Читать книгу Liebe und Schicksal im Adelshaus: 6 Romane Sammelband - Alfred Bekker - Страница 27
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Оглавление"Es ist also wirklich dein Ernst?", vergewisserte sich Wilfried von Eichenbach noch einmal. "Du willst hinab in die alten Verliese und Gänge unter dem Schloss?"
"Ja", flüsterte Susanne.
Wilfried hatte inzwischen für sie beide zwei starke Taschenlampen besorgt.
In der Eingangshalle gab es eine verschlossene Tür, die hinunter in die unterirdischen Gänge führte. Wilfried schloss diese Tür auf. Sie stiegen eine schmale Wendeltreppe hinab. Dann erreichten sie einen gewölbeartigen Gang, der sich nach einigen Metern schließlich verzweigte.
"Du kennst dich hier unten aus?", fragte Susanne.
"Ein wenig", erwiderte Wilfried. "Als Junge bin ich manchmal hier unten herumgestromert, obwohl mein Vater mir das eigentlich strikt verboten hatte, weil es natürlich viel zu gefährlich war... aber das war mir gleichgültig." Wilfried zuckte die Achseln. "Heute bin ich natürlich ein bisschen klüger - hoffe ich zumindest!"
"Wie begraben fühlt man sich hier unten!", meinte die junge Baroness ergriffen, während sich der Gang erneut verzweigte.
Der feuchte Modergeruch stieg ihr in die Nase.
"Vor sehr langer Zeit, hat man hier unten Gefangene eingesperrt. Sie mögen sich wirklich lebendig begraben gefühlt haben", sagte Wilfried. "Hier unten gibt es ein regelrechtes Labyrinth aus verschiedenen Gängen. In der Bibliothek gibt es sogar einen Plan davon, der aber nur die Hälfte stimmt. Ursprünglich gab es von hier unten aus wohl auch mal einen Fluchttunnel, der im Falle einer Belagerung benutzt werden konnte. Aber der ist in späteren, friedlicheren Zeiten zugemauert worden..."
Wie viel er über die Katakomben weiß, ging es ihr durch den Kopf. Und auf einmal war die Leichtigkeit, die sie noch vor kurzem empfunden hatte, wie weggeblasen. Ein mulmiges Gefühl machte sich in ihrer Magengegend breit. Und insgeheim bereute sie bereits, hier her gekommen zu sein....
Was dachtest du, hier zu finden?, fragte sie sich selbst.
Du bist von einer fixen Idee besessen. Sie ist es, die dein Glück zu zerstören droht, Susanne! Sie - und nichts anderes!
Dieser Gedanke hämmerte geradezu in ihrem Kopf. Sie konnte nichts dagegen tun.
Währenddessen wanderten die Lichtkegel ihrer Lampen an den kahlen Steinwänden entlang, die vor vielen Jahrhunderten errichtet worden waren.
Dann hielt Susanne plötzlich inne.
Blankes Entsetzen packte sie, als der Schein ihrer Lampe einen Armreif beleuchtete, der auf dem feuchten Boden lag.
Das Schmuckstück einer Frau!, ging es Susanne schaudernd durch den Kopf. Sie bückte sich und hob den Reif auf.
"Was hast du da?", fragte Wilfried.
Susanne beleuchtete die Innenseite des Armreifs.
Dort war eine Gravierung. In schwungvollen Buchstaben stand dort: Lisa. In Liebe.
Susanne sah Wilfried an.
Einen Augenblick lang wurde sein Licht durch den Schein der Lampen beleuchtet, bevor es im Schatten versank. Aber dieser eine Augenblick reichte Susanne. Er weiß ganz genau, was ich in der Hand halte!, ging es ihr schaudernd durch den Kopf.
Ein Schmuckstück der unglücklichen Lisa Reindorf...
Sie war hier unten!, durchzuckte es Susanne. Welch eine andere Erklärung konnte es dafür geben, dass dieses Schmuckstück hier unten zu finden gewesen war?
Susanne wich einen Schritt vor Wilfried zurück.
Das Glück, das noch vor kurzem so überwältigend gewesen war, dass Susanne es kaum hatte fassen können, war nun wie fortgeweht...
Nichts schien davon übrig geblieben zu sein.
"Susanne, gib mir den Armreif", sagte Wilfried ruhig.
Er streckte die Hand aus.
"Nein", flüsterte Susanne.
