Читать книгу Sammelband 7 Krimis: Tuch und Tod und sechs andere Thriller auf 1000 Seiten - Alfred Bekker - Страница 18

6. Kapitel: Eine Gestalt in der Nacht

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Berringer fand kaum Schlaf. Immer wieder wachte er auf, weil er wirres Zeug träumte, das sich allerdings aus Bruchstücken von Erinnerungen zusammensetzte.

Erinnerungen, die alle etwas mit der Explosion zu tun hatten, die sein ganzes Leben verändert hatte.

Schließlich sah Berringer ein, dass es keinen Sinn mehr hatte, sich weiterhin im Bett hin und her zu wälzen. In dieser Nacht würde er keinen wirklichen Schlaf finden.

Also zog er sich an und ging an Deck seines Hausboots. Das Wetter hatte sich geändert. Wolken waren aufgezogen, es war nasskalt, und außerdem graupelte es ein bisschen.

Aber die kühle Feuchtigkeit war wie eine kalte, reinigende Dusche für die Gedanken.

Hör auf damit, die Eminenz finden zu wollen!, ermahnte er sich. Hör auf damit, in der Vergangenheit herumzuwühlen wie in einem Schlammloch! Du wirst auf nichts stoßen, was dir irgendwie weiterhelfen wird, sondern am Ende nur darin versinken!

Berringer entschloss sich, ein paar Schritte am Hafenbecken entlangzugehen. Da war es dunkel. Es gab keinen Mond, keine Sterne. All die Lichter der Nacht lagen hinter einem grauen Schleier aus Dunst. Wabernde Schwaden krochen über das dunkle Wasser, dessen Oberflächenbewegung eine fast hypnotische Wirkung auf Berringer ausübte.

Versuch an nichts zu denken. Lass den Kopf frei werden. Alles raus. Nichts bleibt drin. Nur leerer Raum zwischen den Ohren. Nennt man diesen Zustand Paradies?

Er spürte, wie er sich allmählich beruhigte.

Dann bemerkte er die Gestalt.

Sie stand etwa fünfzig Meter entfernt am Rand des Beckens. Es war ein Mann, so viel glaubte Berringer erkennen zu können. Ein Mann mit einer Baseballkappe.

Berringer sah nur eine Art Schattenriss.

Er war von einer Sekunde zur nächsten wieder voll und ganz in der Gegenwart. Die Anwesenheit des Fremden hatte genau das bewirkt, was er zuvor vergeblich zu erreichen versucht hatte: Sein Kopf war leer von all dem Ballast, den seine Seele mit sich herumschleppte. Es gab nur den Augenblick und die Frage, was das für ein Typ war, der da nachts in der Nähe seines Hausboots herumlungerte.

Berringer ging direkt und mit sehr entschlossen wirkenden Schritten auf den Mann zu. Dieser zuckte zusammen und schien erst relativ spät zu begreifen, dass er entdeckt worden war.

Zuerst hatte der Detektiv noch in Erwägung gezogen, dass es sich um einen späten Angler handelte. Die Nacht war schließlich ideal zum Fischen, nur das Hafenbecken vielleicht nicht das richtige Revier. Aber der Mann hatte keine Angel bei sich. Er stand einfach da, hatte die Hände in den weiten Taschen seiner Kargohosen vergraben. Außerdem trug er eine dicke Steppjacke. So dick und aufgeplustert, dass sie als tragbarer Airbag durchgehen konnte. Sein Haar war gelockt. Er trug einen Kinnbart und Berringer schätzte sein Gegenüber auf Mitte bis Ende zwanzig.

An der Kargohose waren Farbflecken, fiel Berringer noch auf.

„Guten Abend!“, sagt er.

Der Mann drehte sich einfach um und ging ein paar Schritte.

„Was wollen Sie hier?“, fragte Berringer.

Der andere blieb stehen. „Ich wüsste nicht, was Sie das angeht“, entgegnete er gereizt. Der Wind wehte einen Duft herüber, der irgendeine Mischung zwischen Kognak, Bier und Absinth sein musste. Da wurde ein trockener Alkoholiker ja schon vom Schnuppern wieder rückfällig, ging es Berringer durch den Kopf.

„Warten Sie!“ forderte er, aber der Mann eilte davon. Er schwankte leicht. Dass er zu viel getrunken hatte, war nicht zu übersehen.

Berringer entdeckte eine noch glimmende Zigarette auf dem Asphalt, deren Spitze wie ein Glühwürmchen leuchtete, daneben lag ein leeres Streichholzbriefchen.

Berringer nahm es vom Boden auf. Es war offenbar ein Werbegeschenk, das in irgendeiner Kneipe verteilt wurde. „Kreuzherreneck“, war darauf zu lesen.

Das Lokal kannte Berringer noch nicht. Aber das würde sich vielleicht bald ändern.

Am nächsten Morgen war Berringer schon sehr früh wach. Davor hatte er tatsächlich ein paar Stunden wie ein Stein geschlafen. Er zog sich an und frühstückte ein paar Cornflakes, die er noch da hatte. Der lösliche Kaffee war fast alle, aber für eine Tasse reichte es noch.

Das nächtliche Erlebnis kam ihm jetzt, in der Rückschau, fast wie ein weiterer wirrer Traum vor. Aber das Streichholzbriefchen bewies ihm, dass es sehr real gewesen war.

Was war das für ein Typ gewesen, und was wollte er bei Berringer? Dass der junge Mann sich zufällig gerade diesen Platz ausgesucht hatte, um über sein Leben nachzudenken und sich vielleicht sogar ins Wasser zu stürzen, daran mochte der Detektiv nicht glauben. Nun, vielleicht war er inzwischen auch schon paranoid geworden, dachte er schließlich, denn je mehr er das Ganze drehte und wendete, desto absurder kam es ihm vor. Er glaubte in irgendwelchen Fotos Gesichter wiederzuerkennen, an die er sich vorher nie erinnert hatte, und war davon überzeugt, dass ein Trinker, der sich wahrscheinlich nur auf dem Heimweg verirrt hatte, ausgerechnet seinetwegen in der Gegend herumstrich. Klang das nicht ein bisschen nach Selbstüberschätzung und Irrsinn?

Andererseits hatten die Ermittlungen der letzten Tage mit Sicherheit Staub aufgewirbelt. Staub bei Leuten, die ziemlich rabiat vorgingen. Also war Vorsicht geboten.

Berringer gähnte und genoss jeden Tropfen aus der Kaffeetasse. Er wusste, dass es seine letzte Tasse war, wenn er nicht einkaufte. Aber dazu hatte er im Moment einfach keine Zeit.

Dann saß er eine ganze Weile einfach nur mit geschlossenen Augen da und versuchte seine Gedanken zu ordnen.

Berringer parkte seinen Mitsubishi am Straßenrand. Er war sehr früh dran, die Straßen waren nahezu leer, nur bei den Bäckereien herrschte Hochbetrieb. Berringer kaufte sich ein Hörnchen und aß es unterwegs.

Er war der Erste im Büro.

Für einen Moment war er unschlüssig, was er als Erstes tun sollte. Dann schnappte er sich das Telefon und versuchte Björn Dietrich zu erreichen. Treffer. Er war schon an seinem Arbeitsplatz am Nordwall 1 in Krefeld.

„Was ist denn mit dir los?“, fragte er. „Freiwillig unter die Frühaufsteher gegangen?

Du willst sicher wissen, was mit den Geraths ist.“

„Genau.“

„Sie sind beide auf freiem Fuß, sollen sich aber in nächster Zeit zur Verfügung halten, damit wir sie erneut befragen können.“

„Hat sich irgendwas Neues in der Beweislage ergeben?“

„Bis jetzt nicht. Wir können Frau Geraths Aussage, wonach sie erst am See aufgetaucht ist, als Severin schon im Wasser lag, bislang nicht widerlegen.“ Dietrich fiel die schöne Wortspielerei mit dem „auftauchen“ und dem „im Wasser liegen“, die er da betrieb, offenbar gar nicht auf, denn er redete einfach weiter: „Den Schlag gegen die Gurgel hätte sie natürlich ausführen können, aber da werde ich mich bei ihrem Aikido-Lehrer noch mal erkundigen, ob das wirklich der reinen Lehre dieser Kampfsportart entspricht.“

„Wer sagt dir, ob dieser Kampfsportlehrer ihr die reine Lehre beigebracht hat?“

„Na ja, das wird er mir dann ja hoffentlich sagen.“ Björn hustete erbärmlich. Tbc, Endstadium, unheilbar, dachte Berringer. Aber Totgesagte lebten manchmal länger.

„Wer auch immer der Täter war“, sagte Berringer, „er stand Severin Auge in Auge gegenüber. Ein Arm ist ja nicht sehr lang.“

„So schlau sind wir auch schon. Nach Sherlock Holmes letzter Weisheit klingt das nicht gerade. An besten, du lässt uns einfach unsere Arbeit machen, und ich melde mich dann wieder bei dir.“

„Ihr solltet euch mit den Düsseldorfer Kollegen kurzschließen.“

„Wieso?“

„Wegen Ferdinand Commaneci und seiner Firma Garol ImEx.“ Björn seufzte laut und machte damit überdeutlich, dass Berringer ihm im Augenblick ziemlich auf die Nerven ging. „Alles der Reihe nach. Wir vergessen dich nicht, und ich sorge schon dafür, dass du alles mitbekommst.“

„Hast du mal mit den Kollegen gesprochen, die den Golffahrer kontrollierten?“

„Ich hab’s versucht.“

„Was soll das denn heißen?“

„Der eine Kollege ist ab heute in Urlaub, der andere hat wegen der Entbindung seiner Frau frei gekriegt. Von den diensthabenden Kollegen weiß aber niemand, wo der Vermerk geblieben oder ob es überhaupt einen gegeben hat.“

„Na, großartig!“, maulte Berringer.

„Kann ich vielleicht was dafür?“, beschwerte sich Dietrich.

„Du hättest gleich gestern anrufen können!“

„Berry, du überbewertest die Sache mit dem Golf.“

„Hoffentlich.“

„Ich muss jetzt erst mal Blumen für unseren Revierhäuptling auftreiben. Der hat nämlich Geburtstag. So was ist auch wichtig!“

„Grüß ihn schön mir.“

„Ganz bestimmt nicht. Wenn der wüsste, was ich mit dir bespreche, gäb's 'ne Standpauke, die sich gewaschen hat! Mach's gut!“

„Mach's besser!“

Dietrich unterbrach die Verbindung.

