Читать книгу ZWISCHEN ZWÖLF UND MITTERNACHT - Alfons Winkelmann - Страница 12

Begegnung

Оглавление

Diese ziellosen ersten vier Tage in der Stadt. Peter Piechowiak muss sich nicht auf einen neuen Rhythmus einstellen, sondern auf viele, allzu viele – viele, allzu viele Touristen, die ihre Heimat mit in die Kärntnerstraße tragen. Aus den Gepäckräumen der Busse strömt München, Split, Ulm, Kopenhagen. Die Kameras klicken auf Englisch, Französisch, Japanisch. Tokio kommt draußen in Schwechat am Flughafen an und quillt dann in die Stadt. Eine einzije jroße Weltfamilje. (Ist das ein Zitat, Willi Be?) Immer wieder vergebliche Versuche, sich via Dirndl und Kniebundhose zum Einheimischen hochzuadeln.

„Sache ma, wo is denn hier dat Hofbräuhaus?“

„Määnsch, Willi, dat is doch in Münschen.“

Da war auch Peter Piechowiak einmal zu Hause, obgleich er weiß, dass er da niemals mehr akzeptiert werden würde. Sind die dumpfen Kindheitserinnerungen an eine muffige Stadt. Aber die fliegen zu rasch übers buntgemusterte Dach des Stephansdoms davon. Vom Stephansdom ist er übrigens maßlos enttäuscht. Nichts mit vernünftigem Orgelkonzert. Er denkt: Fehlt bloß noch ein Getränkeautomat vorm Hochaltar. Geht er zur Untergrundbahn, findet dort eine alte, uralte Kirche mit einem verschwommenen Gesicht an einer der Wände. „Keiner weiß net, wer dös sein sollt.“

Träumt er in der folgenden Nacht, das Gesicht stiege zu ihm herab, legte sich neben ihn. Trat direkt aus der Wand. Hat er am Morgen kaum noch eine Erinnerung daran, wie es ausgesehen. Zum Gott sei Dank, die Tage schönwettrig. Er denkt an jedem Abend, entweder im Pensionszimmer, in der Pizzeria im Erdgeschoss oder im Café um die Ecke, er müsse nun seine Eindrücke des Tages notieren. Ein Tagebuch schreiben. Er schreibt nicht gern.

Manchmal streift er durch eine Buchhandlung oder ein Antiquariat, sucht müßig herum, denkt ab und zu an Perutz, findet jedoch nur selten ein Buch von ihm. Alles hält ihn in den ersten vier Tagen nahe der Kärtnerstraße, im 1. Bezirk. Als ob anderwärts etwas drohte. Häufig jedoch landet er bei Maria am Gestade, blickt hinunter auf die Straße, die zur Börse führt. (Börsegasse)

Er nimmt sich jedes Mal vor, diese Straße demnächst weiterzugehen. Schließlich wäre das der direkte Weg zu seiner Pension. Stattdessen immer zurück in die Innenstadt, die U-Bahn genommen, am Donaukanal ausgestiegen, sich durch ein paar Gassen geschlängelt. Kein Vertrauen zur Welt? Vielleicht, weil U-Bahnen vertrauter? Dabei in Göttingen keine U-Bahn. Wie einen Vulkan, den er erwartet und von dem er nicht weiß, ob er ihn gnädiglich aufzunehmen oder zu verbrennen gedenkt. Ein ungeheurer Himmel, an dem der halbe Mond (der zweite schon?) aufgehängt ward. Das an einem der vier Abende, an dem er zurück in die Pension ging.

Dort ein Zimmer: viel schmaler als hoch. Kein Telegramm von Tina oder … von wem sonst? Endgültiges Abbrechen von Brücken? Stattdessen die müde Nachttischlampe und kein Frühling.

Schließlich heiße Julinacht.

Das nicht die wesentlichen Geschehnisse, was, Willi Be?