"Aber, warum nicht? Komm, sei vernünftig..."
"Sie war hier unten, nicht wahr?"
"Susanne!"
"Wilfried, was hast du mit ihr getan?"
Wilfried näherte sich noch einen weiteren Schritt.
"Bleib, wo du bist!", rief Susanne, während sie ein Stück den Gang entlangstolperte. Angst hatte sie erfasst. Ich habe Christiane Unrecht getan, dachte sie. Die Komtesse mochte unter einer psychischen Erkrankung leiden, so dass sie kaum jemand für voll nahm. Aber offensichtlich war die Geschichte, die sie erzählt hatte, nicht bloß ein Produkt der reinen Fantasie.
Den Beweis halte ich hier in der Hand, dachte Susanne.
"Susanne, bleib hier!", rief Wilfried, als sich die junge Baroness noch weiter in den dunklen Gang hinein flüchtete.
"Was hast du jetzt vor, Wilfried? Jetzt, da ich die Wahrheit erkannt habe..."
"Susanne!"
"Soll ich auch verschwinden? So wie Lisa Reindorf?"
"Susanne! So sei doch vernünftig!"
Doch längst schon regierte die Panik in der jungen Baroness.
Sie stolperte weiter vorwärts, den Gang entlang. Sie begann zu rennen und hörte hinter sich Schritte. Wilfrieds Schritte. Er folgte ihr offenbar. Niemals hätte ich hier hinabsteigen sollen!, ging es ihr durch den Kopf. Jetzt, da ich die Wahrheit kenne, bleibt ihm eigentlich nichts anderes übrig, als auch mich umzubringen - wenn er nicht riskieren will, überführt zu werden.
Susanne rannte um ihr Leben.
Die Kraft der Verzweiflung verlieh ihr mehr Atem, als sie je in sich gespürt hatte.
Der Gang teilte sich.
Sie rannte kurz entschlossen eine der Abzweigungen entlang.
Er teilte sich erneut. Längst schon hatte sie die Orientierung völlig verloren. Sie fühlte sich ähnlich verzweifelt wie in jener Situation, als sie in vollkommener Dunkelheit gewesen war, nachdem ein Luftzug ihren Kerzenleuchter gelöscht hatte.
Nur diesmal war es noch schlimmer.
Denn sie wurde verfolgt.
"Susanne!", hörte sie Wilfrieds Rufe.
Seine Schritte halten in den dunklen Mauern wider. Sie machte die Lampe aus, damit man sie nicht sofort sah. Es war stockdunkel um sie herum.
Susanne tastete sich vorwärts. Nur, wenn sie allzu unsicher geworden war, machte sie kurz die Lampe an, um sich einigermaßen orientieren zu können.
Was soll ich nur machen?, hämmerte es in ihr.
Sie hörte Wilfrieds Stimme noch immer, aber sie schien sich von ihrem Standort zu entfernen.
Susanne atmete tief durch.
Wie habe ich mich nur täuschen können!, ging es ihr durch den Kopf. Ihre Linke umklammerte noch immer den Armreif mit der Gravur. Der einzige handfeste Beweis, den es bislang dafür gab, dass Lisa Reindorf wirklich hier unten gewesen war. Susanne nahm sich vor, diesen Reif deswegen auch auf keinen Fall aus der Hand zu geben. Es sollte nicht ein zweites Mal so gehen, wie mit dem Brief.
Wie habe ich mich in Wilfried nur so täuschen können!, ging es ihr durch den Kopf.
Sie ging weiter, ohne zu wissen wohin.
In diesem unterirdischen Labyrinth war man tatsächlich wie lebendig begraben. Selbst wenn Susanne aus Leibeskräften geschrien hätte, so wäre das durch das dicke Gemäuer kaum in den oberen Etagen zu hören gewesen.
Susanne fühlte sich so allein und verloren wie nie zuvor in ihrem Leben. Aber es half nichts. Sie durfte jetzt einfach die Hände in den Schoß legen.
Immer weiter tastete sie sich in den dunklen Gängen voran.
Als sie Wilfrieds Stimme eine Weile überhaupt nicht mehr gehört hatte, wagte sie es auch, die Lampe wieder anzumachen.
Sie folgte einem langen Gang, der schließlich eine Biegung machte.
Es muss hier irgendwo auch einen Weg hinaus geben!, ging es Susanne durch den Kopf, während ihr Herz wie wild pochte.