So ganz nimmt der dich nicht für voll, dachte Berringer. Er hatte das vom ersten Tag an gespürt, als er nicht mehr die Polizeimarke hatte vorzeigen können. Es war eben doch ein Unterschied ...

Berringer machte sich einen löslichen Kaffee. Um die Vorräte im Büro war es etwas besser bestellt als um die zu Hause auf dem Schiff. Lag wohl daran, dass im Büro Vanessa Karrenbrock für den Einkauf zuständig war.

Anschließend setzte er sich an den Computer, fuhr ihn hoch und holte sich noch mal die Fotos auf dem Bildschirm, die Mark Lange geschossen hatte. Vor allem jenes, auf dem er dieses Gesicht wiederzuerkennen glaubte. Er sah noch einmal genau hin und versuchte dann in die verborgenen Kammern seiner Seele zu blicken, in denen er ein paar Scheußlichkeiten aus seiner Vergangenheit sorgsam eingesperrt hatte.

Er konnte sich nicht wirklich erinnern. Er bildete es dir nur ein ... Der Mensch war nun mal ein Gesichtserkennungstier. Gleichgültig ob bei der Vorderfront eines Autos oder irgendwelche Flecken auf dem Mars – man glaubte immer, darin Gesichter zu erkennen. Das war offenbar die Konstante in der menschlichen Wahrnehmung, und die spielte ihm nun einen Streich ...

Und dabei war er sich so sicher gewesen!

Er konnte sich von den Fotos erst losreißen, als Mark Lange das Büro betrat.

„'n Morgen“, sagte er und schaute ziemlich befremdet. Wenig später traf auch Vanessa ein. Berringer konnte die Fotos gerade noch rechtzeitig wegklicken.

„Ich möchte, dass du diesen Commaneci beobachtest“, befahl er Mark. „Ich weiß nicht, was er mit Frank Severins Tod zu tun hat, aber er ist auf jeden Fall Teil seiner dubiosen Machenschaften.“

„Du bist der Boss.“

„Leider ist die Polizei nicht ganz so eifrig bei der Sache, wir ich mir das vorgestellt habe. Ich werde nachher mal mit meinen ehemaligen Kollegen hier in Düsseldorf telefonieren. Wenn man gegen diese Leute vorgehen will, muss man das mit einer entschlossenen Aktion tun, sonst kann man's vergessen.“

„Bekomm ich wieder den unwahrscheinlich gefährlichen Job, das Telefon zu bewachen?“, fragte Vanessa. „Ich weiß aber nicht, ob ich das noch lange durchstehe, Robert. Du bringst mich damit wirklich an die Grenzen meiner Belastbarkeit.“

„Ich dachte mir, du hörst dich bei Avlar Sport um“, sagte Berringer. „Alles, was du über Frank Severin herausfinden kannst, könnte wichtig sein.“

„Ich werde tun, was ich kann.“

„Schön.“

Vanessa verschränkte die Arme vor der Brust und zog die Brauen so zusammen, dass zwischen ihren Augen eine ungewohnt tiefe Furche entstand. „Und was machst du, wenn’s gestattet ist zu fragen?“

„Ich werde noch mal unseren Auftraggeber aufsuchen müssen“, erklärte Berringer.

„Er will, dass ich auf der BOOT seine Wachmänner unterstütze, und ich denke, da werden wir noch einiges miteinander besprechen müssen. Außerdem glaube ich, dass er inzwischen bereits mehr über Severins Machenschaften sagen kann.“ Berringer schüttelte den Kopf. „Ich kann es einfach nicht glauben, dass er so ahnungslos war.“

„Ich an Geraths Stelle würde allmählich mal Ergebnisse erwarten“, meinte Vanessa.

„Also, wenn du mich nach meiner Meinung fragst, ich finde, wir treten ziemlich auf der Stelle.“

Es fragt dich aber niemand!, dachte Berringer verärgert, doch er ließ Vanessas Statement unbeantwortet im Raum stehen, stand auf, nahm seine Kaffeetasse und trank das inzwischen kalt gewordene Gebräu. „Ich möchte übrigens, dass ihr beide auf der BOOT auch dabei seid. Sechs Augen sehen mehr als zwei.“

„Glaubst du, dass es da wirklich gefährlich wird?“, wunderte sich Vanessa.

„Keine Ahnung. Aber wenn jemand Gerath wirklich schaden will, muss er nur dafür sorgen, dass die Präsentation auf der BOOT nicht so läuft wie geplant.“

„Bei diesem Kerl gibt es wohl nur zwei Dinge, die ihm wirklich wichtig sind“, meinte Vanessa. „Seine Firma und seine Pferde. Die Reihenfolge kann man vielleicht sogar umdrehen, aber ...“

„Noch etwas“, unterbrach Berringer sie. Er holte das Streichholzbriefchen aus seiner Tasche. „Kennt jemand von euch ein Lokal Kreuzherreneck?“

„Ja, das ist hier in der Düsseldorfer Altstadt“, antwortete Vanessa. „Ich war ein- oder zweimal mit ein paar Freunden dort. Die Fenster sind interessant.“

„Wieso?“, wollte Mark wissen. „Was ist mit den Fenstern?“

„Du wurden von Kunststudenten oder angehenden Künstlern gestaltet. Ziemlich verrücktes Zeug haben die draufgepinselt. Aber wenigstens ist es nicht langweilig.

Ansonsten ist das ein Laden, der eher auf der Nostalgie-Linie liegt. Man verweigert sich dort konsequent jeglicher Modernisierung.“ Sie machte eine Pause und beobachtete Berringer dabei, wie er das Streichholzbriefchen wieder einsteckte. „Darf man erfahren, wozu du das wissen willst?“

Berringers Antwort war klipp und klar. „Nein.“

„Till!“

Der Mann in Kargohose mit den mit Farbflecken und dem dunklen Rollkragenpullover tauchte einen Pinsel in einen Eimer mit roter Farbe und sprenkelte sie auf eine Leinwand im Format zwei Meter mal zwei Meter fünfzig.

„Till!“, sagte die Frauenstimme zum zweiten Mal.

Maja Gerath – wie immer ganz in Weiß – stakste wie ein Storch durch das Atelier, bemüht darum, ihre weiße Kleidung nicht zu beschmutzen, was bei der weiten, beinahe über den Boden wischenden Schlaghose gar nicht so einfach war.

Das Gesicht ihres Bruders Till war zu einer Grimasse verzerrt. Er schien seine Schwester gar nicht zu bemerken. Immer wieder spritzte er rote Farbe auf die Leinwand, die dadurch immer mehr mit Sprenkeln versehen wurde. Den Pinsel benutzte er wie eine Waffe, mit der er gegen einen unsichtbaren Gegner kämpfte.

„Till, jetzt hör doch mal! Wir müssen dringend reden!“ Till hielt auf einmal inne. Er steckte den Pinsel in den Farbeimer und stellte diesen ziemlich unsanft auf den Boden. Dabei spritzte etwas von der roten Farbe durch den Raum.

Maja schrie ärgerlich auf. „Jetzt guck mal, was du gemacht hast!“, rief sie und deutete auf einen Spritzer an ihrer Schlaghose.

Till grinste. „Meine unbefleckte Schwester hat was abgekriegt! Ein Drama!“ Er wies auf einen kleinen Kanister, der am Boden stand. „Da ist Terpentin drin – bitte!“

„Terpentin! Ich glaub, du spinnst!“

„Ich bin überzeugt, irgendwann wird ein dummer Esel Klamotten erfinden, an denen Farbe nicht haftet – und dieser dumme Esel wird dann von unserem ehrenwerten Herrn Vater angeheuert werden, sodass es dann neben Avlar Tex und Avlar Sport auch noch Avlar No Coulour gibt!“ Till kicherte. Er drehte sich um und ging zum Tisch, auf dem eine halbvolle Flasche Kognak stand, aus der er einen Schluck nahm.

„Wir müssen etwas unternehmen, Till! Es ist jetzt fünf vor zwölf! Zu Hause fällt alles auseinander!“

Till machte eine wegwerfende Geste. „Was sagt denn Andreas dazu?“

„Ach, der. Du kennst ihn doch.“

Till musterte sie einen Augenblick lang. „Dir geht’s doch nur ums Geld, Schwesterherz, auch wenn du immer alles Mögliche sonst noch behauptest. Aber das ist der Kern der Sache: Euros!“

„Für mich brauche ich nichts!“

„Nein – nur für die kranken Seelen, die sich in dem komischen Gotteskinder-Verein sammeln, die du dir als Ersatzfamilie gesucht hast.“

„Nun tu mal nicht so scheinheilig, du Künstler - oder was immer du auch sein magst!

Wenn Mutter dich nicht immer heimlich großzügig unterstützt hätte, würdest du nicht so große Töne spucken, sondern müsstest dir deinen Lebensunterhalt mit richtiger Arbeit verdienen!“

„Immer gelassen bleiben, Schwesterherz – und nur kein Neid.“ Tills Blick galt wieder dem Gemälde, bei dem er sich wohl noch nicht so recht schlüssig darüber war, ob er es schon als abgeschlossen betrachten sollte oder nicht. „Weißt du, wie ich dieses Bild nenne?“

„Keine Ahnung.“

„ Familienbande – Familienschande. Passt doch, findest du nicht?“

„Ein bisschen einfarbig.“

„Ich bin in meiner roten Phase, Maja. Rot wie die Liebe, rot wie Blut ...“

„Rot wie Marmelade.“

Till verzog das Gesicht. „Sehr witzig. Ich weiß außerdem gar nicht, was du hast. Dich hat Papa doch immer unterstützt. Zumindest bis du dieser seltsamen Vereinigung beigetreten bist und von BWL und anderen weltlichen Dingen nichts mehr wissen wolltest.“

„Hör auf. Mach dich über diese Dinge nicht lustig.“

„Gilt in eurem Verein eigentlich auch das Zölibat, oder gehört ihr mehr zu der anderen Sektenfraktion, die ihre Spiritualität in hemmungslosen Orgien auslebt, wie früher dieser Bhagwan?“

Sie rieb etwas an dem Fleck auf ihrer Hose herum und verschränkte dann die Arme vor der Brust. Wegen der warmen Steppjacke, die sie noch nicht ausgezogen hatte, begann sie zu schwitzen. Aber sie erspähte nirgends ein sauberes Plätzchen, wo sie das Kleidungsstück ohne Bedenken hätte ablegen können; überall lauerten Gefahren durch Farbreste. Wie konnte man so eine Rumpelkammer nur Atelier nennen, dachte Maja. Aber wahrscheinlich war das immer eine Frage des Standpunkts. Der eine nannte es Schrottplatz, für den anderen war es ein Skulpturenpark.