Das stimmt. Welches jedoch könnten die wesentlichen Geschehnisse sein?

Dann packt Peter Piechowiak in der Kärtnerstraße doch seine Gitarre aus dem schwarzen Gitarrenkasten. Gesellt sich zu den Übrigen und singt. Die Tage zu strecken. Vielleicht fünfundzwanzig statt vierundzwanzig. Sieht er viele Menschen vorüberziehen.

Sieht er eine junge Frau mit langem blondem Zopf vorüberziehen, in Begleitung eines Mannes, der schon ein gutes Stück älter als sie ist. Der Mann trägt einen Anzug, ein weißes Hemd, Krawatte, die junge Frau ein weites buntes Sommerkleid. Sie wären ihm vielleicht gar nicht weiter aufgefallen, wenn nicht der Mann so abrupt stehengeblieben wäre und Peter Piechowiak so grimmig, grimmig, ja!, angesehen hätte, dass er aufmerksam werden musste. Die junge Frau lässt den Blick aus braunen Augen zwischen ihrem Begleiter und Peter Piechowiak hin- und hergehen. Sieht er sie erst jetzt richtig an.

Das sind die Augenblicke, denkt er, da einem niemals das eine, das entscheidende Wort einfällt. Solange die beiden vor ihm stehen, vermag er nicht weiterzusingen. Er tut so, als müsse er die Gitarre nachstimmen. Ein Schatten tritt vor ihn auf den Boden. Der Schatten hebt die Hand und lässt eine Münze in den Gitarrenkasten fallen. „Danke“, haucht Peter Piechowiak schattengleich. Der Schatten wirf den langen Zopf auf den Rücken, bevor er verschwindet. Finger zittern, als sie die Saiten niederdrücken.

Nun denn, ist die Stimme zittriger denn je, sind die Finger schweißfeuchter denn je, vergisst er öfter denn je den Text. Der Tag verdorben fürs Singen. Die Kärtnerstraße wie nicht vorhanden. Was ist das unter ihm? Straßenpflaster? Er bleibt stehen, bückt sich, betastet die Steine: heißes Straßenpflaster. Manche der Passanten schütteln den Kopf, die meisten nehmen ihn nicht wahr, nicht in ihr Gedächtnis auf – Kieselstein im Fluss.

„Suchen S’ was?“

„Ja, einen Schatten … nein, nichts, danke.“

Das jähe Schaudern in der Hitze.

Ist doch gar nichts gewesen, gar nichts weiter. Und noch lange nicht das Tagessoll erfüllt. Ein Schatten, mehr nicht. Stehenbleiben von Gedanken. Wie bewusstlos werden bei vollem Bewusstsein. Er weicht denen aus, die ihm entgegenkommen, er sieht nach links, bevor er die Einbahnstraße beim Stephansdom überschreitet, er registriert die Würstl-Bude weiter unten auf der Straße, er spürt seinen Hunger, er weiß, dass er ihn mit einem Hot-Dog oder ein Paar Frankfurtern annähernd, provisorisch, stillen könnte.

Maria am Gestade. Vor sich die Börsegasse, die er bisher noch nie betreten hat. Breite Stufen hinab zur Straße. Wien-Teenies, die sich ihre Disco via Walkman in den Schädel hämmern. Hast du diesen Gedanken aufgenommen, Willi Be? Klar, wird sich in der Szene gut machen.

Die Sonne brüllt gnadenlos aufs Pflaster, ein Gewitter scheint möglich – zunehmende Schwüle am Nachmittag. Zum Glück schirmen die Bäume die unmittelbare Glut ab. Vorüber am Rotbacksteinbau der Börse. Schottenring. Parkspur. Trambahnschienen. Straße. Trambahnschienen. Parkspur. Der Fußgängerüberweg direkt auf eine Buchhandlung: Buchhandlung Börries, von der anderen Straßenseite gerade noch lesbar. Eingeklemmt zwischen einem Modelleisenbahn-Geschäft und einem Münzgeschäft. Tabak gibt’s in der Trafik – Was interessiert Peter Piechowiak Tabak? –, Pelze in der Kürschnerei. Die Altkatholiken im dritten Stockwerk überspringt er gleichgültig. Nur die Buchhandlung. Kannst du dir denken, Willi Be, weshalb ihn gerade die Buchhandlung interessiert? Kann ich nicht, aber wir werden’s ja bald merken.

