Читать книгу Sammelband 7 Krimis: Tuch und Tod und sechs andere Thriller auf 1000 Seiten - Alfred Bekker - Страница 14
4. Kapitel: Eine Leiche im Elfrather See
ОглавлениеBerringer setzte sich in den Wagen und fuhr los. Diesmal dachte er daran, sein Handy mit der Freisprechanlage zu verbinden, sodass er ganz legal telefonieren konnte und nicht ständig Gefahr lief, von einer Polizeistreife angehalten zu werden, die ihm eine kostenpflichtige Verwarnung aufbrummte.
Sofort nachdem er das Grundstück der Geraths verlassen hatte, fuhr ihm doch auch tatsächlich eine Polizeistreife im Schleichtempo entgegen.
Es waren zwei Beamte. Ein Mann und eine Frau. Die Frau saß am Steuer und signalisierte Berringer zu halten.
Auch das noch, dachte der Detektiv. Dein Freund und Helfer hält dich auf, wenn du es am eiligsten hast!
Wahrscheinlich war das eine der Streifen, die für Geraths Sicherheit zu sorgen hatten.
Schön, dass die ihren Job so ernst nahmen, auch wenn der Betroffene gar nicht zu Hause war, dachte Berringer. Aber die hatten wahrscheinlich gar nicht gemerkt, dass Gerath weggefahren war – und wenn er entführt worden wäre, hätte das wohl auch kaum Aufsehen erregt.
Der Mann stieg aus, setzte sich sehr sorgfältig die Mütze auf und trat dann an Berringers inzwischen heruntergelassene Fensterscheibe.
„Fahren Sie bitte an den Rand und stellen Sie den Motor ab.“
„Wenn Sie wünschen.“
Berringer leistete den Anweisungen des Beamten Folge und wartete, bis der Polizist ihm die zwei Meter gefolgt war.
Der Detektiv fragte sich, ob der Beamte noch das alte, schmale Pistolenholster oder bereits die etwas zu dick geratene Neuversion trug und dafür vorschriftswidrig auf den Sicherheitsgurt verzichten musste. Aber der Polizist wandte Berringer die linke Seite zu, sodass der Detektiv die entscheidenden Details nicht sehen konnte.
„Ihre Papiere bitte.“
Berringer langte in die Innentasche seines Jacketts und versuchte dabei, allzu hektische Bewegungen zu vermeiden, da er bei seinem Gegenüber nicht durch Gedankenlosigkeit irgendwelche unangenehmen Reflexe zur Eigensicherung auslösen wollte.
Neben dem Führerschein und den Fahrzeugpapieren gab Berringer dem Beamten auch eine ID-Card, die ihn als Mitglied im Berufsdachverband der Privatermittler auswies.
Nach kurzer Prüfung bekam Berringer alles zurück. „Fahren Sie weiter und entschuldigen Sie die Störung.“
„Nichts für ungut.“
„Wir sind nun mal dazu angehalten, hier in der Gegend die Augen offen zu halten.“
„Ich bin sehr froh, dass Sie Ihre Aufgabe so ernst nehmen“, sagte Berringer und dachte: Auch wenn Sie mit Ihren Maßnahmen das Leben meines gerade nicht anwesenden Klienten nicht effektiv schützen, so sorgen Sie doch wenigstens dafür, dass seinem Besitz nichts geschehen kann!
Während der Fahrt rief Berringer bei Kommissar Dietrich an. Er war tatsächlich in seinem Büro. Die Meinungsverschiedenheiten mit Dietrichs Kollegen Arno Kleppke auf dem Rahmeier-Hof hatte Björn Dietrich wohl bereits in einer reichlich gefärbten Darstellung geschildert bekommen. Jedenfalls sprach Dietrich seinen Freund aus alten Düsseldorfer Polizeizeiten sofort darauf an.
„Was hast du mit Arno gemacht, der war richtig sauer auf dich?“
„Nichts, was soll schon gewesen sein? Ich habe nur versucht, meinen Job zu machen und an Informationen zu gelangen.“
„Berry, dabei gibt es Grenzen. Ich habe dir immer gesagt, dass wir gut miteinander auskommen, solange du die Regeln einhältst.“
„Meine Güte, was man alles so sagt, wenn der Tag lang ist!“
„Ich meine es ernst!“
„Ich verspreche dir, Arno erst mal aus dem Weg zu gehen, wenn es sich machen lässt.“
„Du versprichst mir, keine Sperenzien mehr zu machen!“ Berringer seufzte. „Ich habe wohl keine andere Wahl.“
„Das siehst du vollkommen richtig.“
„Eigentlich rufe ich nicht an, um mir eine Standpauke abzuholen.“
„Sondern? Mach's kurz, wir haben gleich eine Einsatzbesprechung. Es wird ein ganz schöner Aufwand werden, alle registrierten Jäger abzuklappern und deren Waffen zu überprüfen.“
„Und dann vielleicht keinen Erfolg zu haben, weil die Waffe jemandem auf illegalem Wege in die Hände fiel, der mit Jagd so viel zu tun hat wie ein cleverer Geschäftsmann mit dem deutschen Steuerrecht.“
Eine kurze Pause entstand, und Berringer stellte sich vor, wie Björn Dietrich sie dazu nutzte, an seinem Glimmstängel zu ziehen. Schließlich hatte er schon fast eine Minute ohne direkte Nikotininhalation auskommen müssen. Wahrscheinlich begannen dann bereits die ersten Entzugserscheinungen, dachte Berringer.
„Meinst du das jetzt ernst?“
„Ich weiß noch nicht. Bislang habe ich ein paar Puzzle-Teile, die nicht richtig zusammenpassen. Aber das kriege ich schon raus.“
„Dann leg doch mal ein paar dieser Teile auf den Tisch des Hauses und lass dir nicht alles so aus der Nase ziehen!“, forderte Dietrich ein wenig verärgert.
