Читать книгу Das Feiglingsspiel - Alfonso Toledo - Страница 5
A1-C6 und das Interesse an der Übernahme der Erde
ОглавлениеIn derselben Phase machte sich A1, Boss und Ethikwahrer des Sternensystems Regula Proxima, tiefgreifende Gedanken über seine neuesten Erkenntnisse die Erde betreffend. Die Menschen - wie sich die Erdenbürger nannten – drehten durch, so reflektierte er. Was ihnen völlig abginge, sei die Vernunft. Sie handelten nach allen möglichen Regeln, nur nicht nach den Regeln des verantwortlichen Denkens und Handelns füreinander. Diese Verantwortung schien ihnen völlig abhandengekommen zu sein. Es war so, als wenn er sein Haustier „Malte“ anstelle der Backform in den Ofen gesteckt hätte. Ihm fiel ein neuestes Beispiel ein, nüchtern, trocken und wenig spannend, eher etwas Übliches, das ihm seine Spione gemeldet hatten. In einem Land der Erde wird ein neuer Flughafen geplant, zu berechneten Kosten von 2,5 Milliarden Erden-Euro. Ein paar Jahre später sollte die Umsetzung des gleichen Projektes im gleichen Land 6,6 Milliarden Euro kosten. Bisher waren aber nur einige unbrauchbare Betonplatten gelegt worden. Wahrscheinlich auch noch an der falschen Stelle. Eine Wiese mit halbtrockenen Gräsern sprieße aus den Ritzen hervor, meldeten ihm seine Spione.
Ganz nebenbei wurde berichtet, ein Zusatzgebäude auf dieser seltsamen Wiese verschlänge schlappe 3 Milliarden Erden-Euro. Also, wie die Ingenieure in diesem Land mathematisch gut feststellen konnten: 164% mehr. Wo zum Teufel ist das Geld geblieben? A1 überlegte: Ein Goldesel, der einen Teil seiner Münzen in andere Ställe scheißt? Da muss irgendwo ein Rohr geplatzt sein, das unbeschränkt Gelder verzehrt e . Der Bleistift des berechnenden Ingenieurs hatte sich selbständig gemacht und fuhr nun wirr über das Papier.
Wie verrückt würden diese Menschen noch werden? Ob da nicht …? Er nahm sich vor, das zu untersuchen. Und eben gleich kam ihm dieser Gedanke über die Reparatur und Wartungskosten der Gorch Fock, eines Segelschulschiffes der deutschen Marine. Geplante Kosten 10 Millionen Euro, nach ein paar Jahren gestiegen auf weit über 100 Millionen und die Arbeiten waren noch nicht einmal richtig begonnen. Mit ein paar Worten wischte das entsprechende Ministerium die Fragestellungen zu der Kostenexplosion vom Tisch. Das war‘s, oder denkt jemand etwas Böses dabei?
Dabei grenzt der Vorgang ohnehin an Betrug. Das Geld, um das es geht, das angeblich aus der Regierungskasse kommt, ist dennoch nicht das Geld das der Regierung oder dem Ministerium gehört. Es sind die Steuern oder Gebühren aus der Wirtschaft, von der Bevölkerung oder andere Gewinne. Die Regierung ist ausschließlich für die gute Anwendung dieser Kapitalien zuständig. Politiker und Verwaltungsmitarbeiter haben ausschließlich die Verpflichtung, mit diesem Kapital sorgfältig umzugehen, und nicht die Summen am Fenster hinauszuschleudern. Ein solches Vorgehen zeigt nicht nur Unfähigkeit, sondern es kommt dem Betrug sehr nahe.
Eine seltsame Menschheit, dachte A1, Zeit zum Handeln, sinnierte er.
In dieser bisher den Menschen unbekannten Kreisbahn um ihren roten Zwerg, da kannte man sich selbst aber ebenso gut die Erde und ihre Beschaffenheit, wusste von deren Bewohnern und ihren hausgemachten Problemen, von den Missachtungen gegen die Natur, die von Erdenmenschen besonders bevorzugt wurden. Man konnte sich ausmalen, was sie für bedeutend hielten, was sie in naher Zukunft tun würden, wie sie dachten und mit welchen Schwierigkeiten sie zu kämpfen hätten.
