Читать книгу ZWISCHEN ZWÖLF UND MITTERNACHT - Alfons Winkelmann - Страница 11

Das blendende Licht

Оглавление

An diesem Abend, ausgerechnet an diesem Abend, verspürt er ein solch großes Verlangen nach ihr. Er hätte nicht sagen können, warum gerade an diesem Abend, an diesem Abend. Wie Elène so dasteht, wie sie dasteht in der Türe, ihr Büstenhalter zeichnet sich ganz deutlich unter ihrer dünnen weißen Bluse ab. Herr Börries sieht sie an, er sieht sie immer wieder an. Er sagt: „Gut siehst du aus!“ Und sie lacht und streicht sich eine Strähne ihres kurzen dunklen Haares aus dem Gesicht. Sie blinzelt, weil das Licht sie blendet, er hat einfach das Licht einschalten müssen, weil sie so dasteht.

Sie sagt: „Mach das Licht aus, es blendet.“

Er sagt: „Nein.“ Sie dreht sich um, und er sagt: „Bleib stehen, bitte, bleib stehen.“

Sie sagt: „Ich bin doch keine Stripperin, die sich im Scheinwerferlicht vor dir auszieht.“

„Doch, bitte, tu’s für mich.“

„Nein, nicht jetzt, ich hab’ heute keine Lust.“

Unten auf der Straße quietschen Bremsen. Herr Börries hört ein Splittern. Elène hört es gleichfalls, sie dreht sich wieder herum. Sie läuft so rasch an ihm vorüber, dass er sie nicht festhalten kann. Sie stellt sich ans Fenster und sieht hinunter. „Da ist jemand gegen die Laterne unten gefahren“, sagt sie mit ganz monotoner Stimme. „Er steigt jetzt aus und besieht den Schaden. Komisch, auf dem Beifahrersitz, das ist doch verboten, sitzt ein kleines Mädchen mit Rüschenbluse und blauem Rock. Es hält etwas Merkwürdiges im Arm. Ein Stoffherz. Die Laterne ist etwas umgeknickt, das Auto vorn verbeult. Er beugt sich über den Kotflügel.“

„Warum erzählst du mir das alles?“, fragt Herr Börries und überlegt, dass dort unten vermutlich kein kleines Mädchen sitzt. Wahrscheinlich will sie ihm nur zu verstehen geben, dass sie ihn durchschaut hat, und sie will ihn quälen – sich selbst nicht? Quält sie sich selbst mit ihrer Erzählung nicht?

„Warum erzählst du mir das alles?“, fragt Herr Börries jetzt erneut. „Es interessiert mich nicht, selbst, wenn’s stimmt.“

„Dich interessiert nie etwas, was ich sage. Du glaubst auch nie etwas von dem, was ich sage. Alles, was dich interessiert, alles, woran du glaubst, ist Ficken.“

Das stimmt nicht, denkt Herr Börries.

„Doch, das stimmt. Meinst du etwa, ich würde dich nicht kennen? Wir leben schließlich lange genug miteinander.“

„Genug, komm her“, sagt Herr Börries.

„Nein“, sagt sie. „Er begeht Unfallflucht, er steigt wieder in den Wagen, hat sich vorher misstrauisch umgesehen, ob ihn auch niemand beobachtet hat. Wenn er wüsste, dass ich ihn beobachtet habe, würde er jetzt nicht einfach zurücksetzen und losfahren, als wäre nichts geschehen. Das mit dem kleinen Mädchen kommt mir irgendwie komisch vor.“ Mit ganz monotoner Stimme.

„Du langweilst mich.“

„Müssen wir uns heute Abend schon wieder streiten?“

„Wieso?“, fragt Herr Börries. „Ich streite mich nicht, ich habe überhaupt keine Lust, mich zu streiten, mit dir sowieso schon nicht.“

Sie streicht sich über die dunklen Haare.

Sie will mich herausfordern, denkt Herr Börries.

„Ich hab’s gewusst, du bist verödet“, sagt sie. „Schon lange taugst du nichts mehr, schon lange frage ich mich, weshalb wir beide eigentlich noch zusammenleben.“

„Jetzt fängst du schon wieder damit an. Warum siehst du mich nicht an, wenn du mit mir sprichst?“

„Du ödest mich an. Wenn ich dich ansehen muss, bekomme ich vor lauter Öde kein Wort mehr heraus. Ich hätte mir die Autonummer merken sollen.“

„Wozu?“

„Na, das ist doch klar! Was meinst du, wenn jeder einfach davonfahren würde, nachdem er eine Straßenlaterne beschädigt hat. Und außerdem, die Sache mit dem kleinen Mädchen. Das kommt mir nicht geheuer vor.“

„Jetzt lass das kleine Mädchen aus dem Spiel und lenk nicht immer ab!“

Herr Börries nimmt die Zigarettenschachtel – verdammt, schon wieder! Warum lässt er sie immerzu einfach so in der Wohnung liegen? – Er zerknüllt sie und will sie in den Papierkorb werfen, trifft jedoch daneben. Die zerknüllte Zigarettenschachtel fällt auf den Teppich. Er ärgert sich darüber, bringt es jedoch nicht fertig, aufzustehen und sie aufzuheben. Die Zigarettenschachtel liegt genau unter der Lampe, die sie erst vor ein paar Tagen gekauft haben. Ein schwerer Messingleuchter, den er mit viel Mühe in die Decke gedübelt hat.