„Du lässt mich ja nicht zu Wort kommen!“
„Sehr witzig. Also, was ist? Stiehlst du mir nur die Zeit, oder hat du wirklich was?“
„Eine Gegenfrage ...“
„Ich wusste es, du hast nichts!“
„Wie würdest du das beurteilen, wenn in einer Firma, die sich auf hochwertige Sportswear spezialisiert hat, des Nachts billige Massenwaren von wer weiß woher angeliefert wird und eine Firma namens Garol ImEx, Bukarest und Düsseldorf, ihre Finger im Spiel hat?“
„Dann würde ich sagen, dass höchstwahrscheinlich etwas faul ist. Wie heißt die Firma, von der du sprichst?“
„Avlar Sport, eine Tochter von Peter Geraths Avlar Tex. Die Niederlassung liegt in Dießem am Glockenspitz.“
„Hm, pass auf, Berry“, sagte Björn Dietrich nach ein paar Sekunden des Nachdenkens. „Ich habe mich kürzlich mit einem Kollegen unterhalten, der im Umfeld des organisierten Verbrechens ermittelt. Nach dem, was er mir so erzählt hat, könnte das, was Avlar Sport abläuft, folgendermaßen aussehen: Seit kurzem gibt es Einfuhrbeschränkungen der E.U. für Billigklamotten aus China. Die Quoten sind längst erreicht. So gibt es viele Firmen in der Textilbranche, die ihre bereits georderte Ware nicht ins Land holen können. Das machen sich kriminelle Banden zunutze. Die Ware wird in ein Land gebracht, in dem sich die Grenzkontrollen mit finanziellem Schmiermittel umgehen lassen. Zum Beispiel könnte der Weg über Rumänien nach Ungarn gehen. Dort werden die Waren umetikettiert und sind plötzlich Produkte, die innerhalb der Europäischen Union gefertigt wurden. Bleibt nur noch die Schwierigkeit, sie unauffällig weiterzuverteilen. Dazu braucht man Firmen wie Avlar Tex, die die Ware pro forma aufkaufen, bevor sie in die Läden kommt. Manche perfektionieren das, in dem sie die Sachen vorher noch mit Markenetiketten versehen, aber das ist riskant, wenn es nicht wirklich gut gemacht wurde.“
„Immerhin kann ich mir jetzt zusammenreimen, was bei Avlar Sport so läuft“, meinte Berringer. „Fragt sich nur, ob das wirklich etwas mit dem Mordversuch an Peter Gerath zu tun hat. Da bin ich mir längst nicht mehr so sicher.“
„Wie auch immer, Berry: Du machst bitte keinen Wirbel! Solche Machenschaften aufzudecken geht nur mit einer koordinierten, gut abgestimmten Operation und nicht mit irgendwelchen Alleingängen.“
„Ich werde mir Mühe geben, niemanden vorzuwarnen“, versprach Berringer. „Aber du wirst auch verstehen, dass für mich die Interessen meines Klienten immer Vorrang haben.“
„Berry!“
„Was willst du? Dessen Wünsche sind in diesem speziellen Fall doch ganz bescheiden: Er will einfach nur nicht umgebracht werden.“
„Und du glaubst, Gerath sagt dir die Wahrheit und hängt in diesen Geschäften nicht selber mit drin?“, fragte Björn Dietrich. „Mein Gott, ermittelst du nur noch im Auftrag englischer Schlossherren, oder wie kommt es, dass dich das Leben als Privatermittler dermaßen naiv gemacht hat?“
„Nur kein Neid, Björn.“
„Eine Erklärung hört sich anders an!“
„Also gut, wie wär’s mit dieser? Gerath hat einen Geschäftsführer namens Severin eingesetzt, der ziemlich freie Hand zu haben scheint, sowohl geschäftlich wie auch bei Geraths Frau. Und wenn Gerath das mit seiner Frau nicht merkt, hat Severin es vielleicht auch geschafft, ihm das andere zu verheimlichen.“ Robert Berringer fuhr zum Firmensitz von Avlar Sport am Glockenspitz.
Es gab einen Bürotrakt, eine Fertigungshalle und ein Lager. Da bei Avlar Sport alles gut beschildert war, fand Berringer sich hervorragend zurecht, nachdem er dem Pförtner seinen Ausweis gezeigt hatte.
„Herr Gerath persönlich hat angeordnet, dass Sie sich alles ansehen und mit jedem sprechen dürfen“, hatte der Pförtner gesagt.
„Wann war das?“, hatte Berringer gefragt.
„Vor ein paar Tagen – und dann heute Morgen noch mal. Ist gut eine Stunde her. Er rief aus dem Wagen an. Mich persönlich. Also, ich arbeite hier schon zwanzig Jahre, aber das mich der Chef persönlich anruft, das ist in all der Zeit zuvor noch nie vorgekommen.“
Für Berringer ergab sich daraus der Schluss, dass Gerath seinen Verdacht gegen Severin inzwischen teilte. Ein Grund mehr für Berringer, dieser Spur weiterzufolgen.
Zumal sie durch das – bisher allerdings nur behauptete – Verhältnis zwischen Frau Gerath und Severin eine Verbindung zu Geraths familiärer Misere herstellte.
„Ist ja auch schlimm, was die mit dem Herrn Gerath vorhatten“, hatte der Pförtner noch hinzugefügt. „Ich kann mir gar nicht vorstellen, wer so etwas tun könnte. Aber man muss ja heute mit allem rechnen. Auch unser Geschäftsleiter, der Herr Severin, soll neulich mal überfallen und zusammengeschlagen worden sein. Er wollte das nicht an die große Glocke hängen. Keine Ahnung, ob er zur Polizei gegangen ist, aber er sah ziemlich übel zugerichtet aus, kann ich Ihnen sagen. So viel Puder konnte er gar nicht auftragen, wie nötig gewesen wäre, um das blaue Auge zu überdecken.“
„Wissen Sie darüber noch etwas mehr?“
„Ehrlich gesagt, habe ich das nur gehört ...“
„Und von wem?“
„Vom Willi. Und der hat es von ... Hm, hat mir erzählt, von wem er’s weiß, aber wenn ich ehrlich bin, weiß ich es nicht mehr.“
„Schon gut. Ich hör mich mal um.“
„Einen schönen Tag noch. Und wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann ...“
„Dann komme ich auf Sie zurück, Herr ...“
„Radowitz. Werner Radowitz.“
„Danke.“
Im Bürotrakt geriet Berringer nach einem Fragemarathon schließlich an Sybille Mertens, eine dralle, dunkelhaarige und sehr resolut wirkende Chefsekretärin.