„Ich soll dich übrigens schön von Mutter grüßen“, sagte Till.

„Weißt du, wo sie hingezogen ist?“

„Ja. Sie hat sich gleich bei mir gemeldet, als sie dort unterkam. Sie wohnt im Haus Oberkassel.“

„Das Hotel?“

„Ja.“

„Das ist mal wieder typisch. Bei mir meldet sie sich nicht.“

„Na, da liegt der Grund doch wohl auf der Hand.“

„Wieso?“

„Weil kein Mensch Bock darauf hat, sich erst mal von einem deiner sogenannten Glaubensbrüder die Welt erklären zu lassen, den man am Telefon hat, wenn man eigentlich nur mal kurz mit dir sprechen möchte. Du könntest dir ja auch ein Handy anschaffen, aber wahrscheinlich ist das genauso Sünde wie all die anderen Dinge, die Spaß machen und praktisch sind.“

„Ich dachte, mit dir könnte man sich ernsthaft unterhalten. Aber das war wohl ein Irrtum.“ Ihr Gesicht war dunkelrot vor Ärger. „Werde ich eben doch mit Andreas reden müssen. Vielleicht ist der ja zugänglicher.“

„Hörte sich eben aber noch so an, als würdest du auf den pfeifen.“ Till kicherte. „Pass auf, dass du dir von ihm nicht 'ne Versicherung andrehen lässt.“

„Versteh ich nicht.“

„Na, das macht er doch, seit Papa ihn rausgeschmissen hat und er seine Kokainsucht in den Griff bekam: Versicherungen verkaufen. Wusstest du das nicht? Irgendwie muss ja jeder überleben, und wenn man sonst keine Begabung hat, außer Zahlen zu addieren und Leute zu bescheißen – da bietet sich so 'n Job doch direkt an, würd ich mal sagen.“ Till machte ein paar Schritte auf Maja zu. „Du hast das wirklich nicht gewusst?“

„Als wir uns das letzte Mal sahen, hat er mir was von einer Anstellung als Einkäufer irgendeines Kaufhauses erzählt.“

Till schüttelte grinsend den Kopf. „Wer würde diesem Wrack denn einen Posten mit derart viel Verantwortung geben? Du etwa? Wenn er den Job überhaupt je hatte, dann ist er ihn ganz schnell wieder losgeworden. Übrigens habe ich den Typ mal ein bisschen genauer unter die Lupe genommen, den Papa angeheuert hat, um den Mörder seiner ach so geliebten Pferde zu entlarven.“ Till ging zurück zum Tisch, griff wieder zur Flasche, nahm einen Schluck und behielt sie nun in der Hand.

Maja war plötzlich wieder sehr viel interessierter, nachdem sie zunächst schon gehen wollte. Eigentlich hatte sie nämlich keine Lust mehr, sich das überhebliche, von gnadenloser Eitelkeit und Selbstüberschätzung geprägte Geschwätz ihres Bruders anzuhören. „Was hast du rausgefunden?“

„Er heißt Berringer ...“

„Mir gegenüber hat er sich mit diesen Namen vorgestellt“, sagte sie schnippisch.

„Diese Mühe hättest du dir also sparen können.“

„Und er wohnt auf einem Hausboot hier im Hafen. Ich hab mir das gestern Nacht auf dem Rückweg von dem Event mal angesehen. Ist sogar herausgekommen aus seinem Loch, der Herr Privatschnüffler. Ich weiß auch nicht, plötzlich war er da ... Ich glaub, das ist ein Trottel.“

„Du weißt, was geschieht, wenn Papa stirbt?“, fragte Maja.

„Ja, das weiß ich. Und ehrlich gesagt, kann ich es kaum abwarten, dass es soweit ist.

Aber bis dahin gibt es noch in paar andere Anlässe, sich zu freuen.“ Er prostete Maja mit der Flasche in der Hand zu, nahm einen Schluck und griff mit der anderen Hand zum Pinsel im Eimer. „Wenn das geschieht, wovon du gesprochen hast, werde ich meine Phase ändern.“

„Von Rot in Blau?“

„Blau hab ich schon hinter mir. Nein, ich werd dann nie wieder malen, sondern nur noch Aktionskunst machen. Mir schwebt da ein Park vor mit Hunderten von schusssicheren Westen, alle hergestellt von Avlar Tex. Die Besucher des Parks bekommen dann Maschinenpistolen und dürfen die Westen mal auf ihre Materialkonstanz testen.“ Er lachte gackernd.

„Du bist ein Spinner!“, sagte Maja. „Wenn ich auch sonst nicht oft Papas Meinung bin – das, was er so über dich gesagt hat, stimmt hundertprozentig.“ Tills gute Laune war von einem Augenblick zum anderen weg. Er rammte den Pinsel zurück in den Eimer. „So, was hat er den immer gesagt? Ich bin ja schließlich schon eine Weile von zu Hause weg, und wie du weißt, bin ich direkten Begegnungen mit unserem Vater immer ganz gerne ausgewichen!“

„Aus gutem Grund.“

„Also, nun mal raus mit der Sprache!“

„Er meinte, schwul zu sein sei der einzige Fehler, den du vermutlich nicht hättest.

Aber auch da ist er sich nicht ganz sicher.“

Tills irres Kichern ging nach und nach in ein Schluchzen über, während sich seine Schwester einfach davon machte.

Vielleicht war es ein anderes Mal möglich, die anstehenden Probleme vernünftig zu besprechen, hoffte sie.

Berringer fuhr zunächst zur Villa der Geraths. Der Hausherr empfing ihn ziemlich nervös in der Eingangshalle. Wie üblich drängte ein Termin.

„Ich habe einen Anruf erhalten“, sagte er. „Jemand mit Akzent, er nannte sich Lajos Car...“

„Lajos Carescu?“, fiel Berringer in verblüfft ins Wort.

Gerath sah den Detektiv mit einer Mischung aus Erstaunen und Bewunderung an.

„Sie scheinen aber auch wirklich jeden zu kennen.“

„Lajos Carescu ist ein Handlanger von Ferdinand Commaneci. Sagt Ihnen der Name vielleicht etwas?“

„Nein.“

„Frank Severin hat dubiose Geschäfte mit ihm gemacht und bei der Einfuhr von Waren geholfen, die eigentlich nur unter Strafzöllen die EU-Grenzen passieren dürfen.“

„Wie gesagt, ich weiß von alledem nichts.“

„Was wollte Carescu?“

„Er sagte, alles sollte bei Avlar Sport weiterlaufen wie bisher. Und wenn nicht, könnte es sein, dass etwas passiert.“

„Genauer hat Carescu sich nicht ausgedrückt?“

Gerath schüttelte den Kopf. „Nein, leider nicht. Aber ehrlich gesagt, kann ich mir das auch so ganz gut vorstellen. Meine Schulter schmerzt seit dem Sturz noch immer.“ Berringer kratzte sich am Hinterkopf. Welches Spiel hatte Gerath im Sinn?, fragte sich der Detektiv. „Sie meinen, dass diese Leute jetzt einfach an Severins Geschäfte anknüpfen wollen und davon ausgehen, dass Sie darüber Bescheid wissen“, stellte Berringer fest.

„Fällt Ihnen eine bessere Erklärung ein? Darum haben sie auch nie irgendwelche Forderungen gestellt. Wozu auch? Diese Botschaften hat Severin bekommen.

Offenbar muss er mal nicht so gespurt haben, wie die Brüder es wollten, und da haben sie dann eine härtere Gangart eingelegt. Unglücklicherweise fielen meine Laura und die anderen Pferde diesen Verbrechern zum Opfer.“ Er schnippte mit den Fingern. „Das muss es sein! Sie dachten, ich wäre in diese krummen Deals eingeweiht!“

Oder Sie sind jemand, der sich nun, da früher oder später doch alles ans Licht kommen wird, noch mal schnell die Hände in Unschuld waschen will, dachte Berringer. Aber für so clever hatte er den Chef von Avlar Tex eigentlich nie gehalten.

„Wir sehen uns auf der BOOT“, sagte Gerath.

„Ich muss noch wissen, wo Ihre Frau untergekommen ist. Nur für den Fall, dass ich Fragen habe.“

„Tja, tut mir leid. Sie hat mir keine Adresse genannt. Mein Anwalt meint, sie möchte vielleicht die Scheidung noch etwas hinauszögern, indem sie die Adresse verschweigt, wo man die Ladung hinschicken könnte, aber das halte ich für absurd.“ Um die Mittagszeit traf Berringer im Gerichtsmedizinischen Institut ein und fragte sich zu Dr. med. Wiebke Brönstrup durch.

Er fand sie an ihrem Arbeitsplatz in der Leichenhalle. Ein seltsamer, aber durchaus typischer Geruch hing in der Luft. Dieses besondere Gemisch aus Desinfektionsmittel und Leichengeruch, der jedem im Gedächtnis blieb. Schon das wäre für Berringer ein Grund gewesen, niemals an diesem Ort zu arbeiten.

„Hallo, Berry“, grüßte sie und schenkte ihm ein freundliches Lächeln.

„'n Morgen.“

„Ich nehme an, du willst wissen, ob unsere Untersuchungen die ersten, am Tatort gewonnenen Ergebnisse unterstützen.“

„Ja.“

„Die Todesursache im Fall Frank Severin war tatsächlich der Schlag gegen die Kehle, und dieser Schlag ist von einer relativ kleinen Person geführt worden. Das lässt sich ziemlich sicher sagen.“

„Also einer Frau!“

„Nein, auch ein Mann, der nicht gerade eine Basketballerstatur hat, kommt in Frage.