Das Schicksal ein gütiges. Aber wer spricht denn hier von Schicksal? Wer glaubt denn noch daran? Das ist alles der purste Zufall.

Dass Peter Piechowiak seinen Schatten in der Buchhandlung Börries wiederfindet – ausgerechnet hier.

„Sie wünschen?“

Von nun an gibt’s kein Zurück mehr. Einmal diese braunen Augen, einmal dieses bezaubernde Lächeln gesehen, auch wenn's lediglich geschäftsmäßig gemeint ist,– dort draußen vor der Tür liegt Wien, und hier drinnen die Ewigkeit.

Dreh die Blende gut zu, Willi Be, so viel Pathos führt leicht zu Überbelichtungen!

„Haben Sie Bücher … Bücher …“

„Natürlich haben wir Bücher.“

Diese urherzliche Ironie, dieser labende Spott.

Peter Piechowiak bringt es fertig zu lachen.

„Das weiß ich, dass Sie Bücher haben.“

Die junge Verkäuferin lacht mit.

„Sie meinen natürlich ganz bestimmte.“ (Oh Herrlichkeit der Trivialität!)

„Ja, nämlich von einem gewissen Perutz, wie die Filmmarke.“

Willi Be grunzt. Von der hält er überhaupt nichts.

Die junge Verkäuferin geht an den Regalen entlang – Alphabetismus. Rasch bei „P“ angekommen. Bückt sie sich, zieht zwei Bücher heraus. „Ja, hier, sehen Sie? Das ist aber leider auch alles, was wir momentan vorrätig haben. Wenn Sie einen bestimmten Titel wünschen, können wir ihn natürlich bestellen. Morgen ist er da.“

Sie reicht ihm die beiden Taschenbücher. „Zwischen neun und neun“, „Nachts unter der Steinernen Brücke“. Peter Piechowiak hätte die Bücher gekauft, selbst wenn er sie schon neun Mal besessen hätte. Er besitzt sie jedoch nicht.

„Kennen Sie die Bücher?“

„Nur das eine, das von der Steinernen Brücke. Rose und Rosmarin, eine wunderschöne Geschichte.“

Willi Be, Kamera drauf: In ihren Augen glitzert’s verdächtig. Romantik, vor allem romantische Mädchen machen sich in einer Reportage immer gut.

„Ich nehme die beiden Bücher.“

„Kommen Sie bitte mit.“

Er geht hinter ihr, riecht den leisen Schweißgeruch. Und erst jetzt fällt ihm auf, dass da neben der Kassa ein Mann steht, in einem Anzug, und dass dieser Mann ihn offensichtlich missvergnügt ansieht. Er versteht das Missvergnügen nicht, hat er doch gerade zwei Bücher gekauft.

Die Finger der jungen Verkäuferin gleiten geschickt über die Tasten der Kassa.

„Macht hundertzehn Schillinge.“

Peter Piechowiak kramt in den Taschen seiner Jeans, zieht ein paar zerknüllte Papiertaschentücher ans Licht, einen Radiergummi, ein Plektron und endlich, endlich, einige Scheine. Der Mann im Anzug, wahrscheinlich Herr Börries, denkt Peter Piechowiak, rümpft die Nase, und Peter Piechowiak stopft hastig die zerknüllten Papiertaschentücher zurück in die Hosentaschen.

„Das ist aber nicht genug.“

„Wie bitte?“

Die junge Verkäuferin hat die Scheine glattgestrichen.