„Es tut mir leid, aber Herr Severin ist nicht im Haus.“
„Wie kommt das denn?“
„Er hat kurzfristig einen Tag seines Resturlaubs genommen. Heute Morgen war er zwar noch kurz hier und hat einige Anweisungen hinterlassen, aber ansonsten rechne ich erst übermorgen wieder mit ihm.“ Sie zuckte mit den Schultern. Das geschäftsmäßige Lächeln, bei dem sie ihre blitzenden Zähne zeigte, bewirkte, dass ihre Augen ganz schmal wurden.
„Dann geben Sie mir bitte Herrn Severins Privatadresse. Es ist nämlich wirklich dringend.“
„Ich weiß nicht, ob ich die einfach so herausgeben darf“, meinte sie.
„Ich weiß das aber – und wenn Sie irgendwelche Zweifel daran haben, dann rufen Sie bitte umgehend Herrn Gerath an, um das zu klären.“ Ihr Lächeln gefror, und auch ihr Blick war auf einmal frostig. „Also gut“, sagte sie zwischen den Zähnen hindurch und gab Berringer eine von Severins Visitenkarten.
„Besten Dank.“
„Gern geschehen“, zischelte sie.
„Sie brauchen mich nicht zu mögen, aber Sie sollen mich besser nicht anlügen“, sagte Berringer.
Da fuhr sie auf. „Keine Ahnung, wovon Sie sprechen!“
„Na, von dem gern geschehen natürlich.“
Kaum war Berringer gegangen, griff Sybille Mertens zum Telefon. Sie drückte nur eine Kurzwahltaste.
Das Freizeichen ertönte. Dann klickte es.
„Herr Severin?“
Aber sie war zu voreilig gewesen.
„Der Teilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar“, tönte es monoton aus dem Hörer.
Sybille Mertens legte verärgert auf. Wieso musste der Kerl ausgerechnet an diesem Tag sein Handy abstellen?
Frank Severin wohnte im Krefelder Stadtteil Elfrath. Ihm gehörte ein schmucker Bungalow mit einem gut gepflegten Garten.
Schon die offene Doppelgarage mit dem brandneuen Opel Corsa und viel Platz für einen sehr viel breiteren Wagen ließ Berringer bereits ahnen, das wahrscheinlich eine Frau zu Hause war. Aber gleichgültig, ob es Ehefrau, Lebensgefährtin oder Mutter war – es bestand die Chance, dass er von ihr erfuhr, wo sich Frank Severin zurzeit befand.
Berringer fuhr den Wagen in die Einfahrt, stieg aus und ging zur Tür des Bungalows.
Zwei Namen standen dort an zwei getrennten Klingeln: Frank Severin und Sabine Horstkotte.
Berringer drückte erst auf die Severin-Klingel, aber er erwartete eigentlich nicht, dass ihm geöffnet wurde. So war es auch. Also drückte er auf den Klingelknopf, an dem
„Horstkotte“ stand.
Nach einer halben Minute fruchtlosen Wartens versuchte er es noch einmal. Wenn der Corsa in der Garage stand, war auch jemand zu Hause. Für einen dritten Wagen wäre nämlich kein Platz gewesen.
Endlich waren Schritte zu hören, die eine Treppe hinabeilten, dann öffnete eine junge Frau.
„Guten Morgen, mein Name ist Berringer. Sie sind Frau Horstkotte?“
„Ja. Was möchten Sie bitte?“
„Ich muss dringend mit Herrn Severin sprechen, aber er scheint nicht zu Hause zu sein.“
„Tut mir leid, ich bin nur seine Mieterin. Wenn sein BMW nicht in der Garage steht, ist er wohl unterwegs.“
„Er hat heute Urlaub genommen.“
„Keine Ahnung.“
„War er heute Morgen schon hier? Ich weiß, dass er kurz in der Firma war, und ich frage mich, wo er danach hinfuhr.“
„Tut mir leid. Ich bin Krankenschwester und habe oft Nachtdienst. Da schlafe ich dann tagsüber wie ein Murmeltier, und die Einliegerwohnung hier im Haus habe ich extra deswegen genommen, weil sie so ruhig ist.“
„Es wäre wirklich sehr wichtig, dass ich Herrn Severin spreche. Sein Arbeitgeber schickt mich und ...“
„Sie sagen, er hat Urlaub genommen?“, unterbrach ihn die junge Frau, und ihr Gesicht nahm einen nachdenklichen Ausdruck an.
„Ja.“
„Nicht gerade nett von einem Arbeitgeber, einen Mitarbeiter zurückzupfeifen, wenn er sich mal einen Tag frei nimmt.“
„Herr Severin ist nicht irgendein Mitarbeiter. Er ist der Geschäftsführer und sollte alles wissen, was in der Firma vor sich geht. Das ist in seinem eigenen Interesse.“ Sie musterte Berringer von oben bis unten. Es war, als habe sie eine Art Röntgenblick, mit der sie die Vertrauenswürdigkeit einer anderen Person abzutesten versuchte, was natürlich ein sehr ehrgeiziges Unterfangen war.
