Enkeln noch erzählen, dass er im Fernsehen. Wir beide, Willi Be und ich, wir brauchen nichts zu uns zu nehmen, substanzlos, wie wir sind. Mag die Kamera auch noch so schwer sein, Willi Be macht es nichts aus. Er trägt sie, als würde sie schweben.

„Manchmal habe ich Lust, etwas völlig Verrücktes zu tun“, sagt Peter Piechowiak zwischen zwei Bissen. Hier wird Willi Be natürlich sofort hellhörig.

„Und was?“

„Das weiß ich doch jetzt noch nicht“, entgegnet er, kaut, schiebt etwas Rotkohl nach, kaut weiter.

„Machen Sie sich keine Sorgen, von was Sie demnächst leben sollen?“

Peter Piechowiak hält inne, jetzt offenbar irritiert, schüttelt den Kopf.

„Nein, merkwürdigerweise nicht. Ich mache mir keine Sorgen, vertraue meinem Glück, das mich bisher noch nie im Stich gelassen hat. Sehen Sie, bevor ich Auslieferungsfahrer wurde, war ich auch völlig abgebrannt. Zufällig hörte ich im Bus, mit dem ich zum Rathaus, zum Sozialamt, fahren wollte, jemanden erzählen, diese Firma, die jetzt mehr oder minder pleite ist, suche einen Fahrer. Bin ich also gleich hin und habe die Stelle bekommen. So einfach war das damals.“

Er wischt sich mit der Serviette den Mund. „Warum sollte das jetzt anders sein?“

Willi Be und ich hatten uns beim Herkommen darauf geeinigt, dass schönes Wetter sein soll. Daher hat es Peter Piechowiak auch nicht nötig, noch einmal in die Fleischerei zurückzugehen, um seinen Regenschirm zu holen, nachdem wir sie verlassen haben.

Die Jacobi-Kirchturmuhr schlägt die volle Stunde. Die akademische Buchhandlung nebenan zieht sich aus dem nach wie vor brodelnden Trubel vornehm akademisch zurück und schließt ihre Glastüre. Wahrscheinlich stehen die Studenten in der Mensa mittlerweile Schlange. (Aber auch das zu erzählen ist nicht unsere Aufgabe.) Wir heften uns weiterhin an Peter Piechowiaks abgelatschte Turnschuhfersen. Wenn Willi Be gehofft hat, dass er ein gewisses Interesse an den Pornos im Royal zeigen würde, so sieht er sich getäuscht. Er hätte Peter Piechowiak liebend gern dort beobachtet, wie er sich einen runterholt, während auf der Leinwand Bumsfrauen vor sich hin stöhnen, Muskelpakete hinter ihrem Arsch – alles natürlich nur zu Reportagezwecken.

Stattdessen: Stehenbleiben vor dem Schaufenster eines Reisebüros. Von einem Plakat strömt uns der Amazonas entgegen. Traumreise nach Brasilien. Dorthin fahren, so sagt Peter Piechowiak zu uns, vielleicht sogar dort leben, das könnte ein Traum sein. Vielleicht. Er habe sogar einmal angefangen, auf eine solche Zukunft zu sparen. Bevor er sich überlegt habe, dass das naturgemäß kompletter Blödsinn sein müsse. Denn Peter Piechowiak hat niemals Portugiesisch gelernt, erst recht kein brasilianisches.

Trotzdem: In den Ufersümpfen müsse noch ein Geheimnis stecken. Zwischen den mächtigen Urwaldstämmen, zwischen den buntschillernden Schmetterlingen, die nirgends so groß und bunt seien wie dort. O-Ton: „Brasilien steht, glaube ich manchmal, für meine Sehnsucht, einmal etwas völlig Verrücktes zu tun. Etwas Wahnsinniges. Halt etwas, von dem alle Menschen sagen: ‚Das ist doch Wahnsinn.‘ Genau dann wüsste ich, dass ich das Richtige täte. Andere investieren riesige Summe in Erste-Klasse-Intercity-Fahrten mit Essen im Speisewagen, inklusive überteuerter Rotweine. Darauf habe ich wirklich nie viel gegeben.“ Lacht leise. „Worin investiere ich? In Zukunft, trotz AIDS, Atombomben und …“

Allem, was sonst noch kommen wird.

Währenddessen weiterhin auf der Weender Straße. Der entkommt in Göttingen niemand. Willy Bes Kamera schleicht über die Gesichter etlicher Passanten. Frohe, gehetzte, traurige, glückliche, nichtssagende Gesichter sind es, die Willy Be da auffängt und verewigt. Können sie uns immer wieder ansehen.