„Das sind erst neunzig Schillinge.“

„Entschuldigen Sie. Ich bin noch nicht sehr lange in Wien und komme mit den Schillingen immer noch nicht so ganz klar.“

Er kramt weiter, stößt auf Münzen, sammelt sie in die hohle Hand, zählt nach, wobei er ab und zu eine Münze genau betrachtet. „Ich glaube, jetzt reicht’s.“

Die junge Verkäuferin zählt nach.

„Ja, stimmt. Und jetzt müssen wir uns eine Weile auch nicht mehr ums Kleingeld sorgen.“

Peter Piechowiak errötet. Sie bemerkt’s, ja, sie bemerkt’s. Wenn man noch mehr könnte als erröten, jetzt geschähe es Peter Piechowiak. Aber sie lächelt wieder ihr bezauberndes Lächeln (tatsächlich rein geschäftsmäßig?), und er erträgt’s.

Als Peter Piechowiak das Geschäft verlässt, nur einen Gedanken: Wie würde das werden? Das Funkgerät mit größter Kraft senden lassen, und drüben kein Empfang, weil sie ihrerseits woandershin mit voller Kraft sendet? Und empfängt? (welcher Doppelsinn!) Oder überhaupt nicht sendet? Oder gar nicht senden will? Jähe Trauer. Er hat er vergessen, einen Stamm zu gründen. Rechtzeitig. Seine Tage sind doch schon längst vorüber. Was jetzt noch kommen kann, ist lediglich kindischer Nachschlag: Sie wollen in den Gesellschaftswagen der wahren Lebenden einsteigen? Wie langsam, denken Sie, fahren wir? Nur wer seine Knochen beisammen hat oder eine Frau oder ein kleines Kind auf dem Arm trägt, schleppt, hat eine Chance. Was denken Sie!

Woher diese jähe Niedergeschlagenheit? Das Pflaster federt nicht mehr unter den Turnschuhen, die Hauswände zerkratzen erbarmungslos die Haut, wenn er daran entlangstreift. Das Restaurant Almhütte, wo er hat essen wollen, natürlich geschlossen. Wien fällt über ihm zusammen. Was zu erwarten? Wie viel Tage bleiben zum Überleben? Eine Zeit lang könnte er die Banken noch mit ungedeckten Euroschecks täuschen. Wie schnell die Welt zusammenschnurren kann! Drei, vier Nächte, und das Essen aufs Frühstück zurückstutzen. Fünf Nächte bei gutem Verdienst in der Kärtnerstraße.

Lacht er laut auf. Hat er sich bei seiner Kopfrechnung geirrt. Mark statt Schillinge gerechnet. Dennoch – mehr als fünfundzwanzig weitere Tage stehen ihm nicht mehr zur Verfügung. Fünfundzwanzig weitere Tage – die halbe Ewigkeit. Und die ganze – wo zu finden?

Im Hotel wirft er sich aufs frisch gemachte Bett. Welch ein Tag! Oh, ist das eine Liebe, so tief aus dem Bauch heraus – sie geht wirklich durch den Magen.

Er könnte heulen vor Glück und Elend. Und draußen vor der Tür wartet der Ernst, genannt das Leben. „Ich glaube“, sagt er vor sich hin, und er weiß es gar nicht, dass er es laut sagt, „wir können hinausgehen und uns ihm stellen, liebe junge Verkäuferin – vertrauen wir einander.“ (Wie absurd - kennen sie sich doch gar nicht.)