„Weißt du“, sagt Elène auf einmal, „wir sollten uns trennen. Wir haben uns nichts mehr zu sagen, was wir uns nicht schon hunderte von Malen gesagt hätten. Ich bin’s leid, immer dasselbe zu sagen.“

Herr Börries ist weniger erschrocken, als er vielleicht hätte sein müssen, denn sie hat nur ausgesprochen, was er selbst schon oft genug gedacht hat. Außerdem muss er bei ihren Worten an die Baronesse Angélique von Lichtblau denken. Aber er schiebt ihr Bild für den Augenblick beiseite. Oft genug, so überlegt er, hat er schon im Bett neben Elène gelegen und gedacht, dass es wohl besser wäre, sie würden sich trennen. Doch dann überkommt ihn erneut dieses Verlangen nach ihr. Nein, sie hätte es nicht gerade in dem Augenblick sagen dürfen, in dem er ein solches Verlangen nach ihr hat.

„Komm her“, sagt er, „bitte!“ Und er versucht, seinen Ärger über ihre Worte nicht in seiner Stimme mitschwingen zu lassen.

„Was faselst du da?“, fragt Elène. „Du bist doch ein Heuchler!“

Immer nennt sie ihn einen Heuchler, wenn er versucht, einen Streit dadurch beizulegen, dass sie miteinander ins Bett gehen.

„Nein“, sagt sie, „heute Abend bleibt dein Schwanz in der Unterhose, nein, heute Abend nicht. Ich bin es leid.“

„Du hast einen anderen“, sagt er, und wieder denkt er an die Baronesse. Sie beginnt zu lachen, lauthals zu lachen, so laut, wie er es von ihr schon lange nicht mehr gehört hatte. So laut und zynisch.

„Etwas anderes fällt dir dazu nicht ein“, sagt sie, immer noch lauthals lachend. „Das ist mal wieder typisch. Nein, du Heuchler, ich … und was wäre, wenn ich einen hätte? Was wäre, wenn?“ Sie hält kurz inne. „Und was ist denn mit dir?“

Er erschrickt. Weiß sie etwa von der Baronesse?

„Jetzt erschrickst du – oder spielst du nur den Erschreckten? Bestimmt spielst du nur den Erschreckten. Du kannst nichts anderes als spielen, das weiß ich doch genau.“

„Komm“, sagt er, „ich habe es nicht so gemeint.“

„Doch!“ Sie sieht ihm – jetzt auf einmal doch – direkt in die Augen. „Du hast es genauso gemeint, wie du’s jetzt gesagt hast, du kannst deine Liebe spielen, denn du weißt gar nicht, was das ist. Lieben. Du bist nur dann ehrlich, wenn du deinen Hass oder deine Gleichgültigkeit zeigen kannst. Du widerst mich an!“

„Aber du heuchelst deinen Hass“, sagt er.

Da spuckt sie ihm ins Gesicht.

„Pass auf, das Regal“, entfährt es ihm, denn sie lehnt sich dagegen, und es beginnt zu schwanken, so stark, dass ein paar Bücher herausfallen. Sie bückt sich und sammelt sie ein, behält sie aber in der Hand, anstatt sie ins Regal zurückzustellen. Herr Börries denkt schon, sie wollte ihm die Bücher an den Kopf werfen und dazu schreien: „Du und deine Scheiß-Bücher“, wie sie es häufig tut. Die Spucke rinnt ihm an der Wange herab, er zieht ein Taschentuch aus der Hosentasche und wischt sich das Gesicht ab. Dann sieht er sie an, weil sie erneut laut lacht.

„Wie dumm du jetzt aussiehst. Das hättest du nicht erwartet, stimmt’s?“ Er sagt nichts.

Da fällt ihr Blick auf die zerknüllte Zigarettenschachtel. Sie bückt sich wiederum. Im gleichen Moment knirscht etwas, und dann fällt der schwere Messingleuchter herab, ihr genau auf den Hinterkopf.

Er hat sie nicht umbringen wollen, ganz gewiss nicht, ganz gewiss hat er sie nicht umbringen wollen, besonders nicht an diesem Abend, an dem er doch ein viel zu starkes Verlangen nach ihr hatte. Ihre Augen werden ganz starr, er kann es sehen, ihre grünen Augen. Blut rinnt auf den Teppich, und der Gedanke fährt Herrn Börries durch den Kopf, ganz unwillkürlich: „Wie werde ich ihn bloß sauber bekommen?“

Weiß er doch genau, wie sehr Elène es hasste, wenn der Teppich verunreinigt war, sei es mit Straßenschmutz, sei es mit Rotwein oder Zigarettenasche. „Immer diese Rotweinflecken“, schrie sie stets, „die kriegt man doch nicht wieder richtig raus! Und diese Zigarettenasche!“ Dann hielt sie immer inne, sah ihn misstrauisch an. „Du rauchst doch wieder heimlich.“ Vergebens, dass er ihr versicherte, nicht er sei es, der die Wohnung mit Zigarettenasche verschmutzte. Natürlich glaubte sie ihm kein Wort.