„Ein Glück“, sagt jetzt Peter Piechowiak, „dass schönes Wetter ist. Wissen Sie, in meiner engen Bude hält mich nichts. Der Nachbar schlägt den ganzen Tag und die halbe Nacht lang Krach – Sie werden’s kaum glauben, aber selbst ich habe schon mal die Polizei gerufen –, und auf Dauer in irgendeinem Café oder einer Kneipe sitzen macht auch keinen Spaß. Ist zudem zu teuer. Meine noch vorhanden Bekannten sind alle bejobt, familiert, bekindert. Eigentlich bin ich niemand, der gern allein lebt, müssen Sie wissen. Vieles in mir liegt zu offen, schreit bei jeder Berührung von außen, müsste abgedeckt werden durch ein Gegenüber. Aber ich bin durchaus leidensfähig. Und lebensfähig. Und hoffnungsfähig.“

Was tut man, wenn man ziellos über oder durch Straßen treibt? Eben genau dies, nichts anderes.

„Was ich so denke? Merkwürdig – indem Sie mich das fragen, weiß ich’s nicht mehr. Wenn ich Ihnen jetzt etwas sage, dann deshalb, weil Sie mich gefragt haben. Zum Beispiel, dass mir die Sonne warm aufs Gesicht scheint oder dass manchmal Touristen da vorne vor dem alten Fachwerkhaus stehenbleiben, genau, das mit dem scheußlichen Laden unten drin, und dann erst fällt mir auf, dass das Haus ansonsten schön ist.“

Willy Be richtet seine Kamera auf dieses Haus.

„Das ist jedoch alles nur schöner Schein, denn genau wie die meisten der Touristen weiß auch ich nichts über dieses Haus. Ob es zum Beispiel nur noch Fassade ist. Wer darin wohnt. Ob überhaupt noch jemand darin wohnt. Ob da nicht nur noch Büros drin sind.“ Er geht weiter, und wir, wir folgen ihm. „Wahre Schönheit kommt von innen, nicht?“ Er bleibt stehen und dreht sich zu uns um. „Einen dümmeren Satz kenne ich nicht.“ Er geht weiter, und beim Gehen spricht er zu uns. „Ich träume manchmal von einem Mädchen, einer jungen Frau, die ich irgendwann irgendwo, nein, nicht hier in Göttingen, kennenlernen werde, mit der ich eine Tochter haben werde, obwohl ich mir im Augenblick kaum vorstellen kann, Vater zu sein. Ihre Zuschauer werden sich vermutlich wundern, dass ich nicht wesentlich mehr über meine momentane Lage nachdenke, nicht darüber nachdenke, wie ich sie wohl ändern könnte. Vermutlich erwarten Ihre Zuschauer sogar Patentrezepte. Oder wollen sich einfühlen, das heißt, sie wollen sich in mir entdecken. Ob das möglich sein kann? Hoffentlich haben Sie sich nicht das falsche Demonstrationsobjekt ausgesucht.“

Er lacht, und Willi Be fängt das Lachen auf. Darin ist er sehr gut.

Die Wissenschaft ist der größte Betrug am Menschen!, knallt uns ein Schild in die Augen, das ein Mann vor der akademischen Buchhandlung in die Höhe hält, inmitten einer Wolke aus Neugier, Spott, Interesse, Bewunderung, Gleichgültigkeit.

„Das könnte etwas für mich sein“, sagt Peter Piechowiak. Er stellt sich neben eine Edelpunkerin mit lila Haarsträhne über den wirren Augen, Haare bis weit über die Ohren abrasiert. An der Leine einen struppigen Hund, der dem Mann mit dem Schild beinahe ans Bein gepinkelt hätte.

Auch das hat Willi Be bereits im Kasten.

Die Edelpunkerin beäugt uns misstrauisch, zerrt ihren Hund beiseite und verschwindet in Richtung Rathaus und Gänseliesl, wo sie sich vermutlich mit ihresgleichen treffen wird. Schwarze, durchlöcherte Strumpfhose, schwarzer Pullover, unter dem die vorschriftsmäßig lange rosa Bluse hervorschaut. Die Einkaufstaschen der Hausfrauen sehen ihr empört nach. (Zumindest sieht das auf den Aufnahmen, die Willi Be von dieser Begebenheit gemacht hat, so aus.)