Der Täter oder die Täterin war um die ein Meter siebzig.“

„Hat ein Kampf stattgefunden?“

„Kann ich nicht sagen, aber wir haben keinerlei DNA-Spuren finden können, etwa Hautreste unter den Fingernägeln oder so. Der Angriff muss sehr plötzlich und heftig erfolgt sein.“

„Glaubst du, dass Täter und Opfer sich kannten und Severin den Angreifer deshalb so dicht an sich heran ließ?“

„Eine plausible Theorie, die natürlich für Frau Gerath als Täterin deutet.“

„Ich sehe, du hast dich eingehend mit dem Fall auseinandergesetzt“, erkannte Berringer an.

„Ich hatte ein langes Telefonat mit deinem ehemaligen Kollegen Dietrich, der mich übrigens auch davor gewarnt hat, dir mehr Auskünfte zu geben, als dir von Gesetzes wegen zustehen.“

Berringer lächelte. „Also gar nichts.“

„Deine Kombinationsgabe ist beachtlich.“

„Liegt am Job“, behauptete er. „Und warum redest du dann überhaupt mit mir?“

„Weil ich mich freue, dich wiederzusehen.“ Sie lächelte ihn an. „Ist die reine Wahrheit. Gib’s zu, so wichtig sind die Einzelheiten im Fall Severin nun auch nicht.

Normalerweise hättest du jetzt deine hoffentlich vorhandenen Ermittlungsansätze weiterverfolgt. Aber ich nehme an, stattdessen willst du mit mir einen Kaffee trinken.“

„Ich dachte, das Angebot gilt noch.“

„Tut es auch.“

„Wann und wo?“

„Ich hätte jetzt gleich Mittagspause. Das würde sich doch gut treffen, zumal hier gleich um die Ecke ein Bistro ist, wo man auch was zwischen die Zähne bekommen kann.“

„Ich habe gehört, was mit deiner Familie geschehen ist“, sagte Wiebke Brönstrup, als sie in dem Bistro saßen und Berringer das vor ihm auf dem Teller liegende Sandwich zu Prüfzwecken aufklappte. Er trank erst einmal einen Schluck von seinem Kaffee.

„Das muss ein schlimmer Schlag gewesen sein.“

„Ja.“

Ein knapperes Ja konnte man sich kaum vorstellen, und es war für Wiebke Brönstrup ein deutliches Signal dafür, dass er über das Thema sprechen wollte.

Berringer wandte sich wieder dem Sandwich zu und nahm die Tomate herunter, legte sie an den Rand und blickte auf. „Du hattest offenbar auch ein ganz interessantes Leben in den letzten Jahren.“

„Es geht ...“

Aber es war interessant genug gewesen, um ihm davon ausführlich zu erzählen. Sie begann mit den Jahren in Chicago, und es kam Berringer vor, als wäre bei ihr ein Damm gebrochen, denn sie redete wie ein Wasserfall, und Berringer war froh, dass er

- abgesehen von kleinen Äußerungen aktiven Zuhörens - nichts zum Gespräch beitragen musste. Er sagte einmal „Hm“ und mehrere Male „Ja!“ beziehungsweise ab und zu auch „Ja?“.

Solche Gespräche waren wie ein Kaminfeuer, fand Berringer. Man musste nur ab und zu etwas Luft hineinblasen, dann brannte es munter weiter. Früher, als sie ein Paar gewesen waren, hatte sie ihm oft vorgeworfen, sich nicht richtig einzubringen. Das schien sie nicht mehr zu stören.

Nach einer Weile sah Wiebke auf die Uhr. „Ich hab mich richtig verquatscht.

Eigentlich müsste ich schon wieder das Seziermesser schwingen.“

„Tut mir leid.“

„Aber vielleicht setzen wir das ja bald mal fort.“

„Nichts dagegen.“

„War schön, sich mit dir zu unterhalten.“

„Ja, es ist ja inzwischen auch viel Zeit vergangen. Da hat man dann genug Gesprächsstoff.“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich glaube, du bist einfach kommunikativer geworden. Komisch, ich hatte dich immer als maulfaul in Erinnerung ...“ Berringer lächelte milde. Seit sie in diesem Bistro saßen, hatte er kaum einen ganzen Satz gesprochen. „Wahrscheinlich bist du einfach nur nicht mehr so anspruchsvoll“, meinte er, „was auch kein Wunder ist.“

„Wieso?“

„Na, wenn sich jemand über Jahre hinweg überwiegend mit Toten unterhält, ist er ja vielleicht daran gewöhnt, dass seine Gesprächspartner etwas zurückhaltender sind und nicht zu allem ihren Senf abgeben.“

„Witzbold!“ Sie lachte.

Sie lachte genau so, wie Berringer es von früher her in Erinnerung hatte, und er lachte mit. Zum ersten Mal seit langer Zeit lachte er wieder.

Am späten Nachmittag traf sich Berringer noch einmal mit Vanessa und Mark im Büro der Detektei.

„Ich habe Commaneci auf Schritt und Tritt verfolgt“, berichtete Mark Lange. „Unter anderem bis in den Krefelder Osthafen. Und ich hab mich ein bisschen umgehört. In ein paar Tagen läuft da irgendwas, worin Commaneci und die Garol ImEx ihre Finger haben. Genaueres kann ich vielleicht noch erfahren.“

„Gut.“ Berringer nickte und wandte sich an Vanessa. „Gibt es irgendwas Neues an der Avlar-Sport-Front?“

„Da scheint mehr oder weniger die Panik ausgebrochen zu sein“, erläuterte sie.

„Offenbar hat Frank Severin ein ziemliches Chaos hinterlassen. Da geht zurzeit nicht nur die Kripo ein und aus, sondern auch die Steuerfahndung. Ich hab mich mit verschiedenen Mitarbeitern unterhalten, und nach deren Aussagen gab es regelmäßig diese dubiosen Lieferungen von Billigklamotten, die am Verkaufschef vorbei weiterverscherbelt wurden. Severin hatte aus irgendeinem Grund Narrenfreiheit in dem Unternehmen. Er hat sich einmal 100.000 Euro vom Firmenkonto geliehen -

wenn geliehen überhaupt der richtige Ausdruck ist.“

„Ein Darlehen, von dem der Darlehensgeber nichts weiß, nennt man auch wohl Diebstahl“, brummte Berringer.

„Ja, aber Peter Gerath hat das offenbar nicht so gesehen, als die Sache rauskam. Alle dachten, jetzt fliegt der Severin. Und offenbar wäre er selbst auch kaum traurig darüber gewesen.“

„Aber Gerath hat Schwamm drüber signalisiert“, vermutete Berringer.

„Es gab wohl eine ziemlich heftige Aussprache zwischen beiden – und zwar in Severins Büro bei Avlar Sport. Die Auseinandersetzung war so laut, dass man zumindest die Tonart noch im Vorzimmer registrieren konnte. Tatsache ist aber, dass Severin bis zuletzt in seinem Chefsessel saß, obwohl er als Geschäftsführer eigentlich untragbar war und sich aufgeführt hat, als gehörte ihm der Laden.“

„Sehr interessant“, meinte Berringer. „Ich habe sowieso das Gefühl, dass die Geraths mir nicht alles gesagt haben. Was ist mit Severins Verhältnis zu Frau Gerath? Bist du da irgendwie weitergekommen?“

„Nicht besonders. Da mag auch keiner drüber sprechen.“

„Hast du eine Ahnung warum?“

„Wahrscheinlich, weil alle wissen, dass sie jetzt mit Peter Gerath gut auskommen müssen und sich niemand in die Nesseln setzen will. Auf der anderen Seite waren das wohl nur Gerüchte. Was wirklich Konkretes wussten wohl nur sehr wenige Leute.“

„Unter anderem vom Pförtner.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß, dass du es nicht gerne hörst, wenn ein Klient in Verdacht gerät und die Möglichkeit besteht, dass die Detektei für einen Mörder tätig ist ...“

Berringer hob die Augenbrauen. „Du verdächtigst Peter Gerath?“

„Gib zu, dass er durch das, was ich gehört habe, noch ein weiteres Motiv gehabt hätte, Severin umzubringen.“

„Umbringen zu lassen“, ergänzte Berringer. „Für die Tatzeit hat er nämlich ein verdammt gutes Alibi – mich.“

„Natürlich.“

Berringer kratzte sich am Hinterkopf. „Jedenfalls werde ich unserem Auftraggeber ein paar drängende Fragen stellen müssen.“

Für Berringers Mitarbeiter war Feierabend, für ihn selbst noch nicht. Er fuhr noch einmal zu dem Reihenhaus in Unterbilk, wo er den Halter des Golf lokalisiert hatte, und klingelte.

Das Kläffen eines Hundes verkündete, dass jemand zu Hause war. Der Ford in der Einfahrt, dessen Kofferraum offen stand und in dem sich noch zwei schwere Reisetaschen befanden, sprach wiederum dafür, dass Gabriele Hoffmann tatsächlich ein paar Tage im Urlaub gewesen war, wie der Rentner behauptet hatte.

Ein Mann öffnete die Tür und hielt den Münsterländer am Halsband. Das Tier schien ziemlich ungebärdig zu sein. Für die Jagd wohl kaum geeignet, dazu mangelte es ihm entschieden an Disziplin.

„Was ist?“, fragte der Mann. Der Kerl war groß, dunkelhaarig, wirkte muskulös und war sicher zwei Köpfe größer als der unscheinbare Hänfling, der den Golf gefahren hatte.

„Ich hätte gern mit Gabriele Hoffmann gesprochen.“ Eine Frau tauchte im Hintergrund auf. Sie hatte langes blondes Haar, das ihr offen über die Schultern fiel und seidig glänzte. Berringer schätzte sie auf etwa dreißig, den Mann vielleicht fünf Jahre älter.

„Soll ich mal den Hund nehmen?“, fragte sie.

„Ja, sperr ihn in die Toilette.“

„Okay.“

Sie verschwand mit dem Tier und kehrte einen Augenblick später ohne Hund zurück.

„Sagen Sie mir, was Sie auf dem Herzen haben“, forderte der Mann Berringer auf,

„aber fassen sie sich kurz. Alexandra und ich haben eine lange, anstrengende Fahrt hinter uns, und was ich jetzt am wenigsteten brauchen kann, ist zusätzlicher Stress.“

„Ihre Frau heißt nicht Gabriele?“, wunderte sich Berringer.