„Gut“, sagte sie schließlich. „Also ich weiß, dass Herr Severin ein begeisterter Modellsegler ist und dazu häufig an den Elfrather See fährt, um sich zu entspannen.“
„Bei der Kälte?“
„Ich sagte Modellsegler – kein richtiges Boot. Er hat sogar schon damit an Regatten teilgenommen.“
„So etwas gibt es?“
„Jedes Jahr im Juni. Aber wer da was gewinnen will, muss offenbar früh anfangen zu üben. Und noch wichtiger ist es wohl, dass an dem Segelboot-Modell technisch alles stimmt. Er hat hier im Garten einen Teich, auf dem er immer wieder die Fernbedienung getestet hat. Aber mit dem Verhältnissen auf einem See ist das natürlich nicht vergleichbar.“
„Sie reden darüber so, als wären Sie selbst von diesem Sport - wenn man es denn so bezeichnen will – begeistert!“
Sabine Horstkotte lächelte. „Bei der letzten Modellschiff-Regatta habe ich meinen Freund überreden können, dort mal hinzugehen und zuzuschauen. Er war fasziniert.
Ansonsten habe ich als Zehnjährige einen Optimist gesegelt – hier im RC Segel Yacht Club Krefeld. Aber das ist vorbei ...“
„Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe. Ach, da wäre noch etwas ...“
„Was?“
„Hat Herr Severin schon mal Besuch von einer Frau in meinem Alter mit stark höhensonnengebräunten Gesicht und einer Vorliebe für falsches Blond und heller Kleidung?“
Sabine Horstkottes Gesicht veränderte sich, ihr Blick gefror, und die freundliche Offenheit war von einem Augenblick zum nächsten wie weggeblasen. Sie stemmte die Hände in die Hüften und sagte: „Sie wollen mich nur aushorchen. Wer sind Sie wirklich? Sie haben gesagt, dass Severins Chef Sie schickt.“
„Ja, das stimmt auch.“
„Das soll ich jetzt noch glauben?“
„Die Blondine, von der ich sprach, ist die Frau von Herrn Severins Chef.“ Da musste Sabine erst einmal schlucken. Ihre Augen wurden schmal. Sie schien im ersten Augenblick nicht so recht fassen zu können, was Berringer ihr gesagt hatte.
„Ehrlich gesagt, weiß ich nicht sehr viel über das Privatleben von Herrn Severin“, erklärte sie dann vorsichtig. Berringer verstand sie gut. Sie wollte ihrem Vermieter keine Schwierigkeiten bereiten. Schließlich wollte sie wahrscheinlich noch länger die ruhige Einliegerwohnung nutzen.
„Es geht um einen Mordversuch an Herrn Peter Gerath, dem Eigentümer von Avlar Tex und Avlar Sport“, erklärte Berringer. „Bei letzterem Unternehmen ist Herr Severin Geschäftsführer, und es gibt mehrere Personen, die behaupten, dass er ein Verhältnis mit Frau Gerath hat. Ich weiß nicht, wie tief Sie in diese Sache hereingezogen werden wollen, aber wenn die Polizei Sie später verhört, und Ihre Aussage weicht erheblich von dem ab, was Sie mir gesagt haben, dann sieht das nicht allzu gut aus, und man könnte annehmen, dass Sie gelogen haben, um Ihrem Vermieter Unannehmlichkeiten zu ersparen.“ Berringer zuckte mit den Schultern und wandte sich zum Gehen. „Sie müssen wissen, inwiefern Sie bereit sind, dafür selbst Unannehmlichkeiten hinzunehmen.“
„Warten Sie, Herr ...“
„Berringer!“
Sie kam aus der Tür heraus, ließ sie halb offen und trat einen Schritt auf den Detektiv zu. „Sie war hier“, bestätigte sie schließlich. „Eigentlich sogar ziemlich regelmäßig.
Er hat sie immer Regina genannt, daher hatte ich keine Ahnung, wer sie ist.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust und fügte noch hinzu: „Klingt ziemlich dreist, was Sie da von Herrn Severin berichten.“
„Ich bin kein Treue-Tester oder so was. Mir geht es darum, ob einer der beiden etwas damit zu tun hat, dass Peter Gerath das Pferd unter dem ... äh, Gesäß weggeschossen wurde.“
„Dann wundert es mich allerdings, dass Frank Severin nicht getroffen hat.“
„Wieso?“
„Na ja, man unterhält sich ja ab und zu mal. Und irgendwann erwähnte er, dass er Leutnant der Reserve bei der Bundeswehr ist. Da sollte man schießen gelernt haben, oder?“
„Ja, vorausgesetzt, man will überhaupt treffen“, murmelte Berringer. „Ist Herr Severin zufällig auch Jäger?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, das wäre mir neu.“ Berringer zuckte mit den Schultern. „Hätte ja sein können. Sie sagten, Herr Severin fährt einen BMW.“
„Ja, in Rot.“
„Danke.“ Berringer holte eine seiner Visitenkarten hervor und reichte sie Sabine Horstkotte. „Falls Ihnen noch irgendetwas Wichtiges einfällt, rufen Sie mich bitte an.“
Eine Viertelstunde später erreichte Berringer den im Nordosten von Krefeld gelegenen Elfrather See. Er klapperte die verschiedenen Parkplätze in der Umgebung ab. Da zu dieser Jahreszeit so gut wie nichts am See los war, fand er den roten BMW
recht schnell. Er ging davon aus, dass Severin in der Nähe war.
Er ging in Richtung Seeufer. An einem der Stege hatten sich ein paar Menschen versammelt. Ein Angler, dessen Gummihose bis zur Brust reichte, ein Spaziergänger mit seinem Hund und ein Rentnerehepaar, die sich gegenseitig beim Gehen stützten.
Auf dem Boden lag ein Mann, der offenbar eine Weile im Wasser gelegen hatte. Er war Anfang bis Mitte fünfzig. Seine Augen blickten starr ins Nichts. Dass er nicht mehr lebte, war ziemlich eindeutig.
„Was ist hier geschehen?“, fragte Berringer.