Und weiter: „Versichern wir uns hier einmal nicht gegen Blitz und Hagelschlag. Versichern wir uns nicht. Seien wir unvorsichtig, gehen wir ohne Macheten in den brasilianischen Dschungel. Vielleicht küsst uns die schwarze Witwe ja nicht. Der Herr Kaiser – „Hallo, Herr Kaiser!“ – soll uns gestohlen bleiben. Gönnen wir uns die Verantwortung, uns! Sind wir denn dazu da, mühelos durchs Leben zu gleiten?“

Und vom Hals der Rotweinflasche tropft der Wein wie Blut. Die Tür zum Hotelzimmer presst sich so bescheiden in die Ecke. Fürchtet sie sich vor den hohen Wänden und der Schmalheit? Vor dem alten, zerbrochenen Kronleuchter? Der fällt schon nicht herab. Etwa vor der Bibel? Sprich zur Weisheit: Du bist meine Schwester, und nenne die Klugheit deine Freundin, dass sie dich behüte vor der Frau des andern, vor der Fremden, die glatte Worte gibt.

Wie kann so etwas zur Weltreligion werden? (Nach einer Literflasche Rotwein ist alles möglich.) Lass mich niemals so ’n geistiger Vorfurzer wer’n.

Schrank verdoppelt, Kronleuchter verdoppelt, Tür verdoppelt, alles verdoppelt. Ich verdoppelt. Nur Liebe einzig.

Dem Schaukeln nach zu urteilen befindet sich Peter Piechowiak auf dem Teppich des Abdullah im Prater. Warten auf den Überschlag. Zu viel Flüssigkeit im Bauch.

Am Morgen kriecht ein dicker schwarzer Kater über die Bettdecke. Peter Piechowiak öffnet das Fenster, aber so schnell lässt sich das Vieh nicht vertreiben. Sein Kopf behäbig auf den Kissen.

Nun gilt’s, täglich den Weg zu Maria am Gestade zu suchen. Und zwischendurch Buchhandlung Börries. Heute die junge Verkäuferin nicht da. Herr Börries weidet sich offensichtlich an Peter Piechowiaks Verlegenheit. Hat er doch kein Geld mehr für Bücher. Hat er eigentlich auch nie gehabt.

„Suchen Sie etwas Bestimmtes?“

Natürlich sucht er etwas Bestimmtes. Aber das Bestimmte ist nicht da, und Herr Börries weiß es, natürlich. Oh, dieses falsche, falsche Lächeln.

„Nein, danke, ich wollte mich nur ein wenig umsehen.“

Wie ein geprügelter Dieb verlässt er das Geschäft. Gewitterdampf auf den Straßen. Das würde keiner der guten Tage werden. Geht Peter Piechowiak nicht in die Innenstadt, kehrt lieber in die Pension zurück – da putzen sie gerade die Zimmer. Wohin jetzt? Die Treppe wieder hinabgehen, sich den Kopf stoßen (zum wie vielten Mal?): Wohin sich wenden in dieser schweren Zeit? Vielleicht hinüber zur Strudlhofstiege? Setzt er sich in den Liechtensteinpark auf eine Bank und kann mit den Skulpturen vor sich auf dem Rasen nichts anfangen. Bleiben sie noch nicht einmal schemenhaft im Gedächtnis. Ob er nicht doch lieber nach Göttingen? Dort hätte er zur Not immer gewusst – jetzt hier. Und hier will er sein. Dösen. Während das Gemurmel der Stadt sich durchs Tor auch in seine Ohren drängt. Oder doch über die Porzellangasse treiben? Über den Broadway von Wien, wie lächerlich! Viel zu kurz zum Sammeln der Gedanken. Treiben wie das schmutzige Wasser des Donaukanals.

Im Anfang schuf Peter Piechowiak Himmel und Seele. Und die Seele war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe, und der Geist Peter Piechowiaks schwebte über dem Wasser des Donaukanals. Und Peter Piechowiak sprach: Es werde Licht.

Und es ward Licht?

Und Peter Piechowiak sah, dass das Licht gut war. Da schied Peter Piechowiak Göttingen von Wien und nannte Wien Tag und Göttingen Nacht. Da ward aus Abend und Morgen die Liebe.

Jeder hat nur eine Liebe, auch wenn er oftmals liebt.