A1 hatte eine Erdentruppe gebildet, die von Zeit zu Zeit einen Besuch dort abstattete, um Genaueres über den Zustand und das Verhalten zu erfahren: eine Spionageeinheit, die sich in das Geschehen eines anderen Planeten einmischte. Das war eindeutig nicht korrekt. Aber aus besagten Gründen betrachtete er dieses Verhalten als notwendig. Im Weltraum war jeder Planet abhängig vom anderen und sie beeinflussten sich gegenseitig. A1 hatte bisher keinem seiner Informationszuträger seine wahren Hintergedanken diesbezüglich verraten.
Sein Planet 'Akriba', den der Astrophysiker Whitehurst vergeblich zu finden suchte, ebenso wie der dazugehörige bekannte Stern 'Regula Proxima', wiesen ein viel älteres Dasein als die Erde auf. Sein Ursprung lag fünfhundert Millionen Jahre vor der Entstehung des Planeten der Menschen. Damit hatten alle Entwicklungen auf seinem Planeten eine halbe Milliarde Jahre vor der Erde stattgefunden. Die Konsequenzen konnte sich jeder, der ernsthaft daran interessiert war, ausmalen. Ohne wenn und aber aber auch ohne jeden esoterischen Müll.
Das, wonach die Erden-Sternengucker tagtäglich Ausschau hielten, war für A1 das Normale: die Kenntnis von der Anwesenheit anderer bewohnter Planeten und anderer Lebewesen.
Die Menschen hatten sich zum Ziel gesetzt, ihren eigenen Planeten zu vernichten. Passten sie ihn damit ihrem zerstörerischen Denkmuster an? Oder glaubten sie an die Rettung durch einen lieben Gott? Das letzte könnte zutreffen, dachte A1, eine Rettung durch uns, die Akribaler, aber erst, wenn die Menschen dahin gegangen sind.
Er und seine Mannen hatten bisher noch nicht feststellen können, woran das seltsame Verhalten auf der Erde gelegen hatte. Allerdings, das veränderte Ergebnis war überdeutlich sichtbar geworden. Und das führte ihn jetzt zum Handeln.
Was hatten sie mit der Erde zu tun, warum auf einmal diese mehr oder weniger entstehende Hektik? Warum auch fiel in vermehrtem Maße das Wort von der Übernahme der Erde?
A1 gab sich selbst die Antwort, riss die Geschichte der Planeten noch einmal an. Sie hatten die Erde bereits vor ein paar Millionen Jahren entdeckt. Ein wunderbarer Planet, der mit zu den schönsten im All zählte und für sie, die Akribaler, am ehesten zu erreichen wäre. Wasser, Wälder, Wiesen, Luft, Erde, ein harmonisches Miteinander der Elemente ermöglichte es Körperwesen, ein heilsames Leben zu führen. Seine Vorfahren hatten immer wieder den Kontakt zur Erde gesucht, um einen schöneren Platz für ihr eigenes Dasein zu übernehmen. Doch dann hatten sie Menschen auf der Erde entdeckt. Gemäß den Richtlinien des Planetenrates sollten sie diese Wesen sich frei entwickeln lassen. Keine Beeinflussung der Selbstbestimmung der Menschen, hieß das Credo. Als Ergebnis dieser Vorschriften hatten sich die Akribaler zurückgezogen. Leider hatten sie immer wieder feststellen müssen, wie intensiv die Menschen mit Vernichtungskriegen beschäftigt waren. Und nicht nur das. Sie hielten von Anbeginn an das, was Ihnen wirtschaftlichen Erfolg brachte für gut, sogar für wünschenswert.
Und nun mussten sie bei neueren Besuchen eine dramatische Veränderung auf der Erde miterleben. Der wunderschöne Planet war dem Untergang geweiht. Nicht durch den Eingriff fremder Mächte. Die Menschen ließen nichts aus, um die Elemente, die zuvor so bewundert wurden, selbst zu zerstören und dort ein Leben von Körperwesen unmöglich zu machen. Sie verhielten sich wie ein Ehemann, der im Streit seiner Frau eine Tasse an den Kopf warf. Sie fiel um und war tot. Er weinte bitte Tränen, aber zu spät.