„Alexandra ist meine Lebensgefährtin. Und, nein, sie heißt nicht Gabriele!“

„Aber ...“

„ Ich bin Gabriele Hoffmann!“, erklärte der Mann zu Berringers Überraschung. Er verdrehte entnervt die Augen und seufzte. „Es ist immer das Gleiche. Mein Vater kommt aus der italienischen Schweiz, wo ich als Kind gelebt habe. Und im Italienischen ist Gabriele nun mal ein Männername, so wie Andrea oder Simone.“ Berringer lächelte entschuldigend. „Es geht um den Golf, den Sie besitzen. Haben Sie ihn gegenwärtig an jemanden verliehen?“

„Wer sind Sie überhaupt? Warum stellen Sie solche Fragen?“, wollte Gabriele Hoffmann wissen, und in seiner Stimme lag ein deutlich aggressiver Unterton.

„Schatz, dass muss der aufdringliche Typ sein, von dem uns Herr Kremers erzählt hat“, meinte Alexandra und sah daraufhin Berringer direkt an. „Sie waren doch gestern schon mal hier, oder?“

„Ja.“

„Herr Kremers sagte, es ginge um eine Verkehrsangelegenheit.“

„Richtig. Ich bin Privatdetektiv und ermittle in einer Fahrerfluchtsache.“

„Macht so etwas nicht die Polizei?“, fragte sie misstrauisch.

„Mein Klient hat nicht so viel Vertrauen in deren Bemühungen.“ Gabriele Hoffmann wechselte mit seiner Lebensgefährtin einen ziemlich genervten Blick und knurrte: „Kaum zu Hause, und schon wieder urlaubsreif!“

„Ich hab dir gleich gesagt, dass das mit Matti nur Schwierigkeiten bringt.“

„Er ist mein Kumpel!“

„Du siehst ja, was du davon hast. Nichts als Ärger.“

„Klar, du hast alles im Voraus gewusst! Wie du auch im Voraus gewusst hast, dass das Hotelfrühstück wahrscheinlich nicht besonders üppig sein wird.“

„War’s üppig?“

„Ach!“

Berringer mischte sich wieder ein. „Vielleicht können Sie mir weiterhelfen, indem Sie mir sagen, wer dieser Matti ist und wo ich ihn finden kann?“

„Also erst mal möchte ich definitiv klarstellen, dass ich nicht in dem Wagen gesessen habe, bei welchem Unfall auch immer“, erklärte Gabriele Hoffmann. „Ich war im Urlaub, und wenn Sie wollen, gebe ich Ihnen die Adresse des Hotels, damit das Personal meine Anwesenheit notfalls bezeugen kann!“

„Schon gut, Herr Hoffmann, das glaube ich Ihnen ja.“

„Wie gesagt, Matti ist ein Kumpel. Er heißt eigentlich Matthias Gerndorf und hat in den letzten Jahren ein bisschen Pech gehabt. Da er von staatlicher Unterstützung abhängig ist – Hartz IV oder so –, darf er selbst kein Auto besitzen, weswegen der Wagen auf meinen Namen läuft. Aber ich habe die Rostlaube seit Monaten nicht mehr gesehen.“

„Hat diese Matthias Gerndorf auch eine Adresse?“

„Hat er. Er wohnt drüben in Wersten. Alexandra, schaust du mal eben im Telefonregister, welche Straße?“

„Ja.“

Berringer fuhr zur Adresse von Matthias Gerndorf. Sie gehörte zu einem Mietshaus in Düsseldorf Wersten. Er parkte den Mitsubishi am Straßenrand und musste die letzten Meter zu Fuß laufen. Ein Möbelwagen stand vor dem Eingang, und ein Trupp von Möbelpackern trug allerlei Zeug aus dem Haus. Das meiste war in handelsübliche Umzugskisten verpackt, aber es waren auch ein paar Möbelstücke dabei, die sich überwiegend in einem erbarmungswürdigen Zustand befanden.

Berringer fragte sich, weshalb so ein Müll überhaupt noch aufbewahrt wurde. Der Transport würde dem einen oder anderen Teil ohnehin den Rest geben.

Berringer trat in den Hausflur.

Gerndorfs Briefkasten quoll über. Broschüren von Versandhäusern und Briefe mit dem Aufdruck MAHNUNG verstopften den Schlitz.

Die Wohnung lag im zweiten Stock. Berringer wich zwei Packern aus, die gerade einen Schrank aus edler Spanplatte mit verhunztem Furnier an ihm vorbeitrugen, und ging dann nach oben. Er nahm immer mehrere Stufen auf einmal. Einen Aufzug gab es nicht. Macht nichts, dachte Berringer, dann tust du wenigstens was für deine Fitness.

Die Tür von Gerndorfs Wohnung stand offen, und da wurde klar, dass offenbar gerade eine Räumung stattfand.

Ein dicker Mann mit kurz geschorenen Haaren, einer Brille mit flaschenbodendicken Gläsern und einem breiten Stiernacken dirigierte die Packer. Er schien das Sagen zu haben. Die Strickweste passte ihm nicht, und die Knöpfe seines Hemdes drohten abzureißen. Er prustete wie eine Dampflok und schwitzte trotz der Tatsache, dass die Heizung abgestellt war und die Fenster offen standen, sodass ein kühler Durchzug durch die Wohnung wehte, der den fauligen Gestank, der in der Luft hing, aber noch nicht hatte vertreiben können. Eine leicht süßliche Geruchsnote war darunter, die Berringer unwillkürlich an seinen Aufenthalt am Arbeitsplatz von Dr. Wiebke Brönstrup erinnerte.

Er verzog das Gesicht. Verfaulte Äpfel oder eine Leiche? Wer konnte das schon so genau auseinander halten?

„He, was machen Sie denn hier?“, wandte sich der Dicke an Berringer. „Was wollen Sie?“

„Ich möchte mit Herrn Matthias Gerndorf sprechen.“ Der Dicke lachte heiser und hustete daraufhin erbärmlich. Er rang nach Luft, lief rot an und brauchte einige Augenblicke, um sich wieder zu fassen. „Schuldet er Ihnen auch Geld?“

„Nun ...“

„Dann schreiben Sie’s besser als Verlust ab. Der hat nicht einen Cent, der Hund.“

„Wo ist Gerndorf jetzt?“

„Das möchte ich auch gern wissen. Glauben Sie’s mir, ich hab einiges angestellt, um das rauszufinden. Dieser Mann ist ein sogenannter Mietnomade. Der hat hier gewohnt und irgendwann einfach nicht mehr bezahlt. Aber das Gesetz nimmt einen als Vermieter ja heutzutage nicht mehr in Schutz. Was glauben Sie wohl, wie lange das gedauert hat, bis ich ihn endlich rausgeklagt habe! Aber wenn Sie vor einem deutschen Gericht eine Räumung durchgesetzt haben, dann bedeutet das noch lange nicht, dass derjenige dann raus muss. Da gibt’s immer noch ein paar Tricks, um für weitere Monate mietfrei zu wohnen. Ein Scheißdreck ist das, kann ich Ihnen sagen!“ Er rang wieder nach Luft. Die Sache schien ihn ziemlich mitzunehmen. Mit der Linken griff er sich in die Herzgegend.

„Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“

„Es geht schon, Herr ...“

„Berringer. Ich bin Privatdetektiv.“

„Wundert mich überhaupt nicht, dass jemand einen Detektiv auf den Kerl angesetzt hat. Vielleicht werde ich das auch noch tun. Lassen Sie mir mal Ihre Karte da.“ Berringer fischte eine seiner Visitenkarten aus der Jackentasche und gab sie dem Dicken. Dieser betrachtete sie etwas umständlich, aber ziemlich eingehend, wozu er sich erst einmal die Brille zurechtrücken musste. Schließlich steckte er sie in seine Westentasche. Dann rief er einen der Packer herbei. „Ist noch ein Stuhl da?“

„Ja, ich glaub schon. In der Küche.“

„Dann bring den mal her!“

Der Packer brachte einen Küchenstuhl herbei, und der Dicke setzte sich. Berringer bereitete sich innerlich schon darauf vor, dem Vermieter vom Boden aufhelfen zu müssen, da der Küchenstuhl alles andere als robust wirkte und es ziemlich unwahrscheinlich schien, dass er das immense Gewicht aushalten würde.

Erstaunlicherweise tat er’s.

Der angespannten Körperhaltung des Packers sah Berringer an, dass dieser den gleichen Gedanken gehabt hatte. Er atmete sichtlich auf.

„Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen keinen Platz anbiete“, bat er. „Mein Name ist übrigens Fernholz. Ich bin aufgrund meiner Atemwegserkrankung Frührentner. Aber da ich noch recht jung war, als ich arbeitsunfähig wurde, kommt da nicht viel zusammen. Diese Eigentumswohnung hier hab ich von meinen Eltern geerbt, und eigentlich sind die Mieteinnahmen ein fest eingeplanter Bestandteil meines Einkommens. Aber wenn man so ein Raubtier da drin hat, das einfach nicht zahlt, dann kommt man schnell an die Grenze des finanziellen Ruins. Von den Anwalts- und Gerichtskosten mal ganz abgesehen, das kommt alles noch obendrauf.“ Er machte eine wegwerfende Handbewegung und schnappte erneut nach Luft. „Ich habe es inzwischen aufgegeben, mir den Verlust in Euro und Cent auszurechnen. Das deprimiert einen einfach zu sehr.“

„Das kann ich gut verstehen.“

„Nicht genug, dass er mich um die Miete geprellt hat. Der hat auch noch gehaust wie ein Schwein. Riechen Sie diesen fauligen Geruch? Das waren verdorbene Lebensmittel. Dieser Gerndorf hat sie einfach hier zurückgelassen. Nach mir die Sintflut, das scheint sein Motto zu sein. Ich muss die Wohnung komplett renovieren.