Der Angler war ein wahrer Hüne. Bei einer Größe von fast zwei Metern wog er sicher hundertzwanzig Kilo, und es wunderte Berringer, dass es in dieser Größe überhaupt Anglerhosen gab. Der Riese deutete auf den Toten. „Ich hab keine Ahnung. Hab nur was im Wasser bemerkt, bin hin und ... Tja, war keine angenehme Überraschung.
Haben Sie vielleicht 'n Handy?“
„Ja.“
„Bei meinem ist leider der Akku leer. Vielleicht rufen Sie die Polizei.“
„Das mache ich“, sagte Berringer. „Gleich.“
Er kniete neben dem Toten nieder und begann, die Taschen zu durchsuchen. Der Tote trug eine Avlar-Sport-Polarjacke. In der linken Seitentasche fand Berringer einen Autoschlüssel mit einem BMW-Anhänger. Die Brieftasche steckte innen, und darin fanden sich Führerschein und Personalausweis. Die Lichtbilder auf beiden Dokumenten ließen keinen Zweifel an der Identität des Toten.
„Kennen Sie den Mann?“, fragte der Spaziergänger mit dem Hund, einem Terrier, der unentwegt an der Leine zog und offenbar darauf brannte, den unterbrochenen Spaziergang endlich fortzusetzen.
„Wie man’s nimmt“, murmelte Berringer. „Sagen wir mal so: Ich hätte ihn gern noch gesprochen ...“
Er griff zum Handy, um Kriminalhauptkommissar Björn Dietrich zu kontaktieren.
Berringer berichtete, was geschehen war, und fügte zum Schluss noch hinzu: „Tu mir einen Gefallen, Björn. Fahr selber raus und schick nicht den Arno!“
„Die Polizei wird gleich hier sein“, versprach Berringer, nachdem er das Gespräch beendet und das Handy wieder eingesteckt hatte. Er schloss den Reißverschluss seines Long-Jacketts und ärgerte sich darüber, seine Mütze im Auto gelassen zu haben. Zwar schien die Sonne, aber das täuschte gewaltig. Ein eisiger Wind strich über den See und ließ das Wasser sich etwas kräuseln. Zugefroren war der Elfrather See zwar noch nicht, aber ein paar Tage strenger Frost würden das im Handumdrehen ändern.
Die Stege waren vollkommen leer. Nicht ein einziges Boot lag dort um diese Jahreszeit.
Berringer ließ den Blick schweifen. Wenn die ehrgeizigen Pläne von Peter Gerath irgendwann mal Wirklichkeit wurden, würden vielleicht auch an diesem Platz Surfer, Taucher und Badegäste selbst bei null Grad noch ihrem Vergnügen nachgehen – in Anzügen aus Hightech-Fasern, die den Körper vollkommen gegen Nässe und Kälte abschirmten, dachte er.
Er hielt Ausschau nach dem Modell-Segelboot und entdeckte es schließlich ein Stück entfernt im Gras an der Uferzone. Das weiße Segel stach wie eine Signalfahne aus dem Grün hervor.
Die Fernbedienung war vermutlich ins Wasser gefallen, als ...
Als was?, fragte sich Berringer. Was war hier geschehen? Eine Schussverletzung war an der Leiche nicht zu sehen. Aber andererseits war es wohl auch mehr als unwahrscheinlich, dass Frank Severin freiwillig ins Wasser gegangen war.
„Dann können wir jetzt ja gehen“, meinte der Spaziergänger und wollte schon seinem Hund nachgeben.
„Nein, bleiben Sie bitte in der Nähe und halten Sie sich als Zeuge zur Verfügung“, widersprach Berringer.
„Ist das wirklich nötig?“, fragte der Mann des älteren Ehepaars, ein Herr mit schlohweißem Haar, die der Wind ziemlich wirr durcheinander gewirbelt hatte.
Berringer streckte die Hand aus. „Dort vorne ist eine Bank, vielleicht setzen Sie sich einfach einen Augenblick, bis die Kollegen eintreffen.“
„Sie sind auch von der Polizei?“, fragte die Frau, die sich bei ihrem Mann fest untergehakt hatte. Sie hatte leuchtend blaue und sehr aufmerksam blickende Augen, und ihr Gesicht erschien Berringer wie eine plastische Illustration der Begriffe Misstrauen und Skepsis. „Sie haben uns Ihren Dienstausweis noch gar nicht gezeigt.
Es heißt doch immer, man soll keinem Beamten trauen – keinem angeblichen Beamten -, der seinen Dienstausweis nicht vorzeigen kann!“ Berringer seufzte. Diese Nervensäge!, dachte er, hatte sich aber genug unter Kontrolle, um das für sich zu behalten. Er öffnete sein Long-Jackett, langte in die Innentasche und holte einen Ausweis hervor, den er der alten Dame zeigte.
Sie blinzelte. Glück gehabt, dachte Berringer. Die Gute hatte die Lesebrille nicht dabei. Wozu auch? Dies war schließlich keine Bibliothek.
Ihre Stirn legte sich in tiefe Falten. Sie nahm Berringer den Ausweis aus der Hand und hielt ihn ganz nahe an ihre schmal gewordenen blauen Augen. „Immerhin stimmt das Bild überein“, sagte sie und wollte das Dokument noch an ihren Mann weitergeben. Aber das konnte Berringer im letzten Moment verhindern, indem er beherzt zugriff.
„Am Besten, ich nehme einfach schon mal Ihre Personalien auf“, sagte er. „Dann brauchen Sie nicht so lange hier herumzustehen und zu frieren.“
„Gute Idee“, sagte der Spaziergänger mit dem Hund. „Leiche hin oder her, mein Rex fordert auch sein Recht.“
„Zuerst hätte ich eine Frage an alle. Hat jemand von Ihnen heute Morgen – ich wiederhole: heute Morgen – eine Frau gesehen, auf die folgende Beschreibung zutrifft: Mitte vierzig, blonde Haare, starke Höhensonnenbräunung und helle Kleidung.“
„Als ich herkam, hab ich niemanden gesehen, auf den die Beschreibung passt“, erklärte der Angler. „Ehrlich gesagt, kann ich mich an überhaupt keine Frau hier erinnern. Wenn eine hier gewesen wär, ich hätt das in Erinnerung behalten.