Die Erdenbewohner schickten sich an, sich selbst in den nächsten fünfzig Jahren in der Weite des Weltraumes zu ersticken. Sie taten das so zielorientiert, als gingen sie nach einem Plan vor. Wissenschaftlich hatten sie die Gefahren und den drohenden Untergang längst berechnet. Sie konnten es ihren Artgenossen beweisen. Und dennoch, beinahe jeder dieser verantwortungslosen Typen versuchte, seine Tasche zu füllen, und das stand im krassen Gegensatz zum Schutz der Natur und des Lebens schlechthin. Das schien das Hauptproblem einer verantwortungslosen Klicke zu sein.
A1 schüttelte den Kopf, als er sich vorstellte, wie einige dieser Menschen mit Säcken voller Erden-Geld auf dem Buckel durch den Weltraum streiften, um sich irgendwo niederlassen zu können. Allerdings der Erden-Dollar und der Erden-Euro waren woanders nicht einmal eine Beere wert.
Die Menschen hatten die Liebe verloren. Sie liebten nur noch Geld und Sex, den sie irrtümlich mit Liebe verwechselten. Es hieß bei ihnen, lass uns Liebe machen. Sie meinten aber den Sex. Liebe dagegen heißt, den anderen, jeden anderen ebenso zu lieben, wie sich selbst. Wer den anderen liebt, wird ihn nicht töten können. Im Gegenteil, er wird dafür sorgen, dass auch der andere ein gutes Leben führen kann. Oh Vernunft! Wie weit schienen die Menschen von solch einem sinnvollen Leben entfernt zu sein!
Geld, Geld und nochmals Geld. Sie verstehen es, mit mehreren Milliarden auf ihrem Konto zu sterben. Haben nicht die geringste Ahnung davon, dass sie beim Wiedereintritt in das nächste Lebensdasein nicht einen Cent davon haben werden?
Nein, dieses Bewusstsein ist ihnen verloren gegangen. Hätten sie es, würden sie in dieser Richtung verantwortungsvoller handeln und ihr eigenes Dasein für demnächst besser vorbereiten. Sie kehren zurück auf dieselbe verdreckte Erde, die bis dahin eventuell völlig atomar verstrahlt ist. mit einem kaputten Klima, mit einer nicht atembaren Luft, weil man doch als Politiker angeblich mit Einschränkungen und Fahrverboten sehr verantwortungsvoll umgehen müsse. Sie prägten das elende Wort „Verzichtgesellschaft“, die sie nicht haben wollten und machten mit diesem Ausdruck Werbung für ihre Wiederwahl. Versuchten sie zumindest. Was eine solch hohle Aussage wohl bedeutete? Dass die gleichen Politiker bereits vorher verantwortungsvoll die Erdenluft und die Lebensbedingungen hätten schützen können, diese Idee ist eine Sternenwelt von ihnen entfernt. Den Managern der Luftverschmutzung schon lange.
Sein bester Mann, C6, befand sich zurzeit wieder in seinem Auftrag auf der Erde. Er selbst, A1, hatte ihm einen Erdenkörper verpasst. Mit diesem konnte C6 dort prahlen. Die Anerkennung von Körpern hielt sich auf Akriba in Grenzen. Auf der Erde wurde auf solche Dinge größter Wert gelegt. Demnach würde A1 ihn wieder zur Ordnung rufen müssen, allzu deutlich hatten seine Beobachter erkannt, wie C6 versuchte, sich mit seinem Körper an Erdenfrauen heranzumachen.
Da gab es etwas auf der Erde, das den Menschen den Kopf verdrehte. Es ließ sie irrational handeln. Der Sex und nur der Sex hat solche Eigenschaften. Gerade bei den ohne Ethik handelnden Menschen.
C6 könnte durch die Beziehung zu einer Frau, wenn er sich selbst zu viel den Erdengenüssen hingeben würde, seine Pflicht und das übernommene verantwortungsvolle Ziel aus den Augen verlieren. Ansonsten, tja ansonsten wollte er nicht seiner Truppe auf der Erde reinreden, denn auch in dem teils vollzogenem Wandel von Akribaler zu Mensch und zurück galt für alle das Recht auf Selbstbestimmung.
Nun stand diese Konferenz an. Die Übernahme der Erde lag vor ihnen. Zwei Möglichkeiten hatten die Akribaler angedacht. Noch standen beide Wege offen. Auch gedachte A1 nicht voreilig zu handeln, und sich nicht neue Probleme anzuheften.