So wie sie jetzt ist, kann ich die doch niemandem mehr anbieten. Gerade bei der derzeitigen Situation auf dem Wohnungsmarkt. Die Mieten fallen nämlich, und da wird es immer schwieriger, auf seinen Schnitt zu kommen.“ Fernholz schien sich seinen gesammelten Frust einfach mal von der Seele reden zu müssen, dann aber Berringer versuchte das Gespräch behutsam auf ein ergiebigeres Terrain zu lenken. „Seit wann ist Gerndorf verschwunden?“

„Die Nachbarn sagen, sie hätten ihn seit ein paar Wochen nicht mehr gesehen. Aber die Angaben widersprechen sich. Wissen Sie was das Dollste ist? Ich muss jetzt diesen ganzen Mist, der hier herumsteht, auch noch professionell einlagern. Auf der Lagermiete bleibe ich natürlich am Ende sitzen, ist doch klar. Sagen Sie mal ehrlich, finden Sie das gerecht?“

„Man sagt ja nicht umsonst, dass Justitia blind ist.“

„Aber so blind dürfte sie in einem entwickelten Land wie den unserem nicht sein!“ Er hielt inne. „Besser, ich sag nichts mehr. Die ganze Sache regt mich einfach zu sehr auf. Und bringt mich am Ende noch ins Grab.“

„Hat Gerndorf allein in der Wohnung gelebt?“

Fernholz schüttelte den Kopf und nahm seine Brille ab. Sie war beschlagen, wahrscheinlich, weil er so schwitzte. Er säuberte die Gläser mit dem Ärmel. „Nein, erst war eine Frau dabei. Die hat auch einigermaßen für Ordnung gesorgt, soweit ich das mitgekriegt hab. Danach ging es dann bergab mit Gerndorf.“

„Was heißt ›danach‹?“

„Nachdem sie sich getrennt haben. Muss recht lautstark gewesen sein, wenn man dem vertraut, was die Nachbarschaft so erzählt. Gerndorf hat ihr einen Koffer mit Klamotten hinterhergeworfen. Aus dem Fenster. Um ein Haar hätte der Postbote den abgekriegt.“

„Einen Namen wissen Sie nicht zufälligerweise?“

„Doch. Sie hieß Birgit Meyer.“

„Nee, das ist doch nicht wahr!“, stieß Berringer hervor.

„Doch. Meyer mit e. y. Ganz bestimmt!“

Berringer seufzte entnervt. „Haben Sie eine Ahnung, wie viele Frauen es gibt, die Birgt Meyer heißen?“ Dann wollte er wissen: „Wie alt war sie denn?“

„Deutlich jünger als Gerndorf. Anfang vierzig. Ich hab mich damals schon gefragt, wie es dieser unscheinbare Typ jemals schaffen konnte, eine relativ gut aussehende und nach meinem Eindruck auch einigermaßen kultivierte Frau für sich zu interessieren.“ Er zuckte mit den Schultern. „Offenbar hat sie recht schnell gemerkt, dass mit Gerndorf was nicht stimmt.“

„Die Adresse dieser Dame wissen Sie nicht zufällig?“

„Nein, tut mir leid. Aber Sie können sich ja mal in der Nachbarschaft umhören.

Nebenan wohnt eine gehbehinderte alte Frau, die den ganzen Tag nichts anderes zu tun hat, als zu lauschen, wer wen auf dem Flur anschnauzt. Könnt ja sein, dass die noch irgendwelche Informationen für Sie hat. Andererseits können Sie mir glauben, dass ich schon Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hab, um endlich eine ladungsfähige Adresse von diesem Schmarotzer zu bekommen.“

„Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich hier in der Wohnung etwas umsehe? Und in den Sachen wühle, die schon im Lastwagen sind?“

„Sehen Sie nur zu, dass Sie die Packer nicht behindern, sodass mir hinterher nicht auch noch Mehrkosten entstehen!“

„Ich werde mir Mühe geben.“

„Gut.“

Berringer sah sich eingehend in der Wohnung um. Sie war schon ziemlich kahl und leer geräumt. Die Tapete löste sich an mehreren Stellen von der Wand. Ein paar Säcke mit Müll standen gegeneinander gelehnt da. Aber ob es sich wirklich um Müll handelte, sollte wohl der Entscheidung des Eigentümers überlassen bleiben, sodass das Zeug erst mal in einen teuer angemieteten Lagerraum wanderte. In einem der Säcke war vorwiegend Papier: Zeitschriften, Heftromane, Pornomagazine und ...

Berringer stutzte und langte tiefer in den Plastiksack.

„Ich würd aufpassen, bevor ich ohne Handschuhe da reingreife!“, rief Fernholz und musste sofort wieder keuchen.

Berringer zog einen Prospekt hervor, der für die Düsseldorfer BOOT warb.

„Sieh an“, sagte er. „Haben Sie gewusst, dass Gerndorf ein Segler war?“

„Der?“

Berringer kehrte zu Fernholz zurück und zeigte ihm den Prospekt. „Sehen Sie selbst.“

„Der Kerl hatte nie und nimmer ein Boot. Obwohl ... Wenn er die ganze Miete, die er mir schuldet, irgendwo gebunkert hat, könnt er’s sich vielleicht sogar leisten. Wer weiß, vielleicht schippert der Sauhund irgendwo an den Küsten der DomRep oder in der Adria rum, während so einer wie ich nicht weiß, wie er den Schaden hier bezahlen kann. Nee, bei dem würde mich gar nichts mehr wundern.“

„Vielleicht sehe ich ihn ja schon bald“, murmelte Berringer mehr zu sich selbst als an Fernholz gerichtet.

„Was meinen Sie?“

„Nichts.“

„Wenn Sie den Kerl finden ...“

„Sage ich Ihnen Bescheid.“

„Sie bekommen zehn Prozent von dem, was ich bei dem Kerl eintreiben kann, wenn Sie ihn auftreiben, Herr Berringer.“

„Nichts dagegen.“

Fernholz wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Freuen Sie sich nicht zu früh. Das wird wahrscheinlich gerade für ein Glas Altbier reichen.“

„Optimist!“

„Nein, gebranntes Kind.“

Berringer sah kurz die Sachen durch, die sich bereits auf der Ladefläche des Lastwagens befanden, entdeckte aber nichts, was ihn irgendwie weiterbringen konnte.

Anschließend klingelte er noch bei der Nachbarin, die Fernholz ihm als Informationsquelle empfohlen hatte. Sie wirkte erst sehr misstrauisch, aber nachdem Berringer den Namen des Vermieters erwähnte, ließ sie ihn ein und führte ihn in ihr ziemlich überladenes Wohnzimmer, dessen Einrichtung von klobigen Polstermöbeln geprägt war.

Krefelder Late Sixties Barock.

Bevor sie Berringer einen Platz anbot, hatte sie bereits zweimal darauf hingewiesen, dass sie bereits siebenundneunzig und eigentlich topfit sei, wenn sie nicht im letzten Jahr gestürzt wäre. „Seitdem benutze ich die Krücke, und das wird und wird einfach nicht mehr so, wie es mal war.“

„Herr Fernholz sagte, Sie wüssten über Ihren Nachbarn Bescheid – Matthias Gerndorf.“

„Ach, den. Haben Sie auch Ärger mit dem? In der letzten Zeit, als er noch hier lebte, da kam der Gerichtsvollzieher zwei Mal am Tag. Der Gerndorf hat einfach drauflos bestellt und dann wohl das Bezahlen vergessen. So was hat es früher nicht gegeben.

Da hat man gespart, bis man genug zusammen hatte, und sich dann erst gekauft, was man haben wollte. Als ich 1947, in der schweren Zeit, einen neuen Wintermantel brauchte, weil der alte vollkommen von Motten zerfressen war, da ...“ Berringer hörte nur mit halbem Ohr hin und bereute es schon, sich in einen der gepolsterten Ohrensessel gesetzt zu haben. Nun konnte er sich kaum so einfach wieder verdrücken. Höflich hörte er ihr eine Weile zu, während er zwischendurch verstohlen auf die Uhr sah und ein Gähnen unterdrückte.

Schließlich gelang es ihm, etwas einfließen zu lassen, die sich auf Gerndorf und seine Lebensgefährtin bezog. „Diese Birgit Meyer scheint doch ganz in Ordnung gewesen zu sein.“

„O ja. Die hat sogar den Flur gewischt, wenn dieser Gerndorf dran war. Der Gerndorf selbst hat sich ja nie an die Pläne gehalten.“

„Sie haben wirklich keinen Anhaltspunkt, wo Birgit Meyer geblieben sein könnte?“

„Nein. Nachdem Gerndorf ihr den Koffer raus auf die Straße geworfen hat, hab ich sie nicht mehr gesehen. Das war ein Drama, kann ich Ihnen sagen. Ich hab mich so erschrocken, als das Ding aus dem Fenster flog, dass ich beinahe einen Herzanfall gekriegt hätte. Ich hab nämlich so Rhythmusstörungen, müssen Sie wissen. Mein Arzt sagt, dass wir das beobachten müssen, aber ...“

„Dieser Gerndorf soll Jäger gewesen sein“, unterbrach Berringer sie.

„Jäger? Glaub ich nicht.“

„Und für Segelboote hat er sich auch interessiert.“

„Ein Boot? Nein, bestimmt nicht.“

„Ich habe in seiner Wohnung einen Prospekt von der BOOT gefunden. Das ist eine Wassersportmesse, die jedes Jahr hier in Düsseldorf stattfindet. Warum sollte er sich so einen Prospekt aufbewahren, wenn er sich gar nicht dafür interessiert?“

„Tja, wo Sie es jetzt so erwähnen ...“ Sie zögerte, und Berringer rang innerlich mit sich, ob er sie auffordern sollte, weiterzusprechen oder ob er dadurch vielleicht die Situation verdarb. Er entschied schließlich, dass es das Beste war, einfach den Mund zu halten und einen Augenblick lang abzuwarten, bis die alte Dame ihre Gedanken geordnet hatte. Damit hatte er ja aus gewissen Gründen auch ab und an seine Schwierigkeiten. Also sei nicht zu streng und ungeduldig mit ihr, sagte er sich.

„Sie fragen wie ein Polizist“, stellte sie fest und zwinkerte Berringer zu. „Ja, Sie scheinen immer alles ganz genau wissen zu wollen.“

„Tja, da haben wir wohl was gemeinsam“, erwiderte der Detektiv und lächelte dabei milde.