Als sich auch nach einer Weile nichts weiter tut, macht Peter Piechowiak sich wieder auf den unbestimmten Weg. Er kommt an einer Litfaßsäule vorüber, bleibt stehen, sieht sich die Plakate an, zeigt auf eines und sagt: „Sehen Sie, da gehe ich heute Abend hin.“ Es ist ein handgefertigtes Plakat, die Ankündigung einer Lesung. „21 Uhr, Galerie Apex“, steht da. „Walter Traunstein stellt vor. Heute: Leo Perutz.“

Schon hat Willi Be auch dieses Plakat im Kasten, und ich möchte natürlich wissen, weswegen Peter Piechowiak unbedingt dorthin will.

„Hat das etwas mit Ihrer Arbeitslosigkeit zu tun?“

Sieht er mich verständnislos an. „Sagen Sie, was ist Ihnen eigentlich wichtiger: Peter Piechowiak, der Arbeitslose, oder Peter Piechowiak, der Mensch? Mich auf die Arbeitslosigkeit zu verengen – das empfinde ich beinahe als Beleidigung.“

„Aber darum sollte es doch in diesem Bericht gehen.“

„Naundwennschon!“, faucht Peter Piechowiak.

„Was meinen Sie damit?“

„Was ich damit meine? Ich will nicht bemitleidet werden. Ich will nicht benutzt werden von Leuten, denen gar nichts Besseres geschehen kann, als dass es so viele Arbeitslose gibt. Ich will nicht betreut werden. Für mich, für mich allein weitergehen, wie ich es möchte, das ist für mich der Weg.“

Inzwischen sind wir zur Leine hinüber und gehen einen schmalen Weg entlang. Vor Willi Bes Kameraaugen biegt sich das Gebüsch nur unwillig beiseite.

„Aber selbst das dient ja wieder nur Ihrer Sucht zum Klassifizieren. Am Ende lasse ich mich auf nichts einengen, auf überhaupt nichts. Noch nicht einmal auf Peter Piechowiak!“

Oh, wie zornig er geworden ist! So zornig, dass er eine Handvoll Grashalme ausreißt und in die Luft wirbelt. Träge sinken sie auf das Objektiv der Kamera, und jetzt ist es Willi Be, der zornig wird.

„Ei, sag dem Armleuchter, er soll solche Späße gefälligst sein lassen.“

Noch ein wenig, und es wäre zu einer Schlägerei gekommen.

Gerade noch verhindert hat es ein kleines Mädchen mit einer Rüschenbluse, einem blau-weiß karierten Rock, das ein Stoffherz unterm Arm hält. Peter Piechowiak sieht dem Mädchen lange nach, genau wie wir, und Willi Bes Kamera, vom Grase befreit, hört erst auf zu surren, als das Mädchen schon längst hinter den Büschen verschwunden ist.

„Das war bestimmt Anaëlle.“

„Wie bitte?“

„Ach, nichts“, sagt Peter Piechowiak. Aber auch er sieht immer noch in die Richtung, in der das Mädchen verschwunden ist. „Sie hat mich nur an jemanden erinnert, die ich noch gar nicht kenne.“

„Wie bitte?“ „Du wiederholst dich“, sagt Willi Be so, dass Peter Piechowiak es nicht versteht.

Alles Weitere haben wir nicht mehr aufgenommen. Es war wirklich zu belanglos. Kaum mediengerecht. Für eine Reportage völlig unbrauchbar, oder, was meinst du, Willi Be? Worauf haben wir uns da eingelassen! Demnächst suchen wir uns bessere Kandidaten. Wenn es noch mal dazu kommt. Vorläufig jedoch sind wir an Peter Piechowiak gebunden, und wer weiß, was da alles noch kommen kann.

Willi Be schaltet seine Kamera erst am Abend wieder ein – inzwischen haben wir beide uns in die Unsichtbarkeit zurückgezogen, sind wieder aus der Welt getreten, haben aufgehört, in dieser Welt zu existieren. Wir sind, anders als beim ersten Mal, tatsächlich einfach so wieder in diese Welt hineingetreten, allerdings an einem Ort und an einer Stelle, wo uns niemand dabei beobachten konnte. Immer noch wollen wir niemanden erschrecken.

Jetzt leuchtet uns die Galerie Apex undeutlich entgegen, erkennbar eigentlich nur an den vielen Fahrrädern, die davorstehen.

Wir betreten einen mager beleuchteten Korridor. Rechter Hand zunächst ein paar Briefkästen, dann eine Glastür, dann ein Bord, an dem etliche Plakate hängen, dann wiederum eine Tür, dahinter die Küche, die nächste Glastür, eine Stufe. Grüngealterte Klappstühle, weiße Kunststofftische rechts, Holztisch links, über uns grünendes Efeu, wie in meinem mittelmeerischen Dorf. Vor uns der Eingang, daneben eine Schiefertafel, auf der wir lesen können: „Walter Traunstein stellt vor: Leo Perutz.“ Daneben ein Fenster, durch das die Flaschen vor und hinter der Theke zu sehen sind. Die Kneipe jedoch interessiert uns nicht.