Schließlich erreichte Susanne eine Tür aus fingerdickem Eisengitter. Sie ließ sich leicht öffnen und knarrte etwas dabei. Zu ihrer Überraschung gab es hier etwas Licht. Es fiel von draußen herein, durch vergitterte Fensteröffnungen, die sich vielleicht einen halben Meter über dem Boden auf der Ostseite des Schlosses befanden. Susanne hatte sie bei den ausgedehnten Spaziergängen, die sie mit Wilfried unternommen hatte, hin und wieder bemerkt. Das Licht selbst wurde wohl durch die üppige Außenbeleuchtung von Schloss Eichenbach verursacht.
Ein gespenstischer Ort, dachte Susanne.
Wahrscheinlich ein uraltes Gefängnis.
Ein Verlies, dessen vergitterte Fenster so hoch lagen, dass es unmöglich war, durch sie hinauszusehen. Trotzdem sah Susanne jetzt eine Chance. Sie rief, so laut sie konnte.
"Hilfe!", schrie sie, in der Hoffnung, dass da draußen irgendjemand in der Nähe war oder einer der im Ostflügel des Schlosses untergebrachten Gäste vielleicht sein Fenster geöffnet hatte. "Hilfe!" Ihre Stimme hallte zwischen den Mauern des Verlieses wider und dröhnte dadurch so laut, dass Susanne darüber erschrak.
Aber sie bekam keine Antwort.
Zu dieser nachtschlafenden Zeit war sie hier unten verloren.
Sie schritt in Richtung jener Wand, in der sich die hochgelegenen, vergitterten Fenster befanden.
Ein dumpfer Klang ließ sie stoppen. Der Untergrund, auf dem sie ging, hatte sich verändert. Zunächst war es - wie sonst überall in diesen düsteren Kellern - glatter Stein gewesen. Aber jetzt stand sie auf einer staubbedeckten Holzplatte.
"Niemand wird Ihnen helfen", sagte eine kalte Stimme aus dem Hintergrund. Susanne fuhr herum.
Christiane von Buchenberg-Selm trat aus dem Schatten. Das von außen hereinfallende Licht beleuchtete ihr blasses Gesicht. Sie lächelte überlegen. Triumph stand in ihren Zügen.
"Christiane!", entfuhr es Susanne.
"Was ist es, was Sie da in der Hand halten und so krampfhaft umklammern, als hinge Ihr Leben davon ab. Ein Armreif?"
"Ja. Er gehörte Lisa Reindorf."
"Ich weiß. Schließlich habe ich ihn dorthin gelegt, wo Sie ihn schließlich auch gefunden haben..."
"Was?" Susannes Stimme klang tonlos. Langsam begriff sie, welch furchtbarem Irrtum sie anheimgefallen war... "Nicht Wilfried hat Lisa Reindorf umgebracht, sondern Sie!", entfuhr es ihr.
"Ich liebe Wilfried", sagte Christiane mit einem entschlossenen Unterton. "Und ich werde nicht gestatten, dass irgendwer mir den Mann wegnimmt, der für mich bestimmt ist. Glauben Sie an das Schicksal, Susanne? Ich tue es..."
Christiane lachte auf eine Weise, die Susanne schaudern ließ. "Niemand wird Sie hier unten finden, Susanne. In hundert Jahren nicht - so wie auch niemand die arme Lisa Reindorf gefunden hat. Ihre Spur verliert sich hier unten so wie sich auch die Ihre verlieren wird... Wer weiß, vielleicht wird wieder jemand glauben, einen Wagen gehört zu haben... So etwas lässt sich leicht arrangieren."
"Sie wollen mich auch umbringen?", flüsterte Susanne.
Christianes Blick blieb kühl.
Triumph leuchtete in ihren Augen.
"Sie haben mir keine andere Wahl gelassen... genau wie Lisa..."
Susanne trat einen Schritt zurück, während Christiane sich zur Seite bewegte und mit der Rechten eine schnelle Bewegung vollführte. Undeutlich sah Susanne etwas Dunkles schattenhaft aufragen. Es wirkte wie eine Art Hebel. Im nächsten Moment bewegte Christiane diesen Hebel.
Susanne schrie, als sich unter ihr der Boden teilte.
Eine mörderische Fallgrube öffnete sich mit einem durchdringenden, knarrenden Geräusch...