Jetzt aber denkt er: Ich habe sie doch gar nicht umgebracht. Ich habe sie wirklich nicht umbringen wollen. Nicht in Wirklichkeit. Manchmal schon, wenn er abends im Bett neben ihr gelegen hat, hat er gedacht: Ich bringe sie um, dann bin ich sie ein für alle Mal los. Und wieder fährt ihm unwillkürlich der Gedanke an die Baronesse Angélique von Lichtblau durch den Kopf. So ganz deutlich kann er sie nicht erkennen, lediglich ihre kurzen, weißblond gefärbten Haare, den ausrasierten Nacken. Wie sehr gefällt es ihr, wenn er mit dem Finger darüberfährt. Doch dann sieht er wieder Eléne vor sich, unten auf dem Teppich, so starr. Ich habe sie in Wirklichkeit nicht umbringen wollen, denkt er. Nicht am heutigen Abend, selbst nach diesem Streit, der am Ende doch wieder im Bett geendet hätte. Das hätte gar nicht anders sein können. Dann wären sie wilder denn je, das war immer so. Endeten ihre Auseinandersetzungen im Bett, dann waren sie wilder denn je. Sie liebten sich bis zur totalen Erschöpfung, sie konnten gar nicht genug voneinander bekommen. Immer wieder, immer bis zur totalen Erschöpfung liebten sie sich. Aber jetzt liegt sie da ganz tot, ganz starr, sogar aus dem Mund fließt Blut. Der Dübel hat nicht gehalten, denkt Herr Börries, ich hatte den Dübel nicht fest genug in die Decke eingegipst. Sie hat gleich gesagt, der Dübel sitzt locker, aber ich habe ihr nicht glauben wollen, und da hat sie recht gehabt, denkt er, aber das ist jetzt auch gleichgültig. Und er überlegt, was er tun soll. Den Notarzt rufen? Der kann allerdings nicht mehr helfen. Die Polizei? Die Kommissare würden ihm nicht glauben, die würden glauben, dass er sie umbringen wollte, dass er sie erschlagen hat, vor allem, wenn ihnen die Nachbarn erzählen, dass sie sich an diesem Abend wieder gestritten haben. Das müssen die Nachbarn deutlich gehört haben, überlegt Herr Börries, dass wir uns heute Abend wieder gestritten haben. Sie ihrerseits hören ja auch, wenn die da nebenan sich laut unterhalten. Wie häufig hat Elène ihn unterbrochen, wenn er etwas sagte, wenn er sie ins Bett holen wollte, und gesagt, sie wolle hören, was die Nachbarn zu sagen hätten.

Ihn wundert es, dass noch niemand bei ihnen geklingelt hat. Es musste doch überall zu hören gewesen sein. Es hat doch, überlegt Herr Börries, einen Höllenlärm verursacht, als der Leuchter herabgefallen ist. Mein Gott, sie ist tot! Sie bewegt sich nicht mehr. Sie ist tot. Er hat es nicht gewollt, nein, niemals hat er das gewollt. Er denkt, er hätte den Messingleuchter besser eingipsen sollen, und er denkt: Was mache ich jetzt bloß, was mache ich jetzt bloß! Ihre Bluse ist ihr aus dem Rock gerutscht, das nimmt er zur Kenntnis, das bemerkt er, das registriert er, und er überlegt nicht, ob es angemessen ist, dass er in diesem Moment so etwas registriert. Er kann nicht die Polizei oder den Notarzt rufen. Wer würde ihm glauben, wer würde ihm glauben, hat er doch gestern noch zu seinem Kumpel Bernhard gesagt, dass er seine Frau manchmal am liebsten umbringen würde. Gestern, vorn an der Theke im Café Die Kaiserin von Österreich. Sie hatten zu viel getrunken, aber Bernhard erinnert sich bestimmt noch daran, und er würde es der Polizei sagen. Was soll Herr Börries jetzt also tun? Was kann er tun? Das Foto da drüben hängt schon wieder schief. Ist das nicht gleichgültig? Das Foto vom Teich. Vom Teich, vom stillen Teich, auf dessen glattem Wasser sich der volle Mond spiegelt (Welcher der Monde war das wohl?). Unser Teich, Elène, unser Teich. Du hast ihn immer so gern gemocht, so gern hast du dort gesessen, wenn es eine klare Nacht war und der Mond so auf das stille Wasser geschienen hat. Aber natürlich …

Ist die Filmrolle hier schon zu Ende, Willi Be? Schlecht. Genau in diesem Augenblick, wo’s offenbar interessant geworden ist. Ansonsten waren die Aufnahmen allerdings gut, ich glaube, die können wir verwerten.

ZWISCHEN ZWÖLF UND MITTERNACHT

Подняться наверх