„Also Segelboote liegen ja meistens am Wasser, oder?“

„Ja, würde ich auch sagen.“

„An einem See zum Beispiel. Und da befinden sich häufig auch Campingplätze. Ich weiß, dass mir das Fräulein Meyer – die beiden lebten ja in wilder Ehe zusammen, so ganz modern, wie man das zu unserer Zeit noch nicht gemacht hat – also die Meyer hat mal auf dem Flur zu der Studentin von ganz oben, die inzwischen schon wieder ausgezogen ist, der gegenüber hat sie erwähnt, dass sie zu einem Campingplatz führen. Dort könnten sie den Wohnwagen ihrer Eltern benutzen, die einen festen Dauerplatz hätten. Aber das ist nun auch schon eine ganze Weile her ...“

„Wissen Sie noch, wo dieser Platz war? Wurde irgendein Ortsname erwähnt?“ Sie rieb sich mit ihren knorrigen Fingern die Schläfe und schüttelte schließlich mit einer bedauernden Miene den Kopf. „Nein, tut mir leid. Ich erinnere mich einfach nicht mehr.“

„Haben Sie sonst noch irgendetwas über ihn? Welchen Job er hatte oder ...“

„Der hatte keinen!“, unterbrach ihn die alte Dame sofort. „Allerdings soll er studiert haben und irgendwas Besonderes gewesen sein. Ich weiß auch nicht mehr so genau.

Aber viel getrunken hat er, das steht fest. Und dann wurde er laut.“

„Verstehe.“

„Und da fällt mir noch etwas ein, weil Sie doch vorhin ein Segelboot erwähnten.“

„Immer raus damit. Vielleicht kann mir das weiterhelfen.“

„Sie sollen ja schließlich Ihr Geld von diesem Betrüger kriegen, nur fürchte ich, dass Sie sich da in einer langen Schlange ganz hinten anstellen müssen.“

„Sie sagten etwas von einem Boot“, erinnerte Berringer sie eine Spur ungeduldiger, als er es eigentlich beabsichtigt hatte.

Sie nickte heftig. „Aber es war ein kleines Boot!“ Mit ihren Händen deutete sie eine Länge von gut achtzig Zentimetern an. „Aber mit Segel drauf. Ein Modell, so sagt man, glaube ich. Gerndorf hat es in die Wohnung getragen, als er einzog. Es ist mir gleich aufgefallen. Aber der Mast war gebrochen. Ich glaub nicht, dass das noch funktioniert hat.“

Er nickte ihr zu und stand auf. „Trotzdem danke für Ihre Mühe.“

„Ich hoffe, ich konnte Ihnen helfen.“

„Das denke ich schon. Aber jetzt muss ich dringend weiter.“

„Ja, so ist das, wenn man jung ist. Keine Ruhe, keine Geduld. Wenn Sie erst mal in mein Alter kommen, dann wissen Sie, dass Sie sowieso bald sterben und dass es deswegen keinen Sinn macht, sich vorher schon für irgendwas umzubringen!“ Berringer fuhr in die Altstadt und aß etwas in einer Snack Bar. Die Pommes waren sehr fettig, und vor allem war das Fett sehr alt, aber im Moment hatte Berringer keine Lust, größere Mühe auf die Suche nach einem besseren Lokal zu verwenden. Also aß er, was angeboten wurde, ließ aber die Hälfte stehen.

Er dachte nach. Zwischen Gerndorf und Severin gab es immerhin schon eine wenn auch sehr lose Verbindung. Beide waren zumindest zeitweise Anhänger der Modellsegelei gewesen, und vielleicht kam man auf diese Weise Gerndorf auf die Spur.

Möglicherweise kannten sich beide, schloss Berringer. Und wie sah dann die Verbindung zu den Geraths aus?

Kurz entschlossen zog Berringer das Handy hervor und wählte Geraths Nummer.

Fehlanzeige. Es meldete sich nur die Mailbox. „Herr Gerath, hier ist Berringer. Ich muss Sie dringend sprechen“, sagte er und hoffte, dass der Unternehmer die Mailbox in nächster Zeit auch abhören würde. „Es geht um einen Mann namens Matthias Gerndorf.“

Berringer unterbrach die Verbindung.

Als er das Handy in der Jackentasche verschwinden ließ, spürten seine Finger das Streichholzbriefchen, das die Gestalt zurückgelassen hatte, der er in der vergangenen Nacht begegnet war.

Kreuzherreneck.

Warum nicht mal in diesem Lokal einen Abend verbringen und sich gleichzeitig nach dem Typen mit der befleckten Kargohose erkundigen. Der Kerl hatte zwar nicht wie einer der Schläger ausgesehen, die Leute wie Ferdinand Commaneci zur Durchsetzung ihrer Interessen auszuschicken pflegten. Aber andererseits glaubte Berringer schon, dass das neugierige Herumlungern dieses jungen Mannes ihm oder dem Fall gegolten hatte.

Verdammt, glaubte er denn wirklich, dass sich alles immer nur um ihn dreht? Oder mit irgendeiner Sache, in deren Zentrum Robert Berringer stand, von manchen auch Berry genannt? Ziemlich abgedreht, so eine Haltung. Das nannte man wohl Zwangshandlung, wenn er die psychologischen Fachbücher richtig gelesen hatte, die in deinem Bücherschrank standen, seit er gemerkt hatte, dass es mit seiner Seele ein Problem gab. Und zwar eins, das sich weder von selbst noch durch guten Willen oder eine Pille so einfach lösen ließ. Alles wissen, alles kontrollieren, immer eine Erklärung finden wollen ...

Sieh es endlich ein, sagte eine nörgelnde Stimme in seinem Hinterkopf. Das Universum war chaotisch, die Welt ein Ort zunehmender Entropie, das sagte schon die Physik. Er sollte sich besser damit abfinden. In seiner Schiffswohnung herrschte doch auch das blanke Durcheinander, und er hatte allenfalls ein praktisches, aber kein existenzielles Problem damit ...

Als Berringer das „Kreuzherreneck“ betrat, war es längst dunkel. Das Auffälligste an dieser urigen, auf liebenswerte Weise antiquiert wirkenden Kneipe waren die von Künstlern gestalteten Fenster, von denen Vanessa ihm vorgeschwärmt hatte. Eine Band trat in dem sehr kleinen Raum auf und holte sich ihren Applaus ab, bevor das nächste Stück folgte.

Berringer ging zum Tresen.

„Alt?“, fragte der Wirt.

„Sehe ich so aus?“

„Du kommst nicht von hier, was?“, sprach ihn einer der Gäste an, ein Mann in zerschlissener Jeans und mit einem Haarschnitt, wie er zu Zeiten der Beatles sicher der letzte Schrei gewesen war. Nur war sein Pilzkopf inzwischen in Ehren ergraut. Er gehörte jenem Typ Mann an, der im Alter irgendwann zwischen Mitte fünfzig und Mitte sechzig optisch übergangslos von der Pubertät ins Rentenalter wechselte.

„Ich sage immer, der Jupp hat den Pilz auf dem Kopf, aber der würde sich nie ein Pils in den Kopf schütten“, sagte sein Tresennachbar, auf dessen verlängerter Stirn kaum noch irgendetwas wuchs. Allgemeines Gelächter folgte.

„Na, da bin ich ja scheinbar geradewegs in die rheinische Humorzentrale geraten“, meinte Berringer grinsend.

„Nun sag mal, was bist du denn für einer?“, fragte der Pilzkopf, und er schien leicht missmutig zu werden, weil er Berringers Witz nicht als solchen erkannte.

„Bestimmt ein Kölscher!“, glaubte sein Tresennachbar.

„Nee, eher so 'ne Spaßbremse aus dem sturen Münsterland“, vermutete der Pilzkopf.

„Das könnte sein“, murmelte der andere und musterte Berringer eingehend.

„Ihr habt mich entlarvt“, sagte Berringer.

Der Pilzkopf stieß seinen Tresennachbarn gegen die Schulter. „Siehste, hab ich’s doch gesagt!“, triumphierte er und wandte sich wieder an Berringer: „Und was zieht dich in diesen Tempel des Frohsinns und der Lebensart?“

„Ich suche jemanden.“

„So?“

„Er ist schon mal hier gewesen. Ein Typ mit gelockten schwarzen Haaren, einer dicken Steppjacke und Kargohose, die ihm auf dem Hintern hängt, Platz für zwei von seiner Sorte hat und von Farbflecken übersät ist.“

„Ist das nicht dieser Künstler?“, fragte der Pilzkopf den Wirt. „Du weißt doch, der Lockenkopf.“

Der Wirt schnippte mit den Fingern. „Die Beschreibung passt auf Till Gerath.“

„Gerath?“, echote Berringer, während der Wirt den Arm ausstreckte und auf eines der Fenster deutete.

„Das da ist von ihm.“

„Oh, beachtlich“, meinte Berringer.

„Beachtlich sind die anderen“, brummte der Wirt. „Das da ist von einem Stümper, wenn Sie mich fragen.“

„Ich finde es großartig.“

Der Wirt zuckte mit den Schultern. „Geschmackssache.“

„Können Sie mir Adresse dieses großartigen Künstlers geben? Ich möchte mir vielleicht so ein Fenster machen lassen.“

Der Wirt glotzte ihn an. „Das ist nicht Ihr Ernst!“

„Haben Sie nun die Adresse oder nicht?“

„Ich schreib Sie Ihnen auf 'nen Bierdeckel.“

„Danke.“

Zwei Empfindungen beherrschten Berringer, als er wenig später in die nasskalte Nacht hinaustrat. Einerseits war er froh darüber, dass sein Instinkt offenbar noch funktionierte. Mit der nächtlichen Gestalt am Hafenbecken hatte es doch mehr auf sich. Der Zusammenhang mit dem Fall, den seine Detektei bearbeitete, war mehr als offensichtlich.

Abgesehen davon aber empfand er Verwirrung. Was hatte der Sohn des großen Textilbarons von ihm gewollt? Es stand für Berringer fest, dass Till Gerath seinetwegen in den Hafen gekommen war. Es fragte sich nur, warum er quasi geflüchtet war. Hatte den großen Künstler der Mut verlassen? Oder war ihm bewusst geworden, dass er sich vielleicht ein bisschen zu viel davon angetrunken hatte, um noch eine vernünftige Unterhaltung führen zu können?

Vielleicht werde ich ihn einfach mal fragen, dachte Berringer. Zumal seine Wohnung quasi auf dem Weg zu ihm nach Hause lag.

Das Düsseldorfer Hafenviertel wandelte sich in den letzten Jahren immer mehr zu einem Revier für Medienleute und Künstler. Restaurants der gehobenen Klasse waren ebenso wie Pilze aus dem Boden geschossen wie die Produktionsstudios für Film und Fernsehen an der Kaistraße. Dazwischen gab es Werbeagenturen und Galerien.