Wir donnern über eine Eisentreppe in einen Raum, an dessen weißgetünchten Wänden für kunstsachverständige Göttinger Bürger beeindruckende Gemälde hängen. Peter Piechowiak hingegen schaudert beim Anblick der wüsten Pinselstriche – wie mit einem Malerquast, den ein Lehrling – Willi Be: ein Azubi – am ersten Lehrtag in die Hand gedrückt bekommen hat, zusammen mit dem Auftrag, alle vorhandenen Farben gleichzeitig auszuprobieren. Er bevorzugt stille Heidelandschaften und Bilder von Mädchen mit langem blondem Haar. – Willi Be: David-Hamilton-Gedächtnis-Kitsch. Dass Peter Piechowiak ein solches Mädchen, springlebendig, einmal treffen würde, kann er gegenwärtig beim besten Willen noch nicht ahnen. Oder? –

Da sitzt an einem runden Tisch hinter der Glastür ein nicht weiter bemerkenswerter Mann. Lächelt Peter Piechowiak an. „Möchtest du auch zur Lesung?“ Der nickt. „Kostet zwei Mark Eintritt.“

Peter Piechowiak legt ein Zweimarkstück in die Pappschachtel neben ein paar anderen. Wir als Presseleute können kostenlos hinein. Obwohl wir ja gar keinen Bericht über diese Lesung verfassen werden. Aber das weiß der Mensch an der Kasse nicht. „Setzt euch irgendwo hin“, leutseligt der Mann.

Links in der Ecke, auf einem roten Klappstuhl, sitzt Walter Traunstein, umringt von ungefähr zehn anderen Leuten, die gerade laut lachen. Nur ein Wort ist bis zu Peter Piechowiak vorgedrungen: „Wien.“ Wien. Was weiß er von Wien? Stadt in Österreich, Hauptstadt. Wien. Die anderen lachen wieder, er lacht mit, unwissend, um was es gerade geht. Sieht sich neugierig um. Direkt neben ihm ein Mann mit einer Glatze und einer dunklen Brille mit runden Gläsern. Er trägt einen altmodischen Anzug mit weißem Hemd und Krawatte, und Peter Piechowiak fragt sich schon, weshalb dieser Herr hier ist, der so gar nicht zu den anderen Zuhörern passen will. Er ist übrigens auch der Einzige, der nicht mitlacht, sondern sich offenbar sehr genau umschaut, die anderen Leute, sogar Walter Traunstein, mustert, als ob er sie bis in deren tiefstes Inneres erkennen wollte. Als sein Blick an Peter Piechowiak hängenbleibt, stutzt er, und dann spielt ihm tatsächlich so etwas wie ein Lächeln um die Lippen, und er nickt ihm sogar zu. Aufmunternd.

Der Blick und das Lächeln irritieren Peter Piechowiak so sehr, dass er wegsieht, zu einer Frau hinüber, deren Alter er nicht einschätzen kann. Ist sie Anfang zwanzig oder doch schon Anfang dreißig? Oder sogar noch älter? Nein, das kann nicht sein. Auf jeden Fall sieht sie besser aus als die wild hingepinselte Frau hinter ihr auf dem Bild an der Wand. Peter Piechowiak wird das Gefühl nicht los, sie schon einmal irgendwo gesehen zu haben. Sie hat kurzes, dunkles Haar, und ihre dunkelblauen Augen ruhen scheinbar traurig auf Peter Piechowiaks Gesicht. Seine Gedanken werden jedoch von einer Bemerkung des Vortragenden abgelenkt.

„Ich glaube, ich fange jetzt an“, sagt Walter Traunstein und schiebt einige Zettel zusammen – nervös?

„Ach, was“, sagt der Mann am Eingang. „Wir haben doch erst kurz nach neun. Warten wir noch ein paar Minuten.“

„Na gut.“ Wenig überzeugt.

Peter Piechowiak mustert ihn halblaut. Er mag keine Leute mit Bart, erst recht keine mit Vollbart. Unwillkürlich streicht er sich über die eigenen stoppeligen Wangen. Auch mal wieder fällig … Er muss herausfinden, wie alt die Frau ihm gegenüber ist. Bei der schäbigen Beleuchtung jedoch ein Ding der Unmöglichkeit. So schäbig ist die Beleuchtung, dass die Frau sogar irgendwie verschwommen wirkt, wie hinter einer Glasscheibe oder unter Wasser.