Niemals hat er seine Stümpfe kauterisieren lassen, wie so viele seiner fortschrittlichen Freunde und Freundinnen. Ein Fossil, ein Relikt, eine Unmöglichkeit in den elysischen Gefilden unserer schönen neuen Welt. Gut genug für den Zoo.

Tina: „Ja, ich liebe dich, aber das will weiter nur so viel bedeuten, dass ich genauso gut mit Reinhard eine Nacht oder einen Tag im Bett verbringen kann. Garantieren kann und will ich dir nichts. Ich spüre so viel Liebe in mir, dass sie für mehr als einen allein ausreicht.“

Karina: „Ich möchte mich mal wieder so richtig verlieben. Dass mir die Tränen kommen, von mir aus, dass ich mich unglücklich fühle, aber ich will wieder lieben, Peter. So, wie’s bei uns zu Beginn war.“

Günther: „Diese bürgerliche Einehe war doch sowieso sofort zum Scheitern verurteilt.“

Peter Piechowiak hört nicht mehr weiter hin. Ist ganz unbewusst in die Kärtnerstraße zurück. Den geöffneten Gitarrenkasten umlagern einige frühzwanziger Alternativ-Tripler. Peter Piechowiak singt forsche Freiheitslieder, die tief betroffen machen – und alles nickt Beifall. Nur Knete gibt’s keine.

Bald entlädt sich – endlich – das Gewitter. Peter Piechowiak flüchtet nicht wie die Übrigen, sondern rafft erst mal die paar Schillinge zusammen, verstaut seine Gitarre, die darf nicht nass werden.

Maria am Gestade, Börsegasse. Die Haare klatschnass im Nacken, Hemd und Hose völlig durch. Der Guss schon wieder vorbei. Auf dem Schottenring glitzert die Stadt. Buchhandlung Börries. Herr Börries noch immer allein im Geschäft.

Willi Be: Der Typ langweilt mich allmählich.

Ich: Halt den Mund, Willi Be, da geschieht noch was, ich hab’s im Urin.

Willi Be: Ferkel.

Ich: Siehst du?

Peter Piechowiak will gerade wieder gehen, da kommt die junge Verkäuferin auf ihn zu. Sie will an ihm vorübergehen, stutzt, und dann lächelt sie. Sie kann bezaubernd lächeln.

„Ach, Sie.“

Wieder nicht das rechte Wort finden, welch ein Tölpel er manches Mal ist.

„Wollen Sie zu uns?“

„Ja, nein, nicht direkt …“

„Ich habe im Augenblick keine Zeit“, sagt sie, „wenn Sie so gegen ein Viertel sieben kommen wollen?“

Verschwindet sie im Geschäft. Peter Piechowiak wie betäubt von ihren Worten. Sie fand die rechten. Geht er langsam um die Ecke, wird er dort beinahe von der Automeute an der Kreuzung überfahren. Das Pensionszimmer wieder frei.

Drei Stunden müssen die Uhrzeiger nun abfahren. Am Tisch sitzen, die Uhr vor sich, beobachten, wie lange hält er das aus? Kein Gedanke. Das Schlagen der Gardine hinter ihm. Die Luft merklich frischer nach dem Guss. Das Knarren von Schritten draußen im Flur. Gelächter, Worte in einer Sprache, die er nicht versteht. Und die Zeiger kommen nicht voran. Ja, die Zeit, die trägt zweierlei Schuh', in dem einen hinkt sie, in dem anderen springt sie. Rollt offenbar eine Tram über die Porzellangasse. Fahren, denkt Peter Piechowiak, fahren. Vielleicht geht’s dann besser. Bleibt sitzen. In einem Irrgarten auf der Stelle treten.