Es gab offenbar heilige Köpfe auf der Erde, denen der größte Teil des Geldvermögens gehörte. Sie zählten nicht nur zu den mächtigsten Männern und Frauen der Erdenwelt, sie waren auch die angebeteten Figuren. Sie und nicht die Politiker entschieden, wie das Leben weiterginge. Diese Kapitalwelt verwaltete das Zehnfache eines Haushaltes eines gut situierten mitteleuropäischen Staates. Das wäre aber alles nebensächlich gewesen, wenn diese Finanzkönige einen Hauch von Ethik an den Tag gelegt hätten. Doch das taten sie nicht.
Wie auch immer: Es galt, die Weltraum-Ausdehnung des Besitzes der Menschen zu verhindern. Zu oft hatten sie ihren Charakter demonstriert, wenn sie auf dem eigenen Planeten in der Entdeckerzeit andere Kontinente eroberten. Darüber gab es in seiner elektronischen Bibliothek ausreichend Materialien und Hinweise. Diese Eroberungen zeigten sich in einer Hinsicht im Ablauf gleich: Sie waren gepaart mit Unterdrückung und Zwang. Sie ließen nie die Menschen des anderen Kontinentes deren eigene Vorstellungen leben. Sie versuchten stets, ihre eigene Lebensweise, ihren Glauben mit mörderischer Gewalt dem nächsten aufzupressen. Und wie oft hatten sie dabei ganze Menschenrassen und Stämme dem Tod geweiht! Niemals hatten sie erkannt, wie schön und erlebnisreich andere Kulturen sein könnten. Ein Punkt im universellen Lebensraum war vielen Menschen bis heute entgangen. Sie konnten die Schönheit und kulturelle Vielfalt anderer Menschengruppen im eigenen Wirkungskreis nicht dulden.
Mit ihren kommunikativen Techniken und Fähigkeiten hatten die Akribaler jedoch recht früh erkannt, wie gefährlich die Bewohner der Erde sein könnten. Auch deswegen hatten sie es bislang vermieden, den Kontakt zu suchen. Diese Gefährlichkeit nahm seit einigen Jahren beunruhigende Züge an. Es war dieser Status, auf den die Akribaler jetzt ihr Augenmerk legten. Es war auch der Grund, diesen Zeitpunkt jetzt zu betrachten, die komplette Menschenrasse zu übernehmen und sie dabei ihrem Wissensstand entsprechend einzusetzen.
So verfügten die Menschen auf der Erde über einmalig beneidenswerte Eigenschaften. Sie konnten ihre Seelen anstimmen und erklingen lassen. A1 hatte sich das eine oder andere Mal selbst auf die Erde begeben. Er hatte klingende Mädchen- und Knabenstimmen erlebt, die als Klangschöpfung zu betrachten waren. Die Frauen auf der Erde konnten sich durchweg als schön bezeichnen. Manches Mal hatte ihn ein Spaziergang durch morgendlichen Nebel und vorbei an Tau auf feinen Gräsern und mit dem Schlurfgeräusch durch herabgefallenes Laub in eine Welt der künstlerischen Choreografie getragen.
A1 zog sich aus seiner philosophischen Gedankenwelt zurück und wandte sich wieder allgemeinen Interessen zu.
Die Werte der Menschen ließen sich mit keiner anderen Kultur im Weltraum vergleichen. Sie überragten alle. Dazu zählten besonders Poeten, Musiker, Bildhauer und Maler. A1 hatte mithilfe seines ausgeströmten Teams künstlerische Werke der Erdenbewohner in seinem Land angesiedelt. Er liebte die Poesie und ganz besonders Friedrich Schiller. Ein Gedicht hatte es seinem Gemüt immer wieder angetan. Es nannte sich die
Ode an die Freude
Friedrich Schiller
Freude, schöner Götterfunken,Tochter aus Elysium,Wir betreten feuer trunken,Himmlische, dein Heiligtum.Deine Zauber binden wieder,Was die Mode streng geteilt;Alle Menschen werden Brüder,Wo dein sanfter Flügel weilt.