Schließlich sind Frauen sowohl unter Anglern als auch unter Modellseglern eine extreme Minderheit, würd ich mal sagen. Und so aufgebrezelt, wie ich mir die Lady vorstell, von der Sie gerade gesprochen haben, hätte die ohnehin nicht hierher gepasst.“
„Aber ich habe die Frau gesehen“, sagte der Mann mit dem Hund. „Allerdings nicht hier, sondern dahinten auf dem Parkplatz. Und das ist auch schon etwas länger her.“
„Wann genau war das?“, fragte Berringer.
„Das kann ich nur so ungefähr sagen. Mit meiner Frührunde mit Rex war ich so gegen neun Uhr fertig. Vielleicht war es Viertel nach neun, aber ganz bestimmt nicht später.“
Also doch, Frau Gerath, dachte Berringer. Er mochte wetten, dass sie an Morgen überhaupt nicht im Badezentrum Bockum gewesen war.
Es dauerte eine Viertelstunde, bis Beamte der Krefelder Polizei eintrafen, um den Tatort zu sichern.
Die Kollegen der Kripo brauchten etwas länger. Sowohl Björn Dietrich als auch Arno Kleppke waren dabei.
Berringer fasste kurz zusammen, was er bisher ermittelt hatte. Er erwähnte dabei auch die sich verdichtenden Hinweise, dass Frank Severin ein Verhältnis mit Regina Gerath gehabt hatte.
„Du glaubst, dass Severin für die Schüsse auf Geraths Pferde verantwortlich ist?“, fragte Dietrich, der sich erst einmal einen Glimmstängel genehmigte.
Berringer deutete in Richtung des sich nördlich an die Bucht der Modellsegler anschließenden Naturschutzgebiets. „Mit deiner Qualmerei tötest du wahrscheinlich ein ganzes Biotop, Björn. Du solltest dich zusammenreißen, dies hier ist immerhin die grüne Lunge Krefelds?“
„Red nicht so ’n Quatsch, Berry. Außerdem muss die schwarze Lunge Krefelds auch leben.“
„Fragt sich, nur wie lange noch“, meinte Arno Kleppke und wedelte mit der Hand den Rauch weg.
„Bei dem Wind brauchst du dich nicht so anzustellen“, meinte Dietrich und wandte sich wieder an Berringer. „Also los, raus damit, Berry!“ Er blies Berringer eine Rauchschwade direkt ins Gesicht.
„Das war Körperverletzung“, sagte Berringer ernst.
Einer der uniformierten Kollegen trat auf sie zu. „Die Gerichtsmedizin steht im Stau und braucht ein paar Minuten länger. Die Spurensicherung ist aber gleich da.“
„Na wenigstens etwas“, knurrte Kleppke. „Dann können wir außer frieren noch etwas Sinnvolles tun!“
„Es spricht in der Tat einiges dafür, dass Severin der Täter war“, fuhr Berringer fort.
„Er war Reserveleutnant bei der Bundeswehr und kennt sich also mit Schusswaffen aus. Wer weiß, vielleicht finden wir in seiner Wohnung auch das passende Gewehr zu den Anschlägen.“
„Und was ist mit Severin? Wer hat den umgebracht?“, wollte Björn Dietrich wissen.
„Ich weiß von einem der Zeugen, dass Frau Gerath definitiv heute Morgen hier war.
Kurz danach habe ich sie im Haus der Geraths angetroffen. Sie war angeblich schwimmen.“
„Im Badezentrum Bockum?“, hakte Björn nach.
„Exakt“, bestätigte Berringer.
„Wir werden das einfach mal überprüfen. Kennst du den Toten, oder wie hast du ihn gleich identifizieren können?“, fragte Kleppke und verzog das Gesicht.
„Wasserleichen verändern sich ja manchmal ziemlich stark, sodass selbst nahe Angehörige Schwierigkeiten haben, sie wiederzuerkennen.“ Berringer wusste genau, worauf Kleppke hinauswollte.
Er vermutete, dass Berringer die Taschen des Toten durchsucht hatte. Gut kombiniert, dachte der Detektiv. Aber nicht gut genug. Wenn Kleppke ihn aufs Kreuz legen wollte, musste er aufstehen.
„Ich weiß, dass er es ist, und das muss euch einfach genügen.“
„Wenn wir einen Fingerabdruck von dir an dem Toten finden, bist du geliefert, Berry!“, drohte Kleppke. Er wandte den Kopf und sah Björn Dietrich an, der gerade wieder einen kräftigen Zug nahm und damit seinen filterlosen Glimmstängel aufglühen ließ. Dadurch gewann er mal wieder ein paar wertvolle Sekunden, um sich überlegen zu können, was er wohl sagen wollte.
„Den Ball immer flach halten, Arno“, zitierte er schließlich eine Weisheit von immer währender Gültigkeit.
Kleppke zog daraufhin knurrend davon.
Berringer gab Dietrich den Zettel mit den Personalien der Zeugen.
„Wird sicher interessant, was die Gerichtsmedizin als Todesursache feststellt“, meinte Dietrich.
„Die Todeszeit kann ich dir sagen.“
Dietrich grinste. „Dein pathologisches Zusatzstudium hast du uns allen damals verschwiegen.“
Berringer lächelte mild. „Gute alte Ermittlungsarbeit – akribisch und solide. Das macht den Unterschied, Björn.“
Der grinste noch breiter. „Sicher.“
„Auf jeden Fall war Frank Severin heute so um acht herum im Firmengebäude vom Avlar Sport am Glockenspitz. Er hat sich dort Urlaub genommen, ein paar Memos hinterlassen und ist dann vermutlich kurz zu Hause in Erkrath vorbeigefahren.“
„Vermutlich?“, echote Björn Dietrich, während er sich bereits den zweiten Glimmstängel am Stummel des letzten anzündete und zwischendurch einmal so furchtbar husten musste, dass man an einen Tuberkulosekranken denken mochte.