Till Gerath bewohnte eine loftartige Wohnung, die wohl gleichzeitig auch als Atelier diente. Berringer fragte sich, wie sich ein relativ unbekannter Künstler das leisten konnte. Offenbar war Till Gerath in der glücklichen Lage, einen Mäzen zu haben.

Berringer musste mehrfach klingeln, bevor jemand reagierte und sich die Tür öffnete.

Volltreffer, dachte der Detektiv, als er den Lockenkopf vor sich sah, dem er in der vergangenen Nacht begegnet war. Der Mann hatte eine Kognakflasche in der Linken und erstarrte zur Salzsäule, als er Berringer erkannte. Von einem Augenblick zum nächsten schien Till Gerath so nüchtern wie ein reformierter Prediger.

„Guten Abend“, sagte Berringer ruhig. „Wir kennen uns flüchtig.“

„W-was wollen Sie?“

„Dasselbe könnte ich Sie fragen. Oder wollen Sie mir jetzt erzählen, dass Sie zur zufällig genau dort waren, wo ich mein Hausboot vertäut habe?“ Till Gerath wirkte nervös. „Wollen Sie hereinkommen?“

„Gern.“

Berringer folgte dem jungen Mann in die Wohnung, die bei Tag wegen der großen Fensterflächen vermutlich lichtdurchflutet war.

Berringer ließ den Blick über das selbst für ihn erschreckende Maß des Chaos schweifen, das sich ihm darbot. Dagegen wirkte ja sogar sein Schiffchen wie die Wohnung eines Zwangskranken, der seine Büroklammern abzählte und die Bleistifte nach Länge sortierte.

Das Atelier und die Wohnung waren eins. Ein halb fertiges Gemälde ruhte auf einer Staffelei. Es fiel Berringer auf, dass überall nur rote Farbe verwendet wurde. Mehrere volle Eimer standen im Raum. Man musste aufpassen, nicht in einen der Kleckse auf dem Fußboden zu treten.

Eine junge Frau saß an einem niedrigen Wohnzimmertisch aus Glas. Sie trug nur ein Hemd, das nicht zugeknöpft war. Sie schien Berringer gar nicht zu bemerken, war voll und ganz darauf konzentriert, ein kleines Häufchen Kokain in ihre rote entzündete Nase zu saugen. Aber sie war schon zu weggetreten dafür. Vielleicht hatte sie vorher auch noch getrunken. Jedenfalls war sie nicht in der Lage, die Hand mit dem abgeschnittenen Strohhalm ruhig zu halten. Außerdem fing sie im entscheidenden Moment immer an zu kichern. Den Großteil des Kokainhäufchens blies sie sich dann in einer ziemlich unbedachten Aktion selbst weg.

Sie fluchte, kehrte den kärglichen Rest des Kokains mit einem kleinen Stück Karton zusammen und versuchte es noch mal. Als sie es endlich geschafft hatte, stieß sie ein wohliges Brummen aus, stand taumelnd auf und kicherte wieder.

Plötzlich erstarrte sie.

Ihre Augen wurden so groß, dass sie aus den Höhlen zu fallen drohten. Sie starrte Berringer an wie ein Gespenst und schrie. Ein Schrei, so schrill und durchdringend, wie man ihn aus den Edgar-Wallace-Verfilmungen der Sechziger kannte. Ein Fanal des ultimativen Schreckens, aber so überdreht, dass man die zur Schau gestellte Furcht nicht glauben konnte und eher für Hysterie hielt. Sie raffte vorn ihr Hemd zusammen und lief über die Wendeltreppe hinauf ins Obergeschoss.

„Sie ist ein bisschen schreckhaft, sonst aber ganz in Ordnung“, meinte Till Gerath.

Berringer grinste. „Ihr Modell?“

„Nein.“

„Malen Sie keine Frauen?“

„Doch. Aber ich hätte nicht genug Kokain, um sie dazu zu bringen, lange genug still zu sitzen.“

Er räumte ein paar Zeitungen von einem Ledersessel und setzte sich. Daran, seinem Gast einen Platz anzubieten, dachte er nicht. Berringer trat in eine Farblache. Sie war noch feucht. War ein Fehler, herzukommen, dachte er.

„Wer finanziert Ihnen das alles, Herr Gerath?“

„Wie spießig das klingt.“

„Und wenn schon! Warum beantworten Sie nicht einfach die Frage?“

„Es gibt noch wahres Mäzenatentum.“

„Ihre Mutter?“

„Richtig geraten. Sie versteht nicht, was ich hier tue. Das ist nicht verwunderlich, schließlich verstehe ich es selbst kaum. Aber sie findet es gut und erkennt meinen Weg an. Ganz im Gegensatz zu meinem Vater, der ...“ Till Gerath verstummte und nahm einen Schluck Kognak aus der Flasche, rülpste ungeniert und musterte Berringer von oben bis unten. „Schon komisch, dass Sie jetzt hier sind.“

„Wieso?“

„Nur so.“

„Sie haben mir immer noch nicht gesagt, was Sie im Hafen bei meinem Hausboot wollten.“

„Nichts Besonderes. Ich wollte einfach nur mal sehen, was das für ein Typ ist, den mein Vater da angeheuert hat. Hat mich eben interessiert.“

„Hat Ihre Mutter Ihnen von mir erzählt?“

„Ist das so wichtig?“

„Sie scheinen einen intensiven Kontakt zu ihr zu pflegen.“ Er lachte auf. „Sie ist meine Mutter.“

„Ich brauche ihre neue Adresse.“

„Sie hat sich im Haus Oberkassel einquartiert. Kennen Sie das? Eine zum Hotel umfunktionierte Jugendstilvilla, drüben auf der anderen Rheinseite. Da will sie erst mal bleiben, bis sich die Verhältnisse zu Hause geklärt haben. So oder so ...“

„Was meinen Sie damit?“

„Na ja, ist es ausgeschlossen, dass der Bekloppte, der die Pferde abgemurkst hat, vielleicht nicht doch noch mal richtig trifft?“

„Sie würden das nicht wirklich bedauern, oder?“

„Soll ich jetzt heucheln, wie sehr ich meinen Vater liebe? Er erkennt einfach nicht an, was ich tue. Wer nicht ganz so gestrickt ist wie er, der zählt nicht. Ist doch kein Zufall, dass seine Kinder der Reihe nach aus dem Haus geflüchtet sind, sobald es möglich war.“

„Ich kann mir vorstellen, dass es für Ihren Vater ganz schön deprimierend ist, dass keiner sein Lebenswerk fortsetzen will.“

Er lachte erneut. Heiser, rau und freudlos. Dann nahm er wieder einen Schluck aus der Flasche, bevor er gehässig hervorstieß: „Kein Mensch ist an dieser Scheißfirma interessiert. Wenn Papa abnippelt, wird die sofort verkauft, und alle Erben bekommen einen schönen Batzen Geld.“

Berringer trat an einen Tisch, auf dem eine Reihe abstrakter Skizzen lagen.

Kritzeleien in Rot, bei denen zwar keine Form erkennbar war, die aber dafür mit Titel versehen waren:

„Vatermord“ hieß eines.

„Pferdetod“ ein anderes.

Berringer betrachtete die Skizzen aufmerksam. Ein wirres Durcheinander aus Strichen und Schraffierungen mit Rötelstift. Vielleicht verstand er einfach nur nicht genug davon, dachte er. „Sie verarbeiten in Ihren Werken offenbar aktuelle Geschehnisse in Ihrer Familie“, stellte er fest, nachdem einige Augenblicke lang Schweigen geherrscht hatte.

„Ich höre schon, wie es in Ihrem Kopf zu rattern beginnt“, sagte Till Gerath. „Sie fragen sich jetzt, ob ich vielleicht auch ein Gewehr besitze. Bitte, sehen Sie sich um.

Mich amüsiert das. Wussten Sie, dass ich im letzten Herbst eine Kunstaktion durchgeführt habe, bei der ich vor Publikum das Blut eines Kanarienvogels auf eine Leinwand gespritzt habe und wegen Tierquälerei angezeigt wurde? Das passt doch, oder? Wer grob zu Kanarienvögeln ist, der bringt doch auch Pferde um, oder?“

„Oder Menschen“, sagte Berringer. Er hatte auf einer Couch, die mit Kleidungsstücken übersät war, die Jacke eines Kampfanzugs entdeckt, wie man sie bei Karate und anderen asiatischen Kampfsportarten trug. „Trainieren Sie?“

„Aikido - bis vor zwei Jahren.“

„Wie Ihre Mutter.“

„Ich habe sie darauf gebracht. Man sollte sich schließlich wehren können.“

„Sie wissen, wer Frank Severin ist?“

„Natürlich. Seit der Kindheit. Er war oft bei uns zu Hause und war einer der wenigen Menschen, vor denen mein Vater Respekt hatte. Ein unangenehmer Typ.“

„Ihre Mutter dachte anders.“

„Ich hab sie oft genug vor dem Arsch gewarnt. Bei dem kam einem ja schon der Brechreiz, wenn man ihm nur ins Gesicht sah. Falsche Zähne, falsches Lächeln, und wahrscheinlich waren noch ein paar andere Dinge falsch an ihm. Na ja, das hat sich ja nun auch geregelt.“

„Durch den Schlag eines Kampfsportlers, wie die Gerichtsmedizin vermutet.“ Er zuckte die Achseln. „Manchmal muss man den Dingen nur ihren Lauf lassen und abwarten, dann siegt am Ende das Gute.“

Berringer musterte ihn scharf. „So sehen Sie das?“

„Meine Mutter wird auch noch einsehen, dass es so das Beste ist. Aber nicht, dass Ihre kranke Fantasie jetzt wieder Kapriolen schlägt, Herr Berringer: Ich mochte den Typ nicht, aber ich hätte mich nicht an ihm vergriffen. Ein Stück Scheiße würde ich nur für eine Kunstaktion anfassen, aber nicht im Privatleben.“

„Passen Sie auf, dass Sie vor lauter Coolness nicht erfrieren!“

„Keine Sorge.“

„Auf Wiedersehen.“ Berringer wandte sich zum Gehen.

„Hey Mann, ich behalte Sie im Auge und Sie mich, richtig?“, feixte er Berringer hinterher, der sich bei der Tür noch mal umdrehte.

„Richtig.“

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