Wieder und wieder versuchte er in die Geheimnisse dieser Zeilen Schillers einzudringen und trug sie sich selbst vor. Warum aber, fragte sich A1, schaffen es die Menschen nicht, Brüder oder Schwestern zu werden und leisten es sich im Gegenteil, sich permanent zu bekriegen und warum wollen sie sich stets das Leben schwer machen? Überall in den Universen erforderte es ein besonderes Verständnis, sich am Leben zu halten. Es blieb offenbar schwierig, die beiden Einheiten Geistwesen und Körperwesen in einer friedlichen Koexistenz zusammenzufügen.
Darum aber schien es vielen Erdenfürsten gar nicht zu gehen. Es war das Ego, das im Vordergrund stand. Die kleinen und großen Wortscharmützel mit anderen Potentaten brachten jeden politischen Führer selbst in gleißendes Licht der Aufmerksamkeit, wenn er es auch noch verstand, selbst jedes kritische Wort über ihn für sich selbst auszuschlachten.
Diese Falschspieler übten sich alle, wie eine der bekanntesten Filmgrößen der Erde in der Rolle der Feiglingsspieler. Vor einigen Jahren - für A1 war es nur ein Hauch der Zeit - hatte auf der Erde der junge Superstar, James Dean, in dem Film „...denn sie wissen nicht, was sie tun“ die Rolle des unverstandenen Jugendlichen fantastisch dargestellt und war damit zum Bösewicht der erwachsenen Elite geworden. Während die Teens ihn über alle Maßen bewunderten und verehrten. Weil der Bursche auch noch in einem Sportauto ums Leben kam war er bis zum aktuellen Zeitpunkt zu einer der Filmikonen geworden.
Das Bild des Feiglingsspielers wurde zur damaligen Zeit auf der Erde gemalt. Ein Bild, das schnell um sich griff und die willkürlich gemachte Größe politischer und wirtschaftlicher Potentaten in Zweifel zog. Wie wurde dieses Spiel im Film gespielt, welchen Sinn hatte es, was bezweckten die Hauptakteure damit?
Zwei Spieler treten in einem Wettbewerb gegeneinander an und treiben das Risiko des Ausgangs bis zum Äußersten. Dean und sein Gegner rasen in zwei gestohlenen Autos auf eine Klippe zu. Wer als erster aussteigt, wird zum Chicken, zum Feigling. Den wahren Irrsinn des Spiels zeigt der Film, weil letztlich der Ausgang des Wettkampfes noch nicht einmal vom eigenen Willen beeinflusst wird, sondern weil die Zufälle und die Umstände es so wollen. So ist es in dem Film „...denn sie wissen nicht, was sie tun“ der Jackenärmel des Kontrahenten, der beim versuchten rechtzeitigen Absprung am inneren Türgriff des Wagens hängen bleibt und den Spieler mit in die Tiefe reißt. Nur um im gleißenden Scheinwerferlicht, wegen des zweifelhaften Beifalls oder wegen ominöser Berater geht der Spieler das Spiel ein und kommt darin erbärmlich um.
Heutzutage sind es oft Politiker oder Wirtschaftsbosse, die den Feiglingsspieler abgeben. Wohl wissend, dass sie in Ihrem Tun die Menschheit in eine Katastrophe stürzen können, gehen sie unverantwortliche Risiken ein. Ausschließlich zum Zweck unter gleißenden Scheinwerfern im Rampenlicht zu stehen, wegen fataler Versprechen an die Wähler, um die nächste Wahl zu gewinnen, um sich selbst als besten aller Nationenführer darzustellen oder einfach um das eigene Säckel mit Moneten füllen.
A1 hatte auf Akriba Informationen über eine Jugend der Erdenmenschen mit verrückten Abenteuern erhalten. Er nutzte die Erinnerungen, um sich die aktuelle fatale Situation auf der Erde klarzumachen.
„Mit Kriegserlebnissen voll gespickt waren wir entweder besonders mutig oder besonders feige“, so hieß es in einem Buch aus der Zeit, „das kam unserem Spiel zu pass. Wir konnten sowohl die Mutigen als auch die Feiglinge gebrauchen. Nur so ergab sich eine andauernde Spannung in unserem Leben.