„Wien“, hallt es erneut in seinen Ohrmuscheln. Und irgendetwas in der Weise, wie es klingt, deutet darauf hin, dass es sich dabei um etwas ganz Besonderes handeln muss. Die Lesung beginnt. Sie ist erstaunlich lang, Willi Be gähnt bereits seit einer Viertelstunde, aber im Anschluss erkennen wir Peter Piechowiak nicht mehr wieder. Wie verzaubert von den Geschichten, die da vorgelesen wurden, erscheint er. Trancegehen, wir müssen ihn gelegentlich davor bewahren, von einem Auto angefahren zu werden. Er duldet es, dass wir in seine enge Wohnung mitkommen. Von oben dröhnen die neuesten Disco-Songs und lassen Herz und Lungen und Magen vibrieren. Jetzt greift er zum Telefon, wählt und sagt: „Hallo? Hier Peter. Ich habe mich entschieden. Du kannst die Wohnung haben.“ … „Was soll das heißen: Weißt du, wie spät es ist? Bist du nicht froh?“ … „Was ich mache? Erst mal ’ne ganz große Reise.“ … „Kann ich genau sagen: nach Wien.“ … „So? Das ist doch Wahnsinn? Fahre ich, oder fährst du?“ … „Nein, ich bin’s leid, ganz einfach leid, mich irgendwo, irgendwie für umsonst zu engagieren. Und dieses Arbeitslosenselbsthilfezentrum kann mir den Buckel runterrutschen.“ … „Jetzt sei doch nicht gleich beleidigt … ach, ihr … ihr selbstlos Engagierten! Lebt doch gut von denen, die ihr betreut … ja, ja, ihr wollt nur alles Gute, und davon lebt ihr gut.“ … „Verdammt, willst du nun die Wohnung oder ja? Kannst mit den Sachen machen, was du willst. Wirf sie auf den Sperrmüll oder behalte sie.“ … „Ja, ich weiß, dass das Regal auseinanderfällt. Ist mir doch egal. Ich fahre morgen los. Gute Nacht!“

Er knallt den Hörer auf die Gabel, packt ein paar Sachen zusammen, so viel, wie halt in einen Rucksack hineinpassen. Dann geht er, schließt die Wohnungstür hinter sich ab und wirft den Schlüssel in seinen Briefkasten. „Die hat meinen Briefkastenschlüssel“, erklärt er uns, bevor er hinaus auf die Straßen geht. Noch mitten in der Nacht ist es, und auf dem Weg zum Bahnhof begegnet uns so gut wie kein Mensch. Willi Be wieder hellwach und ganz in seinem Element. Die Kamera fährt die Straße hinauf, hinab, an den Hausfassaden entlang, so schnell, dass sie völlig verschwommen werden in dem Schein der Laternen. Dann wippt das Kopfsteinpflaster unter uns, Peter Piechowiaks Beine steigen auf, fallen herab. An einer Straßenecke, da haben wir das Gefühl, als ob uns jemand beobachten würde. Willi Be richtet die Kamera dorthin, aber zu dunkel ist es, als dass wir etwas erkennen könnten.

Berührt Peter Piechowiak die ganze Nacht über alle Stätten, die ihm hier jemals etwas bedeutet haben. Das und die Nacht scheinen nur so lang zu sein, so endlos. Streift er alles, alles mit einem entschlossenen Ruck seines Kopfes beiseite, wie das halblange blonde Haare fliegt dabei!, wird alles ohne Bedauern hier zurücklassen.

Am Bahnhof, ja, die Schalter öffnen gerade. Göttingens Bahnhof rumort. Ach, und die Uhr springt so langsam von einer Minute zur nächsten. Der Intercity Prinz Eugen erwartet. Oder die Kaiserin von Österreich? (Dabei gibt es gar keinen IC mit diesem Namen.) Pizzageruch weht uns um die Nasen. Die Fahrt nach Wien gar nicht so billig. Prinz Eugen hat schon jetzt Verspätung. Lieber den Vorzug eines Vorzugs benutzen. Zumindest bis Passau schläft’s sich dann leichter. Und anschließend? Die E-Lok sieht nicht so aus, als ob sie wüsste, was „Anhalten“ bedeutet. Zwölf Uhr. Pfiff.

Zwölf Minuten aus vierundzwanzig Stunden. Willi Be filmt, bis der Vorzug entschwunden ist.

ZWISCHEN ZWÖLF UND MITTERNACHT

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