„Er wird sein Modellschiff nicht mit zur Firma genommen haben“, war Berringer überzeugt. „Um kurz nach neun wurde Frau Gerath hier auf dem Parkplatz gesehen.
Ich nehme an, bald darauf ist der Mord geschehen.“
„Bevor ich Frau Gerath auch nur darauf anspreche, will ich mir ganz sicher sein“, erklärte Björn Dietrich. „Die Frau eines Textilfabrikanten eine Mörderin! Blutiges Dreiecksdrama!“ Er machte eine wegwerfende Handbewegung. „Mir graust schon vor der Meute sensationsgieriger Reporter, die darauf anspringen werden wie Bluthunde. Die werden die Zeugen so verrückt machen, dass man vor Gericht keine verwertbare Aussage mehr von ihnen bekommt.“
„Du wirst die Presse kaum raushalten können“, sagte Berringer im Brustton der Überzeugung. Es klang aus seinem Mund wie ein Urteil.
Dietrich wirkte nachdenklich, kratzte sich am Hinterkopf und trampelte von einem Fuß auf den anderen. „Arschkalt hier!“, meinte er. „Mal ganz im Vertrauen, Berry: Was macht dich eigentlich so sicher, dass nicht dein Klient Severin umgebracht hat?
Der eifersüchtige Ehemann hat herausbekommen, dass seine Frau mit dem Geschäftsführer seiner Tochterfirma was hat, erfährt vielleicht durch Zufall von einem geplanten Treffen und ergreift die Gelegenheit.“ Und ganz unvermittelt fragte er: „Hast du das Mal am Hals des Toten gesehen?“
„Ja, aber das muss nichts heißen.“
„Wieso?“
„Weil Severin vor wenigen Tagen von einer Horde Schlägern überfallen und zusammengehauen wurde. Ich habe dir meinen Verdacht bezüglich einiger dubioser Geschäfte schon am Telefon dargelegt, und wenn du mich fragst, sieht das genau nach der Handschrift dieser Leute aus.“
„Aber welches Motiv hätte Frau Severin, ihren Geliebten umzubringen?“, hakte Dietrich nach. „Tut mir leid, aber das kapier ich nicht.“
„Es ist doch ganz einfach“, meinte Berringer. „Regina Gerath und Frank Severin haben sich zusammengetan, um ihren Mann umzubringen - sie bekommt die Firma, er hat die Chance, Geschäftsführer über das ganze Avlar-Imperium zu werden.
Außerdem muss er nicht mehr befürchten, dass seine dubiosen Geschäfte auffliegen und Peter Gerath ihm auf die Schliche kommt, denn dann wäre für ihn – also für Severin - alles zu Ende gewesen. Es könnte doch sein, dass Frau Gerath einfach ihren Mitwisser aus dem Weg räumen wollte, weil die Polizei so fleißig ermittelt und sie befürchtet, dass jetzt alles auffliegt.“
„Ein schwaches Motiv, Berry. Du warst schon mal besser“, entgegnete Dietrich.
„Und weshalb dieser Bundeswehr-Meisterschütze daneben geschossen haben soll, hast du mir auch noch nicht beantwortet.“
„Vielleicht hat er gar nicht daneben geschossen.“
„Jetzt drehen wir uns im Kreis.“
Die Gerichtsmedizin musste eigens aus Düsseldorf zum Tatort kommen. Die Landesregierung hatte die Zahl der Gerichtsmedizinischen Institute in den letzten Jahren immer weiter reduziert – mit fatalen Folgen, wie manche Fachleute behaupteten. Bei einem Mord, der als solcher erkannt wird, gibt es eine über neunzigprozentige Chance, dass er auch aufgeklärt wird. Aber wenn die Leiche nie einem sachkundigen Experten zur Untersuchung vorgelegen hat, kann es zu fatalen Irrtümern kommen und am Ende ein natürlicher Tod festgestellt werden, wo rein gar nichts natürlich gewesen ist.
Berringer war seit langem der Ansicht, dass es das Beste sei, eine allgemeine Obduktionspflicht einzuführen. Aber er wusste auch, dass er in dieser Hinsicht auf verlorenem Posten stand. Obduktionen kosteten Geld. Und Geld war knapp, die öffentlichen Haushalte pleite.
Die Gerichtsmedizinerin, die in diesem Fall aus Düsseldorf geschickt worden war, hieß Dr. Wiebke Brönstrup. Sie war Ende dreißig, hatte rotes Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst trug, und eine üppige, sehr weibliche Figur. Ihren meergrünen, sehr aufmerksam blickenden Augen schien nichts zu entgehen. Auch das geringste Detail nicht.
Sehr zielstrebig ging Dr. Brönstrup auf die Polizisten zu, die in der Nähe des Toten standen. Die Spurensicherung war inzwischen mit ihm fertig und kümmerte sich darum, die Umgebung nach Hinweisen abzusuchen.
Wiebke Brönstrup nickte Björn Dietrich zu, der die x-te Zigarette rauchte. „Sie sollten damit aufhören, Herr Dietrich. Ein Kollege von mir gibt Kurse an der Volkshochschule. Er arbeitet mit Nikotinpflastern und ...“
„Kein Bedarf“, sagte Dietrich, dann fasste er knapp die bisherigen Erkenntnisse zusammen.
Wiebke Brönstrup strich sich eine verirrte Strähne ihres roten Haars aus dem sommersprossigen, fein geschnittenen Gesicht und bedachte Berringer mit einem kurzen Blick, bevor sie dann die Leiche betrachtete. Als Dietrich geendet hatte, holte sie es nach, Berringer zu begrüßen. Kurz, knapp – und etwas überlegen.
„Hallo, Berry“, sagte sie.