Mein Bruder war der Mutigste. Er klettere auf eine 20m hohe Fichte im Wald und schwang auf dem Gipfel solange hin und her, bis er den Moment für gekommen hielt, sich loszulassen und mit Schwung die nächste Fichtenspitze anzuspringen. Niemand hat ihm das bisher nachgemacht. So konnte er sich vollkommen durch den Busch, wie wir das Wäldchen nannten, bewegen, bis er wieder an den Ästen der Fichte hinabsauste. Die Bewunderung von uns allen war ihm stets gewiss und er genoss die beispiellose Aufmerksamkeit. Das Spiel spielte er alleine.
Dann gab es ein weiteres Feiglingsspiel, das wirklich eins der gröberen Sorte war. Es gab noch nicht so viele Abenteuer, die wir uns aussuchen konnten. Die ausgewählten aber hatten es in sich. Der „Todessprung“ im Wasser war eins von denen. Dann gab es die „Kreuzigung“, die ein Bursche nicht überstand, die „Panzerfahrt“ zu Tale auf selbst gebastelten Fahrzeugen aus Holzbrettern und Kabelrollen als Räder, die „Baggerfahrt“ mit einem kurz geschlossenen und gestohlenen Bagger, die „Handgranate“, ein Überbleibsel aus dem gerade verlorenen Krieg, ebenso die „Panzerfaust“ und der freihändige „Schlittschuhsprung“, nicht zu vergessen die „Taubenjagd“ in der Dachrinne auf dem Spitzdach unserer Dorfkirche. Was hatte es mit dem „Todessprung“ im Wasser auf sich?. Sommer 1947, heiß und trocken. Unsere einzige Bademöglichkeit ergab sich im mäandrierenden Flüsschen Dhünn. Die Biegungen im Flussbett hatten einen kleinen See ausgebaggert, den wir nutzten.
Die Regeln für unser Feiglingsspiel waren so einfach wie die Folgen schwer waren. Jeweils zwei von uns sollten mit angelegten Armen nebeneinander auf das Wasser zu rennen und einen Kopfsprung in den kleinen See wagen. Wer für den Absprung zu feige war und kurz davor auswich, hatte verloren. So hatten wir bereits nach dem ersten Springerpaar ein starkes Ergebnis, an das wir uns alle bis ins hohe Alter erinnern sollten. Einen Feigling gab es, der für den Sprung nicht mutig genug war und von da an gehänselt wurde. Neben diesem Feigling wurde der mutige Sieger des Spiels geehrt. Ohne vorgestreckte Hände stieß er bei seinem Kopfübersprung mit dem Schädel unter Wasser auf einen spitzen Fels, den niemand zuvor gesehen hatte. Wir bewunderten den Burschen, der mit blutendem Schädel auf einem holpernden Pferdewagen in die Klinik gefahren wurde. Er verließ nie wieder das Krankenhaus, wechselte von einer Klinik zur anderen bis er mit seinem Genickbruch sein Leben in einem Heim für Schwerbehinderte beendete.
Außer diesem Genickbruch hatten wir bei unseren Feiglingsspielen nur einen einzigen Todesfall, ein mit Steinen ausgeschlagenes Auge und eine abgerissene Hand durch eine alte Kriegshandgranate. Noch ein paarmal hatten wir Glück, als wir eine faustvoll Gewehrpatronen in ein Feuer warfen, die nach allen Seiten wie ein Feuerwerk prasselten.
Heute dagegen wirken die Feiglingsspiele eher harmlos. Harmlos vor allem für den Hauptspieler. Weil sie ihn persönlich niemals in Verlegenheit, geschweige denn in Gefahr bringen würden. Als Pfand hat der Feiglinsspieler immer nur ein ganzes Volk, den Verlust von Ländereien, Hungersnot für andere oder Abschlachten von Kindern in einem willkürlich herbeigerufenen Krieg. Der Spieler selbst steht von seinem Spieltisch auf, wäscht sich die Hände rein und zeigt auf den jeweils Nächsten als Schuldigen.
Das Volk jubelt ihm zu, seine Wähler versprechen, ihn wieder zu wählen, und er beginnt das Feiglingsspiel mit Lügen von Neuem. Ob auf den britischen Inseln, im Urwald Brasiliens, bei den Abschussrampen in Nordkorea, im von Flüchtlingen überfluteten Italien, in der angeblich hilfsbereiten Türkei, bei den afrikanischen Königen, oder gar auf dem Vorstandsposten großer Unternehmen.