Alle alten Ängste holen ihn ein (Hat er sie nicht in Göttingen zurücklassen wollen?): Das alte, älteste Spiel der Welt, wie oft schon trotz aller scheinbaren Gewinne verloren, immer wieder verloren. Kann man das überhaupt je gewinnen – kann man das alte, älteste Spiel der Welt jemals gewinnen? Und heute? Was besagt eine hingeworfene Bemerkung? Und wieder sackt ihm der Fußboden unterm Stuhl weg, wie damals, bei dem kurzen Erdbeben. Sieht er die Sterne vor sich und stürzt, stürzt, stürzt zugleich nicht. Im Weltraum kann niemand stürzen.

Peter Piechowiak fährt sich über die stoppeligen Wangen, springt auf. Wieder etwas, die hinkende Zeit zu überlisten. Der Rasierapparat summt, kratzt die Stoppeln beiseite, kratzt ein paar Minuten beiseite. Die Wangen glatt, rasch noch einen Pickel auf der Nase ausdrücken. Ja, natürlich, die Uhrzeiger ein bisschen weitergekrochen. Sich doch noch einmal der Bibel widmen? Denn es geht dem Menschen wie dem Vieh. Wie dies sich zu vermehren trachtet, so will auch er sich vermehren. Nun, damit kommt Peter Piechowiak nicht aus. Wirft er sich aufs Bett. Schließt er die Augen und nickt tatsächlich ein. Knallt das Fenster zu und ist plötzlich Sturm und Regen. Darf er seinen Schirm nicht vergessen, nachher. Steht er auf, mittlerweile vier Uhr. Läuft er vom Fenster – der Regen sprüht ins Zimmer wie Rausch – zur Türe, daneben das Waschbecken. Hat er vorhin vergessen, das Waschbecken zu säubern, jetzt nachgeholt.

Willi Be schläft hinter seiner Kamera ein, es gibt einfach nichts Neues aufzunehmen. Unangenehm, aber nicht zu ändern – tut das einzig Richtige: lässt den Kopf auf die Brust fallen und schnarcht.

Ich: He, Willi Be, aufwachen, es ist Zeit.

Willi Be: Hä? Was ist denn?

Ich: Zeit, zu gehen.

Was in den vergangenen eindreiviertel Stunden geschehen ist, entzieht sich dank Willi Bes Schlaf leider unserer Kenntnis. Das sind halt die Kompromisse, die man bei einer Reportage immer eingehen muss.

Sechs Uhr. So eilig hat’s Peter Piechowiak bislang in Wien noch niemals gehabt. Endlich ein Ziel. Und dann ein solches Ziel!

Er begegnet der jungen Verkäuferin, wie sie gerade das Geschäft verlassen will.

Plato erzählt vom frühesten Menschen, einem Vierfüßler mit zwei Geschlechtern. In einer entsetzlichen Nacht, in einem von Kräften des Bösen erzeugten Sturm, wurden alle Menschen entzweigerissen, und seither sucht jeder seine andere Hälfte. Jeweils zwei verschiedenen Geschlechts können versuchen, sich zu ergänzen, aber gewöhnlich ist das auf irgendeine Weise unvollkommen. Wenn jedoch ein Teil seine wahre andere Hälfte findet, kann keine Macht der Erde sie voneinander fernhalten oder wieder trennen, sobald sie sich vereinigt haben.

Wer redet hier von Macht? Der Gewittersturm ist doch wirklich harmlos! Aber wir reden von Wahrheit, von der einen und einzigen Wahrheit.

Die ersten vier ziellosen Tage in Wien vorüber. Die nächsten Tage werden folgen, gewiss, gewiss. Jedoch nicht mehr ziellos.

Noch so viel gibt’s zu erzählen, auch angesichts der möglichen Weltkatastrophe.

Doch was die Liebe einmal zusammengefügt hat, das wird auch die böseste Macht nicht mehr trennen.

Gönnen wir uns, Willi Be, einmal den Rausch des absoluten Glücks? Bevor wir uns im weiteren Verlauf auch wieder etwas völlig anderem zuwenden, nämlich dem absoluten Unglück?

ZWISCHEN ZWÖLF UND MITTERNACHT

Подняться наверх