„Hallo.“
„Wie geht’s dir?“
„Gut.“
„Ich hab 'ne Menge über dich gehört ...“
„Hin und wieder hab ich auch was über dich gehört.“ Bei beiden wirkte das Lächeln verlegen. Es war eine eigenartige Befangenheit zwischen ihnen zu spüren. Eine Befangenheit, für die es durchaus einen Grund gab, auch wenn der lange zurücklag. Fünfzehn Jahre etwa war es her, da waren sie beide für eine Weile ein Paar gewesen. Er, der Kripo-Beamte, sie, die ehrgeizige Medizinstudentin, die sich vorgenommen hatte, Chirurgin zu werden und am Ende Pathologin wurde. Zwischenzeitlich hatten sich ihre Wege nicht nur privat getrennt, sondern auch im räumlichen Sinne. Wiebke Brönstrup hatte einige Jahre in Chicago als Pathologin gearbeitet, später in Münster, und seit einem halben Jahr war sie wieder dort, wo sie herkam: in Düsseldorf.
Durch den Kollegenbuschfunk hatte Berringer jede ihrer Stationen mitbekommen. Im Streit waren sie damals nicht auseinander gegangen, eher in der Erkenntnis, dass ihre Beziehung einfach nicht funktionierte. Ihre Lebensentwürfe waren zu verschieden gewesen. Vielleicht hatten sie sich einfach auch nur zu wenig Mühe gegeben, einen Kompromiss zu finden, dachte Berringer.
Wiebke Brönstrup kniete neben dem Toten nieder. Auch der Leichenwagen war inzwischen eingetroffen - mit Düsseldorfer Kennzeichen. Er würde den Toten sofort nach der Erstuntersuchung am Tatort in die Leichenhalle des Gerichtsmedizinischen Instituts bringen, sodass dort eine Obduktion vorgenommen werden konnte, falls dies nötig erschien. Aber bei einer Leiche, die von blauen Flecken nur so übersät war, stand das wohl außer Frage.
„Dieser Mann lag nicht allzu lange im Wasser“, war sich Dr. Brönstrup sicher. „Mir fällt diese Stelle am Hals auf“, sagte sie. „Der Adamsapfel ist eingedrückt. Er hat einen heftigen Schlag bekommen. Vielleicht einen unerwarteten Ellbogenstoß oder einen Handkantenschlag. Irgend so was.“
„Also käme jemand in Frage, der Kampfsport betreibt“, stellte Berringer fest.
Wiebke Brönstrup wandte den Kopf und sah zu Berringer auf. „Ja“, stimme sie zu,
„wäre möglich.“
„Frau Gerath trainiert fleißig Aikido“, sagte Berringer an Björn Dietrich gerichtet.
„Sag mal, du scheinst die Frau rund um die Uhr observiert zu haben“, bemerkte Arno Kleppke sarkastisch.
„Ich habe mich nur kurz mit ihr unterhalten. Es kam mir seltsam vor, dass Sie überhaupt keine Angst davor hatte, selbst Opfer dieser Anschlagserie zu werden.“
„Und sie hat dir weismachen wollen, dass sie jeden Gangster in die Flucht schlagen kann“, vermutete Björn Dietrich.
„Genau“, bestätigte Berringer.
„Aber wenn sie und Severin die ganze Sache inszeniert haben, dann brauchte sie sich natürlich nicht zu fürchten“, spann Dietrich den Faden weiter. „Wir sollten der Sache mal nachgehen ...“
Frank Severins sterbliche Überreste wurden in einen Plastiksarg gelegt und in den Leichenwagen verstaut.
Dr. Wiebke Brönstrup verabschiedete sich von den Kollegen, doch bevor sie endgültig ging, blieb sie noch einen Augenblick bei Berringer stehen.
„Es ist schon seltsam, sich nach all den Jahren wiederzusehen“, fand sie.
„Ja, kann man wohl sagen.“ Er lächelte verhalten. „Du hast dich nicht verändert.“
„Das ist eine Lüge, Berry.“
„Na ja ...“
„Aber eine nette.“
„Die Realität erlebst du in der Dienstzeit häufig genug.“
„Du etwa nicht?“
„In gewissen Grenzen kann ich mir inzwischen selbst aussuchen, was ich mir zumuten will.“
„Ja, hab davon gehört, dass du aus dem Polizeidienst ausgeschieden bist und dich selbstständig gemacht hast.“
„Radio Gerüchteküche funktioniert also noch.“
Sie nickte. „Wie eh und je.“
Eine Pause entstand. Im Hintergrund war zu hören, wie Dietrich mit seiner Dienststelle telefonierte. Es ging um die nächsten Ermittlungsmaßnahmen, und da stand die Hausdurchsuchung beim Opfer ganz oben auf der Liste. Vielleicht würde das auch über Severins mögliche Verwicklung in die dubiosen Geschäfte mit der Garol ImEx Aufschluss geben.
„Es war schön, dich wiederzusehen“, sagte Berringer.
„Danke gleichfalls, Berry. So darf ich dich doch noch nennen, oder?“
„Darfst du.“
„Trinken wir mal einen Kaffee zusammen, Berry?“
Er zögerte. Millionen Gedanken huschten ihm in dieser einen Sekunde durch den Kopf. Es waren einfach ein paar zu viel für sein neuronales Netz, das zu streiken drohte. Hatte er nicht genug Chaos in seinem Leben, seinen Akten, seinen Gedanken?
Auf emotionales Chaos konnte er da gut verzichten, oder?
„Mal sehen“, sagte er.
„Wir bleiben auf jeden Fall in Kontakt.“
„Ja.“
„Bis dann.“
„Tschüss.“
Er sah ihr nach und sah, wie sie zum Wagen ging, einstieg, noch mal den Kopf wandte, ihm kurz zulächelte und den Wagen startete. Berringer hatte nicht vor, mit ihr einen Kaffee trinken zu gehen.
Aber irgendein Gefühl in seiner Bauchgegend sagte ihm, dass es trotzdem dazu kommen würde.