Es gibt immer mehr dieser Feiglingsspieler, die ihr Spiel mit großer Klappe aber wenig Risiko für sich selbst eingehen.
Während in unserer Jugend noch der einzelne mit seinem Leben für das Spiel gerade stand, ist der heutige Feiglingsspieler ein armer Wicht, der oft nur von der Dummheit der überwiegenden Mehrheit der Wähler zehrt. Aber, obwohl die selbst pleite sind, geben sie dem feigen Hazardeur mangels eigenen Mutes immer wieder eine neue Chance.“
A1 blickte lange auf die Zeilen, die er als Beispiele erhalten hatte. Sein Überblick über die Geschehnisse der letzten Jahrhunderte ließ ihn kopfschüttelnd zustimmen. Ist von dieser Spezies jemals Vernunft zu erwarten, fragte er sich? Die vernichtende Antwort ließ ihn wegen seines eigenen Zieles frohlockend in die Zukunft schauen.
Doch von ganz besonderem Wert erwies sich der Planet, den sich die Menschen als ihre Heimstatt ausgesucht hatten. Wer der Erde aus dem finsteren und tödlich kalten Weltraum näher kam, sah den kleinen weißen Punkt stetig heller und in ein himmlisches Blau überführt zu werden, bis er in ein traumhaftes Meer der verschiedensten Farben hinüberwechselte. Aus dem dunklen, beinahe schwarzen All tauchte diese Verheißung göttlichen Daseins als Rettung für jedes denkende und fühlende Wesen auf. Der einsame Astronaut erkannte vor allem das Blau der Meere und der Luftschichten und schließlich bei näherem Herankommen die Schönheit grüner Wälder und bunter Wiesen, das tiefe Blau der Meere, das Eis der Polarkappen und gewaltigen Gletscher, und das glanzvolle Braun der trockenen Wüsten. Und das sollte jetzt alles vorbei sein!
Trotz des gedanklichen Ausflugs in die Ästhetik kehrte A1 schnell in das wahre Erdenleben zurück, als er sich fragte:
Wie konnten diese Menschen mit hässlicher Materie, mit tödlichen Waffen an der Selbstbestimmung der kreativsten Wesen im Weltall herumballern, als wäre es nichts? Wussten die politischen Führer und Kapitalmonster dieser Nationen nicht um die Schönheit und Einmaligkeit ihres Planeten in unserem All, sinnierte A1? Erst wenige dieser Menschen, die sie Astronauten nannten, hatten das Bild der Erde, das Versprechen auf Friede, Freude, Glücklichsein und heimischer Wärme in ihrer vollen Schönheit und Wirklichkeit erlebt. Sie, die ersten Entdecker astronautischer Erlebnisse waren wohl nicht in der Lage, den Menschen das Erlebnis Erde aus weiter Ferne zu vermitteln.
Und doch, die Kreativität hob die Menschen gegenüber anderen Körperwesen hervor. A1 konnte sich nicht von der schönen Erde lösen. Es existierte ein furchtbarer Widersinn in den Anschauungen und Bewertungen der Menschen. Hier die Schöpferkraft einer bis ins Unendliche bevorzugten Rasse, dort die mörderische Einfalt eben desselben Gewächses. Sie waren überwältigend in der Poesie, Malerei und Musik. Eigentlich, dachte A1, waren sie gleichermaßen begabt, was die Erzeugung von Waffengattungen und mörderischer Geschicklichkeit anbelangte. Nur eben waren sie auf diesem Terrain nicht so ausgeglichen, eher widersprüchlich und unvernünftig. Deswegen musste Whitehurst sein Bett aufsuchen, deswegen mussten die Akribaler jetzt die Erde übernehmen. Sie würden nicht daran vorbeikommen.
So ergab es sich, dass die Akribaler mehr und mehr die Frage aufwarfen: Können wir uns bei den Menschen integrieren oder müssen sie zunächst alle vernichtet werden, bevor wir uns auf der Erde einnisten? A1 verdichtete die Fragestellung auf wenige Elemente, um zu einem gültigen Ergebnis zu gelangen.
Diese seltsame Verbindung von Whitehurst zum Weltall, die ihn an der Angel hielt, ließ den Astrophysiker wie auf einer Rakete durch den Raum schleudern. Und der Wissenschaftler ahnte nicht, wohin ihn das Schicksal führen würde.